Mit dem vom Bundesministerium für Gesundheit am 19.5.2016 vorgelegten Referentenentwurf
für ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische
und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) wird eine grundlegende Richtungsänderung
der zukünftigen Finanzierung von psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen
auf den Weg gebracht. Wie im Eckpunktepapier am 18.2.2016 bereits angekündigt hat
das BMG damit die Kritik der Fachverbände, die im Rahmen eines strukturierten Dialoges
im BMG aufgearbeitet wurden, aufgenommen und ein neues Entgeltsystem entworfen. Der
Referentenentwurf stoppt die seit 1.1.2013 in der Bundespflegesatzverordnung vorgesehene
Einführung eines Preissystems (PEPP) nach DRG-Logik, das nach gültigem Gesetz ab 1.1.2017
für alle psychiatrischen Krankenhäuser verbindlich geworden wäre.
Weiterentwicklung der Versorgung
Weiterentwicklung der Versorgung
Der Gesetzesentwurf beschäftigt sich nicht nur in der Gesetzesüberschrift mit der
Weiterentwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems. Das vorgeschlagene Gesetz
ist kein Kostendämpfungsgesetz und beschäftigt sich nicht ausschließlich mit der Finanzierung
psychiatrischer und psychosomatischer Leistungen, sondern versucht ernsthaft an den
Strukturen der sektorisierten Versorgung in Deutschland zu rütteln. Dazu wird der
§ 39 SGB V „Krankenhausbehandlung“, der bisher die Möglichkeiten von Krankenhäusern
einschränkte, außerhalb ihres stationären Versorgungsauftrags sektorübergreifend zu
agieren, ergänzt durch eine „stationsäquivalente“ Behandlungsmöglichkeit. „Mobile
ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams“ dürfen zukünftig außerhalb
des Krankenhauses tätig werden und Patienten im direkten häuslichen Lebensumfeld behandeln.
Das psychiatrische Krankenhaus darf zukünftig Leistungen erbringen, die bisher formal
dem niedergelassenen Bereich vorbehalten waren. Die notwendige Dreiseitigkeit der
Vereinbarungen (Krankenkassen, Krankenhausgesellschaft und Kassenärztliche Vereinigungen)
wird dann im § 115 d, der die Modalitäten einer derartigen mobil aufsuchenden Behandlung
regelt, so formuliert, dass eine zu erwartende Blockadehaltung der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung von vornherein verhindert wird. Bei Nichteinigung wird die Ausgestaltung
einer Schiedsstelle übertragen.
Diese scheinbar kleinen Veränderungen durchbrechen das starre deutsche, sektorisierte
Gesundheitssystem (ähnlich wie die Einführung des ambulanten Operierens) und sind
ein mutiger Schritt in Richtung sektorübergreifender Behandlung in der psychiatrischen
Versorgung.
Es bleiben sicherlich bei der Ausgestaltung des sektorübergreifenden Ansatzes noch
viele Wünsche offen. Im mit Lobbyisten besetzten Minenfeld zwischen Krankenkassen,
Krankenhausgesellschaft und Kassenärztlicher Bundesvereinigung schafft das BMG aber
Spielräume, die für echte Fortschritte in der psychiatrischen und psychosomatischen
Versorgung sorgen können.
Krankenhausindividuelle Budgets
Krankenhausindividuelle Budgets
Der neue Gesetzesentwurf stellt krankenhausindividuelle Budgets in den Mittelpunkt.
Das bedeutet eine deutliche Abkehr vom bisherigen DRG/PEPP-System und von der bisherigen
Linie der Gesundheitspolitik. Die Grundidee, durch zentrale Steuerung und immer mehr
Daten die Versorgung der Patienten vor Ort zu verbessern, wird zumindest für die Psychiatrie
infrage gestellt. Krankenhausindividuelle Budgets werden von den regionalen Verhandlungspartnern
unter Berücksichtigung struktureller regionaler Besonderheiten festgelegt. Die Pluralität
in der Versorgungslandschaft wird akzeptiert.
Die krankenhausindividuellen Budgets sind zunächst nicht gedeckelt! Vergleichswerte
aus dem Krankenhausvergleich können regional überschritten werden, wenn die Gründe
für die Überschreitung vom Krankenhaus schlüssig dargelegt werden.
Diese Formulierungen bieten viel Spielraum und damit natürlich auch ein großes Konfliktpotenzial
für die Verhandlungen vor Ort. Dabei kommt dem vorgesehenen leistungsbezogenen Krankenhausvergleich
eine entscheidende Rolle zu. Sind die Vergleichswerte „Grundlage“ oder „Orientierung“
für die regionalen Budgets? Sind Überschreitungen „unabweisbar“ oder nur „notwendig“?
Die Vorgaben werden mit Sicherheit von den Kostenträgern anders interpretiert werden
wie von den Leistungserbringern. Dieses Konfliktpotenzial bietet aber nicht nur Risiken
für die Weiterentwicklung der Versorgung, sondern eben auch Chancen: Alles wird möglich.
Es liegt nun an den Fachgesellschaften und Leistungserbringern die Themen „strukturelle
Besonderheiten“ und „Unabweisbarkeit von Budgetüberschreitungen“ entsprechend auszuformulieren.
Verbindliche Mindestvorgaben für Personal
Verbindliche Mindestvorgaben für Personal
Der spannendste Teil der Budgetfindung dürfte das Thema „personelle Ausstattung“ sein.
Als Nachfolgeregelung für die Personalverordnung Psychiatrie soll der Gemeinsame Bundesausschuss
(GBA) verbindliche Mindeststandards für die Personalausstattung von psychiatrischen
Einrichtungen festlegen. Diese Mindeststandards sind ab 2020 bei der Budgetfindung
verbindlich zu berücksichtigen. Damit wird das normative Element der Personalverordnung
Psychiatrie (Psych-PV) über verbindliche Qualitätsvorgaben quasi durch die Hintertür
wieder eingeführt. Empirische IST-Personalbesetzungen bestehender Krankenhäuser sind
somit nicht Basis des Budgets, sondern über Mindeststandards normativ vorgegebene
Soll-Werte für eine Personalausstattung, die zu einer leitliniengerechten Behandlung
beitragen soll. Diese Regelung verdeutlicht die prinzipielle Abkehr des Referentenentwurfs
von der bisherigen Linie der „Durchschnittspreisbildung“ mit der impliziten Spirale
nach unten und den Willen, Möglichkeiten zu eröffnen, die bestehende psychiatrische
Versorgung weiterzuentwickeln und zu verbessern.
Selbstverständlich lässt die Regelung viele Fragen offen. Was sind verbindliche Mindeststandards?
Werden Durchschnittspersonalkosten finanziert oder reale IST-Kosten vor Ort? Werden
Tarifveränderungen adäquat berücksichtigt? Werden regionale „Rekrutierungsaufschläge“
auf die Tarifvergütung berücksichtigt? usw. Auch hier gilt, dass der Referentenentwurf
Spielräume in der Budgetfindung eröffnet, die in den Verhandlungen vor Ort Chancen
aber auch Risiken bergen.
Als Zugeständnis an die Kassenseite bleibt es beim PEPP-System als Abrechnungseinheit.
Es werden Relativgewichte kalkuliert. Es werden Landes- und Bundesbasisentgeltwerte
kalkuliert, die Einfluss auf die Budgetfindung nehmen werden. Ihnen fehlt jedoch die
aus dem DRG und alten PEPP-System bekannte Verbindlichkeit für die Budgetfindung.
Die Verantwortung der Verhandlungspartner vor Ort wird im Vergleich zu diesen Systemen
erheblich gestärkt. Es wird darauf ankommen, dass die Krankenhäuser in diesen Verhandlungen
ihre Spielräume nutzen und die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des psychiatrischen
Versorgungssystems, die ihnen der Gesetzgeber jetzt eröffnet auch ergreifen.
Der vorliegende Referentenentwurf ist ein mutiger Schritt in die richtige Richtung.
Er bietet viel Interpretationsspielraum und damit auch Möglichkeiten positive Entwicklungen
anzustoßen.