Davidson AJ, Disma N, de Graaff JC, Withington DE et al.
Neurodevelopmental outcome at 2 years of age after general anaesthesia and awake-regional
anaesthesia in infancy (GAS): an international multicentre, randomised controlled
trial.
Lancet 2016;
387: 239-250
Nach einer Allgemeinanästhesie im 1. Lebensjahr gibt es im Alter von 2 Jahren keine
Anhaltspunkte für eine damit zusammenhängende Störung der neurokognitiven Entwicklung.
Zu diesem Schluss kommt die randomisierte, internationale multizentrische Studie General
Anesthesia compared to Spinal Anesthesia (GAS).
GAS hat zwischen Februar 2007 und Januar 2009 in 28 Kliniken insgesamt 719 Kinder
im Alter bis zu 60 Wochen p. m. aufgenommen, bei denen eine Leistenhernioplastik notwendig
war. Die Kinder wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugewiesen:
Opioide und Lachgas wurden in keinem Fall eingesetzt. Als primärer Endpunkt der Studie
wurde das Ergebnis im Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence im Alter
von 5 Jahren festlegt. Sekundärer Endpunkt sind die hier vorgestellten Gesamtpunktwerte
auf der kognitiven Subskala laut Bayley Scales of Infant and Toddler Development III
(Bayley III), mit der u. a. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, sensomotorische Entwicklung
und einfaches Problemlöseverhalten bestimmt werden.
Daten von 238 Kindern der Regionalanästhesiegruppe und 294 Kindern der Allgemeinanästhesiegruppe
(mittlere Dauer der Anästhesie 54 min) konnten ausgewertet werden. Dabei zeigten sich
keine signifikanten Unterschiede im kognitiven Bayley-III-Wert zwischen den beiden
Gruppen. Ähnliche Resultate lieferten die motorischen und verbalen Subskalen des Bayley
II sowie der MacArthur-Bates-Test, in dem Eltern die sprachliche Kommunikationsfähigkeit
ihrer Kinder beurteilen.
Infantile Zerebralparese, schwere Seh- oder Hörstörungen und spezifische Verhaltensstörungen
wie Erkrankungen aus dem Autismusspektrum waren insgesamt so selten, dass keine sinnvollen
Vergleiche zwischen den Gruppen möglich waren.
Fazit Nach diesen Daten gibt es keine Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der neurokognitiven
Entwicklung bis zum 2. Lebensjahr, wenn im 1. Lebensjahr eine Allgemeinanästhesie
durchgeführt wurde, fassen Davidson et al. zusammen. Anderslautende Ergebnisse aus
Observationsstudien könnten u. a. dadurch zustande kommen, dass die Grunderkrankungen,
die die Anästhesie überhaupt notwendig machen, zu Verzerrungseffekten beim Outcome
führen. Einschränkend ist zu sagen, dass die Resultate für kürzere Narkosen (< 1 h)
mit Sevofluran gelten – über länger dauernde und/oder häufigere Anästhesien und andere
Anästhetika lassen sich keine Aussagen treffen. Daten zum primären Endpunkt werden
ca. 2018 verfügbar werden.
Dr. med. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim
Prof. Dr. med. Robert Sümpelmann
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, MHH Hannover
Frühere Berichte aus tierexperimentellen und klinischen Beobachtungsstudien über ungünstige
Auswirkungen von Anästhesien im Neugeborenen- und Säuglingsalter auf Gehirnfunktionen
in späteren Lebensphasen haben zu einer erheblichen Verunsicherung von Ärzten und
Patienten geführt. Viele Familien sind gut informiert und machen sich seitdem mehr
Sorgen, wenn ihr Kind eine Narkose bekommen soll. Die Aussagefähigkeit der bisher
vorliegenden Studien ist jedoch sehr begrenzt, weil tierexperimentelle Befunde nicht
ohne weiteres auf kleine Kinder übertragbar sind und neurokognitive Entwicklungsstörungen
z. B. auch Folge der Grundkrankheit, der durchgeführten Operationen und von anderen
Therapie- und Umgebungseinflüssen sein können. Die Zwischenauswertung von Davidson
et al. ist in diesem Zusammenhang ein Meilenstein, weil durch das (erstmalig) prospektive
randomisierte Studiendesign, die grosse Fallzahl und die Fokussierung auf eine Operation
(Leistenherniotomie) und ein Anäs-thetikum (Sevoflurane) eine Beeinflussung durch
Anästhesie-unabhängige Faktoren wenig wahrscheinlich ist. Das Ergebnis ist auf den
1. Blick erfreulich: kein messbarer Unterschied in der neurokognitiven Entwicklung
2 Jahre nach einer Allgemein- bzw. wachen Regionalanästhesie in früher Kindheit. Auf
den 2. Blick bleiben aber offene Fragen: die Abschlussuntersuchung nach 5 Jahren steht
noch aus, die neurokognitive Entwicklung ist nach 2 bzw. 5 Jahren noch nicht abgeschlossen,
die mittlere Anästhesiedauer war mit 54 min sehr kurz und es ist gut möglich, dass
längere Anästhesien, zusätzliche Anästhetika oder mehrfache Anästhesien trotzdem einen
ungünstigen Einfluss haben. Für eine Entwarnung ist es also noch zu früh! Außerdem
sind respiratorische und kardiovaskuläre Komplikationen die Hauptrisiken bei Anästhesien
in früher Kindheit. Dennoch: die Studienergebnisse sind ein Lichtblick, den man besorgten
Eltern durchaus mitteilen kann.