Z Sex Forsch 2016; 29(03): 270-284
DOI: 10.1055/s-0042-114413
Dokumentation
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dem Ungesagten eine Gestalt verleihen[1]

Repräsentationen des Weiblichen in den Kulturproduktionen der Postmoderne
Christa Rohde-Dachser
a   Institut für Psychoanalyse der DPG, Frankfurt/M.
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Publication Date:
26 September 2016 (online)

In einer postmodernen Gesellschaft, in der es keine absoluten Wahrheiten mehr gibt, kann sich auch das, was wir herkömmlich als „männlich“ oder „weiblich“ verstehen, auf keine vorgegebene Ordnung mehr berufen. Folgt man den Argumentationen Judith Butlers (1990), dann ist jede geschlechtliche Zuschreibung immer schon kulturell bestimmt und kann von daher auch nicht aus Körpermerkmalen oder geschlechtsspezifischen Charaktereigenschaften abgelesen werden. Geschlechterzugehörigkeit zeigt sich vielmehr allein im Verhalten; d. h. sie wird performativ im Sinne eines doing gender vollzogen (Gildemeister 2004) und ist von daher, wie alle Verhaltensweisen, grundsätzlich auch veränderbar. Wie veränderbar, zeigt schon ein Blick auf den tiefgreifenden Wandel, den unsere Geschlechterordnung in den letzten 50 Jahren erfahren hat. Anstelle einer klar definierten Geschlechterdichotomie, deren Überschreitung in der Regel gesellschaftliche Sanktionen nach sich zog, treffen wir heute auf eine Vielzahl sexueller Orientierungen, die gleichermaßen sozial legitimiert sind. Ebenso überholt sind auch die herkömmlichen Geschlechtsrollenerwartungen, in denen Männern und Frauen jeweils unterschiedliche Lebensbereiche zugewiesen wurden, mit denen sie sich identifizieren und in denen sie sich bewähren konnten. Heute steht beiden Geschlechtern eine Vielzahl von Lebensentwürfen offen, die sich nicht mehr grundsätzlich voneinander unterscheiden, und wer sich aufgrund seines Geschlechts gehindert fühlen sollte, diese auch zu nutzen, kann dieses Recht mittlerweile sogar juristisch einklagen. In den unterschiedlichen Identifikationen und Verhaltensweisen, die den Individuen dabei abgefordert werden, ist Gender-Verhalten nur mehr eines unter vielen.

Die feministische Bewegung, die bis noch vor wenigen Jahrzehnten um die Aufweichung verkrusteter patriarchalischer Strukturen kämpfte, wirkt angesichts dieser Entwicklung heute schlichtweg überholt. Damals waren feministische Theoretikerinnen noch auf der Suche nach einem Ort, wo frau ihre eigene, noch nicht vom Mann her definierte Identität entwickeln konnte, und dies in einer Sprache, die ganz die ihre war. Namen wie Luce Irigaray (1974), Hélène Cixous (2013) oder auch Julia Kristeva (1974, 1979) sind zumindest den Älteren unter uns noch lebhaft in Erinnerung. Das alles ist noch nicht einmal 50 Jahre her und erweckt doch schon den Eindruck einer längst vergangenen Epoche (vgl. dazu auch Benhabib et al. 1993; Schmuckli 1996).

Paradigmatisch dafür steht das 2014 erschienene Buch von Theresa Bäuerlein und Friederike Knüpling (2014), zwei Autorinnen, die – jung, mit hervorragender Bildung und von dem Bewusstsein geprägt, dass Jungs und Mädchen grundsätzlich gleich schlau sind und von daher im Leben auch die gleichen Chancen haben – mit dem Feminismus abrechnen. Für sie ist er eine ideologisch verhärtete „Tussikratie“, die auf Kosten der Männer eine Welt vorspiegelt, in der Männer grundsätzlich die Täter und Frauen grundsätzlich die Opfer sind, mit der sie nichts zu schaffen haben wollen. Im Feminismus, schreibt auch Melanie Wigger in der Zeitschrift „cultura“ der Universität Paderborn vom 7.12.2011, steht offensichtlich ein Wechsel der Generationen an, und der Titel ihres Aufsatzes bezeichnet auch schon die Richtung, in die diese Entwicklung geht: der Titel heißt „Emma war gestern, jetzt kommen die Feuchtgebiete!“.[2] Gemeint ist damit eine neue Frauengeneration, die in der modernen, durch Leistung und Erfolgsstreben geprägten Gesellschaft selbstbewusst „ihren Mann steht“ und sich mit dieser Position auch voll und ganz identifiziert. Die feministische, vor allem auf Geschlechtergleichheit beruhende Solidarität unter Frauen hat vor diesem Hintergrund ihre Funktion verloren. Aus „der Frau“ sind „Frauen“ geworden, die als eigenständige Subjekte ihren Weg gehen und dabei auch Konkurrenz, Neid und Machtstreben ganz offen unter sich austragen.[3] Verbunden damit ist eine Vorstellung fiktiver Geschlechtergleichheit, vor der die Zuschreibung weiblicher Eigenschaften vor allem als Ausgrenzung erfahren wird und häufig auch so gemeint ist.[4] Wie stark diese Tendenz bereits voran geschritten ist, lässt sich exemplarisch am Vorschlag einer Professorin an der FU Berlin ablesen, nach dem anstelle der Bezeichnung „Professorin“ oder „Professor“, für deren sprachliche Unterscheidung Frauen vor noch nicht allzu langer Zeit vehement gekämpft haben, die geschlechtslose Bezeichnung „Profess-x“ stehen sollte, damit auch jene Individuen, „die sich weder als Frau noch als Mann fühlen“, sich darin wiederfinden können (vgl. Harmsen 2015: 1). Damit ist die Geschlechtsidentität endgültig kontingent geworden; alles ist möglich.

Aber auch wenn sich unsere Einstellungen zu Geschlecht und Gender auf vielen Gebieten radikal verschoben haben: Ein geschlechtsfreies Denken gibt es nicht, nicht außerhalb und schon gar nicht innerhalb der Psychoanalyse. Toronto und ihre Mitherausgeberinnen haben dies mit ihrem Buch „Psychoanalytic Reflections on a Genderfree Case. Into the Void“ gerade wieder eindrucksvoll bewiesen (Toronto et al. 2005). Die Autorinnen hatten darin als erstes einen psychoanalytischen Fall beschrieben, bei dem das Geschlecht des Patienten offen blieb, und anschließend eine Reihe psychoanalytischer Kolleginnen gebeten, diesen Fall zu interpretieren. Dabei zeigte sich sehr schnell, wie unterschiedlich die Interpretationen ausfielen, je nachdem, ob diese Psychoanalytikerinnen den Patienten als weiblich oder als männlich einstuften. Ohne diese Vorannahme führten die Interpretationen ins Leere, ins Nichts.

Das bedeutet aber auch, dass unter der Decke fiktiver Geschlechtergleichheit jene kulturellen Vorstellungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ weiter existieren, die wie eh und je den kindlichen Fantasien nachgebildet sind, mit denen wir alle lange vor unserer sprachlichen Entwicklung den Unterschied zwischen Mann und Frau zu begreifen suchten und in unser implizites Gedächtnis eingegraben haben, und die von dort aus unser Denken und Handeln trotz aller vordergründigen Emanzipation unbewusst weiter bestimmen. Auf dieser Ebene ist auch die Unterscheidung in ein starkes (männliches) und ein schwaches (weibliches) Geschlecht verankert, und mit ihr auch die Werthierarchie, die unsere Gesellschaft bis heute nachhaltig prägt. Die dort ganz oben stehenden Ideale von Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung und Erfolgsorientierung sind männlich konnotiert, während wir alles, was als emotionsbestimmt, passiv, schwach oder ängstlich erfahren wird, intuitiv mit Weiblichkeit verbinden. Der Unterschied zur patriarchalischen Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts liegt lediglich darin, dass die männlich konnotierten Wertvorstellungen mittlerweile von beiden Geschlechtern, Männern ebenso wie Frauen, internalisiert worden sind und beide ihr Leben danach auszurichten suchen. Sie sind auf diese Weise praktisch universal geworden. Unter diesen Bedingungen zu bestimmen, was „Weiblichkeit“ bedeutet, ohne dabei sofort wieder auf die genannte Rangordnung zurück zu fallen, wird zwangsläufig ein Weg ins Ungewisse sein. Denn ohne festgelegte kulturelle Definition bleibt der Begriff kulturell unterbestimmt (Reckwitz 2000/2006) und steht damit einer Vielzahl von Sinndeutungen offen, die um die Interpretation der gleichen Handlungssituation konkurrieren können. Eine solche Mehrdeutigkeit ist der symbolischen Ordnung in der Postmoderne offenbar inhärent (ebd.: 623). Dabei ist es vor allem der ästhetische Bereich der Kultur, der in seinen Produktionen immer wieder neue Sinndeutungen kreiert. Dies gilt auch für die Sinndeutungen von „Weiblichkeit“. Und seit Frauen im Zuge der Angleichung der Geschlechterrollen zumindest nominell auch das Recht auf kulturelle Autorenschaft zugesprochen wird, das ihnen bis dahin systematisch verweigert wurde, wirken auch sie dabei auf vielfältige Weise mit. Die zahlreichen literarischen und künstlerischen Selbstdarstellungen von Frauen in den vergangenen hundert Jahren liefern dazu recht eindrucksvolle Beispiele (siehe dazu auch Knafo 2010, 2012). Wie weit sie dabei auch Einfluss auf die symbolische Kulturordnung nehmen können, hängt von der Intensität der Resonanz ab, die das künstlerische Werk in der Öffentlichkeit erfährt, und von den Sinngehalten, die die Rezipienten ihm zuschreiben (Reckwitz 2000/2006: 684). Wie dies geschieht, bleibt dabei zunächst unbestimmt und muss von Fall zu Fall immer wieder neu interpretiert werden. Um diesen Prozess in allen Dimensionen zu erfassen, werde ich im Folgenden sowohl kulturwissenschaftliche als auch psychoanalytische Überlegungen heranziehen.

Ausgewählt habe ich dazu vier künstlerische Produktionen von Frauen, die in der Öffentlichkeit in den letzten 20 Jahren eine besonders starke, wenn auch nicht immer konfliktfreie Resonanz erfahren haben, nämlich

  1. die Romantrilogie „Shades of Grey“ von E. L. James (2011/2012);

  2. den Roman „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche (2008);

  3. die Skulptur „Maman“ von Louise Bourgeois (1999); und

  4. die Performance „The Artist is Present“ von Marina Abramović (2010).

Meine These ist, dass dabei unbemerkt auch unterschiedliche Definitionen von „Weiblichkeit“ mit transportiert werden, die neben vielem anderen auch Lösungsvorschläge für die elementaren Lebensfragen anbieten, für die die Postmoderne sonst keine ausreichende Antwort bereithält, und Frauen sich nach Bedarf damit identifizieren können und sich auf diese Weise auch selbst immer wieder neu definieren.

1 Dieser Beitrag ist eine leicht veränderte und erweiterte Fassung eines Vortrags, der beim COWAP (Committee for Women and Psychoanalysis) auf dem Frühjahrskongress der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung in Freiburg am 31.05.2014 gehalten wurde.