Das Leben findet analog statt, keine Frage. Menschen sind soziale Wesen und entwickeln
sich in sozialen Bezügen. So arbeiten psychotherapeutisch Tätige auch auf 2 Ebenen,
zum einen mittels der therapeutischen Beziehung, die während der Behandlung entsteht,
zum anderen mittels Reflektionstechniken und praktischer Übungen. Was vermögen computerbasierte
Selbstmanagement- oder Therapieprogramme hier auszurichten? Passt das überhaupt zusammen?
Mit dem Begriff „computerbasierte Interventionen“ sind sowohl Fernbehandlungsansätze
über audiovisuelle Medien oder E-Mail gemeint als auch Selbstmanagementprogramme mit
und ohne therapeutische Unterstützung. Gibt es therapeutische Unterstützung im Hintergrund,
könnte man eine wie auch immer geartete therapeutische Beziehung in Erwägung ziehen.
Aber wie sieht es mit den computerbasierten Programmen aus, die ohne therapeutische
Unterstützung auskommen? Der folgende Beitrag nimmt gerade diese Programme in den
Blick und bezieht sich beispielhaft auf das von der Australian National University
entwickelte MoodGYM-Programm (www.moodgym-deutschland.de).
Können Selbstmanagementprogramme der Individualität des Menschen gerecht werden?
Können Selbstmanagementprogramme der Individualität des Menschen gerecht werden?
In der Tat vermitteln die meisten Selbstmanagementprogramme zunächst allgemeine psychoedukative
Informationen und Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie. Auf dieser Basis werden
die Nutzer aber dazu angeleitet, in ihrem Alltag beispielsweise den Zusammenhang zwischen
Denken, Fühlen und Handeln zu beobachten, positive Aktivitäten zu planen und festzustellen,
wie sich deren Umsetzung auf die eigene Stimmung auswirkt. Die Nutzer werden so in
die Lage versetzt, aus allgemeinen Informationen Schlussfolgerungen für ihre individuelle
Situation zu ziehen und diese konkret zu verbessern. Sie erwerben also nicht nur theoretisches
Wissen, sondern werden durch die Programme ermutigt, ihre sozialen Kontakte zu intensivieren,
frühere Hobbys wieder aufzunehmen und diese und weitere positive Aktivitäten Schritt
für Schritt umzusetzen.
Wenn diese Programme nicht zur Prävention, sondern zur Therapieunterstützung eingesetzt
werden, sollten sie von einem Therapeuten empfohlen werden. Nur so ist gewährleistet,
dass der Patient eine adäquate Diagnostik und Therapie erhält. Zudem kann der Patient
so durch den Therapeuten zur Programmnutzung motiviert werden und kann mit ihm die
erzielten Fortschritte besprechen. Selbstmanagementprogramme schließen eine individuelle
Behandlung also nicht aus, sondern ergänzen diese sinnvoll.
Selbstmanagementprogramme sind wirksam
Selbstmanagementprogramme sind wirksam
Zahlreiche Metaanalysen zeigen die Wirksamkeit von Selbstmanagementprogrammen in der
Behandlung von Substanzgebrauchsstörungen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen
und Essstörungen [1]. Auch bei subklinischen und manifesten Depressionen ist die Wirksamkeit von Selbstmanagementprogrammen
gut belegt (u. a. [2]
[3]
[4]
[5]). Das britische National Institute for Health and Care Excellence empfiehlt diese
Selbstmanagementprogramme deshalb als psychosoziale Interventionen niedriger Intensität
im Rahmen eines gestuften Behandlungsprogrammes bei Depression [6].
Wir haben die Wirksamkeit der deutschen MoodGYM-Version in einer cluster-randomisierten
Studie mit 647 depressiven Patienten untersucht [7]. Dabei wurde MoodGYM als Selbsthilfeinstrument eingesetzt, das Hausärzte ihren Patienten
ergänzend zur regulären Depressionsbehandlung empfehlen konnten. Bei denjenigen, denen
zusätzlich MoodGYM empfohlen wurde, besserte sich die depressive Symptomatik nach
6 Wochen und nach 6 Monaten signifikant stärker als bei denjenigen, die ausschließlich
die gewöhnliche hausärztliche Versorgung erhielten. Diese Ergebnisse stehen in Einklang
mit internationalen Studien, die ähnliche Resultate erbrachten (u. a. [8]
[9]). Die Ausnahme macht eine aktuelle britische Studie, die Selbstmanagementprogramme
(MoodGYM und Beating the Blues) bei hausärztlich behandelten depressiven Patienten
einsetzte, und keine Vorteile zeigen konnte [10]. Das mag auch daran liegen, dass MoodGYM dort seit Jahren frei verfügbar ist. Daher
nutzte auch die Kontrollgruppe zu fast 20 % MoodGYM oder ein anderes Selbstmanagementprogramm.
Zudem waren die Patienten in der britischen Studie schwerer krank und wurden durch
technisches Studienpersonal außerhalb der eigentlichen Behandlungsbeziehung zum Hausarzt
ermutigt, das Programm zu nutzen.
Vier gute Gründe, die Chancen von Selbstmanagementprogrammen zu nutzen
Vier gute Gründe, die Chancen von Selbstmanagementprogrammen zu nutzen
1. Enormer Bedarf: Psychische Störungen sind häufig. Es spricht viel dafür, alle Möglichkeiten auszuschöpfen,
um diesen Menschen Unterstützung und Zugang zu psychoedukativem Wissen zu geben. Dieses
Wissen muss einfach aufbereitet sein, damit Nutzer mit unterschiedlichem Bildungsniveau
davon profitieren können.
2. Möglicher Einstieg in eine fachspezifische Behandlung: Selbstmanagementprogramme können als Einstieg in eine Psychotherapie dienen – gerade
für Menschen, die aus bestimmten Erwägungen, z. B. aus Angst vor Stigmatisierung oder
Überforderung, (noch) keine psychotherapeutische Hilfe suchen wollen.
3. Besondere Umstände: Auch in Deutschland kann es, gerade in ländlichen Gegenden, schwer sein, zeit- und
wohnortnah psychotherapeutische Unterstützung zu erhalten. Zudem können Mobilitätseinschränkungen
oder andere Umstände, den Zugang zu Beratung oder fachspezifischer Behandlung erschweren.
Selbstmanagementprogramme können dabei helfen, solche Barrieren zu überwinden oder
Wartezeiten zu überbrücken.
4. Empowerment fördern: Das Internet hat die Informationsasymmetrie zwischen Experten und Patienten deutlich
verringert. Das ist gut so. Damit ermöglichen sie es den Patienten einerseits, sich
intensiver auf Face-to-Face-Therapien vorzubereiten und erlauben andererseits eine
gezielte selbstständige Vertiefung der in der Therapie vermittelten Inhalte.
Werden Psychiater überflüssig?
Werden Psychiater überflüssig?
Wir sehen ein enormes Potenzial von Selbstmanagementprogrammen als „add-on“ zur regulären
Versorgung – auch in psychiatrischen Ambulanzen, Kliniken und psychotherapeutischen
Praxen. Behandler berichteten, dass sie ihren Patienten solche Programme empfehlen,
weil damit auch basale psychoedukative Kenntnisse vermittelt werden und sie dann in
der Therapie fokussierter am Kernproblem arbeiten können. Auch sehen wir keinen Anhaltspunkt,
dass Therapeuten überflüssig werden, ganz im Gegenteil. Menschen können für das Anliegen
von Therapie sensibilisiert werden und möglicherweise eher den Weg in eine Behandlung
finden. In den Informationsmaterialien für Ärzte und Patienten und den Nutzungsbedingungen
zu MoodGYM wird klargestellt, dass das Programm bei manifesten Depressionen nur unterstützend
zur ärztlichen Behandlung eingesetzt werden soll und keine fachgerechte Diagnose oder
Behandlung durch einen Arzt oder Psychotherapeuten ersetzt. Die Entwicklung der deutschen
MoodGYM-Version wurde von der AOK initiiert und gefördert. Das Programm steht nicht
nur AOK-Versicherten zur Verfügung, sondern kann von allen frei und kostenlos genutzt
werden. Damit können Ärzte und Psychotherapeuten MoodGYM allen Patienten empfehlen, für die es aus medizinischer Sicht geeignet ist.