Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2016; 26(06): 303-308
DOI: 10.1055/s-0042-119073
Wissenschaft und Forschung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Querschnittlähmung in Deutschland – Forschungsdaten zur Gesundheit, Versorgungs- und Lebenssituation Betroffener

Spinal Cord Injury in Germany – Data on Health, Medical Care and Life Situation
M. Blumenthal
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
,
V. Geng
2   Manfred-Sauer-Stiftung, Lobbach
,
C. Egen
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
,
C. Gutenbrunner
1   Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

M. Blumenthal
Bereich Rehabilitationsforschung und -wissenschaften
Klinik für Rehabilitationsmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover

Publication History

eingereicht: 13 June 2016

angenommen: 14 October 2016

Publication Date:
12 December 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Fragestellung: Ziel der Literaturübersicht ist eine systematische Darstellung der weltweit publizierten Studien und Übersichtsarbeiten zur Versorgungs- und Lebenssituation von Menschen mit Querschnittlähmung.

Methode: Es wurde eine systematische Literaturrecherche in der Datenbank Pubmed/Medline durchgeführt unter der Verwendung ausgewählter Suchbegriffe (MeSH-Terms) wie z. B. „health services accessibility“, „quality of life“, „return to work“ oder „rehabilitation, vocational“.

Ergebnisse: Insgesamt konnten 1 286 Studien identifiziert werden. Die Titel- und Abstractanalyse reduzierte die einbezogenen Studien auf 120 Forschungsarbeiten. Die Ergebnisse zeigen eine sehr heterogene Studienlage weltweit. Vor allem Länder mit einem Querschnittgelähmten-Register (z. B. Kanada, USA, Australien) können auf eine breitgefächerte Datenbasis zurückgreifen. Die für Deutschland identifizierten Studien (n=4) geben hingegen nur wenig Aufschluss über die subjektiv wahrgenommene Lebenssituation von Menschen mit Querschnittlähmung.

Schlussfolgerung: Für den deutschen Raum konnte ein Defizit an lebensweltbezogenen Daten bestätigt werden, sodass ein dringender Forschungsbedarf gesehen wird.


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Abstract

Purpose: The aim of this literature review was to provide a systematic overview of the available evidence regarding life situation and medical care of persons with spinal cord injury (SCI).

Materials and Methods: A literature search was conducted in PubMed/Medline by using MeSH Terms like ‘health services accessibility’, ‘quality of life’, ‘return to work’, ‘rehabilitation, vocational’.

Results: In total 1 286 studies were identified. After the exclusion of duplicates and irrelevant publications, 120 studies were included in further analyses. The results indicate a heterogeneous level of evidence in the different countries. Especially countries with a registry on spinal cord injury (e. g. Canada, USA, and Australia) benefit from a wide database. Only few German studies (n=4) could be included. However, these studies did not provide sufficient information regarding the subjective living and health conditions of patients with SCI.

Conclusion: The results confirm an urgent need of data living with spinal cord injury in Germany.


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Hintergrund

Querschnittlähmung (QSL) ist ein medizinisch komplexer Zustand, der mit einer kompletten Veränderung des Lebens verbunden ist. Mit der zunehmend besseren medizinischen Versorgung und sozialen Unterstützung ist die gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland auch mit einer Querschnittlähmung möglich. Um jedoch eine kontinuierliche und bedarfsgerechte Versorgung zu ermöglichen, ist es zwingend erforderlich, die Versorgungs- und Lebenssituation Betroffener zu kennen. Hierfür ist das Vorhandensein verlässlicher Daten unabdingbar.

Dem Arbeitskreis „Querschnittlähmungen“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ist es zu verdanken, dass für den deutschen Raum seit 1976 Daten zur Verfügung stehen, die u. a. Aussagen zur Anzahl der Neuerkrankungen und Ursachen des Krankheitsbildes zulassen [1]. Diesbezüglich werden Routinedaten von Querschnittgelähmten-Zentren[1] ausgewertet, die während einer Neu- oder Wiederaufnahme von Patientinnen und Patienten entstehen. Anhand dieser Datenbasis lässt sich die Inzidenz für Deutschland auf ca. 2 200 Neuerkrankungen pro Jahr beziffern [3]. Mit einem Anteil von 70% sind deutlich öfter Männer betroffen als Frauen [3]. Lange Zeit waren die Ursachen für Querschnittlähmung traumatisch-bedingt (z. B. Stürze, Unfälle). In den vergangenen Jahren stieg jedoch die Anzahl der nicht-traumatisch bedingten Querschnittlähmungen kontinuierlich an, sodass sich 2015 bereits die Hälfte aller neuen Fälle auf Erkrankungen (wie z. B. Tumore, Entzündungen, degenerative Veränderungen) zurückführen ließen [3]. Im Jahr 2013 betrug der Anteil hingegen lediglich 30% [1]. Da die Übermittlung der Routinedaten der Querschnittgelähmten-Zentren auf Freiwilligkeit beruht, lassen sich Inzidenz und Prävalenz für Deutschland lediglich schätzen. Ein zentrales Register wie in Kanada [4], Australien [5] oder den Vereinigten Staaten [6] gibt es bislang nicht.

Die Daten, die im Rahmen dieses Arbeitskreises erhoben werden, sind bedeutsam und geben einen ersten Überblick über die vorherrschende Situation. Was sich daraus jedoch nicht ableiten lässt, sind Aussagen darüber, wie sich die subjektiv wahrgenommenen Lebensumstände Betroffener gestalten. Welche Probleme und Bedürfnisse haben Menschen mit Querschnittlähmung? Was bewegt sie bezogen auf ihre Gesundheit, medizinische Versorgung, soziale Teilhabe, schulische und berufliche Ausbildung sowie bezogen auf die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen? Liegen solche Informationen für den deutschen Raum vor?

Die im Jahr 2008 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention fordert dazu auf, Forschungsdaten zu Menschen mit Behinderung zu erheben [7]. Auch der Weltbericht Behinderung der WHO und Weltbank aus dem Jahr 2011 [8] sowie der Globale Aktionsplan Behinderung (2014–2021) [9] plädieren dafür, die Datenerfassung bezüglich des Themenfeldes der Behinderungen zu verbessern. Mit dem WHO-Bericht „IPSCI“ (International Perspectives on Spinal Cord Injury) aus dem Jahr 2013, eine Zusammenstellung von verfügbaren Informationen zu Querschnittlähmung weltweit, liegt nun auch erstmalig die Empfehlung vor, speziell in dem Bereich Querschnittlähmung die Datensammlung und Forschung global zu fördern [10].

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich daraus die WHO-Initiative „Learning Health System Spinal Cord Injury“ (LHS-SCI) – eine international agierende Studie, um das Leben von Menschen mit Behinderung am Beispiel von Querschnittlähmung weltweit zu verbessern [11]. Primäres Ziel der LHS-SCI-Initiative ist es, systematisch die Bedürfnisse querschnittgelähmter Menschen unterschiedlicher Nationen zu identifizieren und die Art, Qualität und Effektivität der Gesundheitssysteme miteinander zu vergleichen. Forschende und Interessenvertreter sollen vom Erfolg der anderen lernen und langfristig eine bessere Zukunft in ihrem Land vorantreiben [11]. Die Gesamtkoordination für das 27 Länder umfassende Projekt liegt bei der Schweizer Paraplegiker Forschung (SPF) in Nottwil, deren Schweizer Kohortenstudie „SwiSCI“ die Grundlage des internationalen Surveys bildet [12]. Deutschland wird sich mit dem Projekt „GerSCI“ (German Spinal Cord Injury Survey) an dieser Initiative beteiligen und erstmalig subjektive Daten zu den Bedürfnissen und Lebensumständen von Menschen mit Querschnittlähmung auf deutscher Ebene erheben [13].

In Vorbereitung auf die nationale Erhebung wurde untersucht, welche vergleichbaren Erhebungen in den vergangenen 10 Jahren in Deutschland und im internationalen Raum durchgeführt wurden. Gibt es bereits Studien, die sich auf die Gesundheitsversorgung, Lebensqualität oder berufliche Situation bei Querschnittlähmung beziehen und wenn ja, in welchen Ländern? Welche Länder, können auf eine breitgefächerte Datenbasis bezüglich der Lebensumstände und Versorgungssituation bei Querschnittlähmung zurückgreifen? Welchen Stand hat Deutschland im internationalen Vergleich?


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Methodik

Um Forschungsarbeiten in Deutschland und im internationalen Raum zu identifizieren, die die Epidemiologie des Krankheitsbildes sowie die Lebensumstände und Versorgungssituation von Menschen mit Querschnittlähmung fokussieren, wurde im Juli 2015 in der Datenbank Pubmed eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Die Suche wurde mit dem Standardvokabular (MeSH) durchgeführt und auf Publikationen ab dem Jahr 2005 begrenzt. Die verwendeten MeSH-Terms sind in [Tab. 1] aufgeführt. Die Suchergebnisse wurden zunächst anhand ihrer Titel gesichtet. Publikationen, die sich dabei als potenziell relevant herausstellten, wurden anschließend hinsichtlich ihrer Abstracts nach den in [Tab. 2] dargestellten Kriterien untersucht und entsprechend selektiert. Eine Überprüfung der Volltexte erfolgte nicht. Die ausgewählten Studien wurden anschließend einer detaillierten Abstractanalyse unterzogen. Ziel war die Beschreibung der untersuchten Studienpopulation (Kontinent, Land, Größe der Studienpopulation), des Untersuchungsgegenstandes (Thema der Studie) sowie der verwendeten Daten (Primär- oder Sekundärdaten).

Tab. 1 Pubmed-Suchstrategie: MeSH-Terms.

1

Spinal Cord Injuries [MeSH] AND Health Services Accessibility [MeSH]

2

Spinal Cord Injuries [MeSH] AND Quality of Life [MeSH]

3

Spinal Cord Injuries [MeSH] AND (Work [MeSH] OR Return to Work [MeSH] OR Workplace [MeSH] OR Workload [MeSH] OR Job Satisfaction [MeSH])

4

Spinal Cord Injuries [MeSH] AND (Health Surveys [MeSH] OR Health Care Surveys [MeSH])

5

Spinal Cord Injuries [MeSH] AND (Rehabilitation [MeSH] OR Rehabilitation, vocational [MeSH] OR Rehabilitation Centers [MeSH])

6

„2005“ [Date-Publication]: „2015“ [Date-Publication]

7

1 AND 2 AND 3 AND 4 AND 5 AND 6

Tab. 2 Kriterien für die Berücksichtigung von Publikationen.

1

Die Publikation ist eine Originalarbeit.

2

Die Daten (Primär- oder Sekundärdaten) beziehen sich auf die Bevölkerung einer bestimmten Region/eines Landes.

3

Die Publikation untersucht kein spezifisches Krankheitsbild (z. B. Depression).

4

Die Publikation thematisiert mind. eine der folgenden Aspekte:

  • Epidemiologie von QSL (Inzidenz/Prävalenz, Ursachen, Mortalität)

  • Gesundheitszustand (allgemein)

  • Lebensqualität/Lebenszufriedenheit

  • Berufliche Situation/Rückkehr in die Erwerbstätigkeit

  • Lebensumstände

  • Freizeitverhalten

  • Gesundheitssystem/Gesundheitsversorgung

  • Rehabilitation

  • QSL bei verschiedenen Personengruppen (z. B. Kinder, Ältere, Veteranen usw.)


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Ergebnisse

Die systematische Literaturrecherche in Pubmed lieferte insgesamt 1 286 Treffer, die anhand ihrer Titel und Abstracts gesichtet wurden. Auffallend ist hierbei die Konzentration der Studien auf die Wirkung und Effizienz diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Nach Ausschluss von 1 166 Publikationen wurden 120 Studien in die inhaltliche Abstractanalyse einbezogen. In der [Tab. 3] sind die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt.

Tab. 3 Anzahl der identifizierten Studien nach Ort der Datenerhebung und Studienthema (n=120).

Studienthema

Epidemiologie

Gesundheitszustand/Folgeerkrankungen

Lebensqualität/Lebenszufriedenheit

Berufliche Situation/return to work

Lebensumstände

Freizeitverhalten

Gesundheitssystem/-versorgung

Rehabilitation

QSL bei versch. Personengruppen

Ort der Datenerhebung

120

12

20

39

16

9

2

8

6

8

Nordamerika

39

USA

28

1

4

6

4

3

5

1

4

Kanada

10

1

3

3

2

1

Mexiko

1

1

Südamerika

8

Brasilien

6

1

4

1

Kolumbien

2

1

1

Europa

40

Niederlande

10

2

3

4

1

Italien

6

1

2

2

1

Estland

2

1

1

Türkei

3

1

1

1

UK

2

1

1

Frankreich

2

1

1

Norwegen

2

2

Schweden

2

1

1

Schweiz

2

2

Finnland

1

1

Deutschland

1

1

Länder übergreifend (1)

7

1

1

2

1

1

1

Asien

22

China

6

2

2

2

Indien

4

1

1

1

1

Südkorea

3

1

1

1

Malaysia

2

1

1

Iran

1

1

Israel

1

1

Nepal

1

1

Saudi Arabien

1

1

Singapur

1

1

Thailand

1

1

Länder übergreifend (2)

1

1

Australien

6

Australien

5

1

3

1

Neuseeland

1

1

Afrika

0

Kontinent übergreifend (3)

5

1

1

1

2

(1) a: Italien, Schweden; (1) b: Belgien, Niederlande; (1) c: Deutschland, Österreich, Schweiz; (1) d: Deutschland, Österreich, Schweiz, UK; (1) e: Dänemark, Niederlande, Norwegen, Schweiz; (1) f: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Lettland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, UK; (1) g: Estland, Norwegen; (2) Indien, Sri Lanka, Vietnam; (3) a: Australien, Schweden; (3) b: Kanada, UK, USA; (3) c: Australien, Brasilien, Israel, Kanada, Südafrika, USA; (3) d: Australien, Indien, Italien, Irland, Kanada, Niederlande, Pakistan, Schweiz, USA; (3) e: Australien, Indien, Italien, Irland, Kanada, Niederlande, Pakistan, Schweiz, UK, USA

Im amerikanischen Raum sind es vor allem die Vereinigten Staaten (n=28), Kanada (n=10) sowie Brasilien (n=6), die über Forschungsergebnisse zur Gesundheit, Versorgungs- und Lebenssituation bei Querschnittlähmung verfügen. Insbesondere die USA können im Vergleich zu allen anderen Ländern weltweit, quantitativ und qualitativ auf die größte Datenbasis zurückgreifen. Vor allem im Bereich der Erforschung des Gesundheitssystems und der gesundheitlichen Versorgung Querschnittgelähmter nehmen sie eine führende Rolle ein. 5 der 8 identifizierten Studien beziehen sich auf die US-amerikanische Bevölkerung, zzgl. einer länderübergreifenden Studie, die in den USA, Kanada und dem Vereinigten Königreich (UK) durchgeführt wurde. Gegenstand der Untersuchungen sind z. B. das Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Leistungen von Personen mit Querschnittlähmung (Stillmann et al. 2014), die Inanspruchnahme von Präventionsangeboten im Vergleich zur Normalbevölkerung (Johnston et al. 2005) oder der Einfluss der stationären und nachstationären Behandlung auf die Funktionsfähigkeit, Lebenszufriedenheit und Partizipation (Backus et al. 2013). Ebenfalls verfügen die Vereinigten Staaten über die meisten Forschungsdaten zu speziellen Personengruppen (Ältere, Kinder, Veteranen). Des Weiteren liegen Daten zur Rückkehr in die Erwerbstätigkeit vor (Pflaum et al. 2006; Gorzkowski et al. 2010; Botticello et al. 2012; Phillips et al. 2012) sowie eine Publikation zum Rehabilitationsbedarf nach Querschnittlähmung (Kroll 2008). Darüber hinaus analysieren weitere US-amerikanischen Studien die Lebensumstände (n=3), Lebensqualität und Lebenszufriedenheit (n=6) sowie den Gesundheitszustand Betroffener (n=4).

Im asiatischen Raum beziehen sich die identifizierten Studien (n=22) überwiegend auf die epidemiologische Beschreibung des Krankheitsbildes (n=5) sowie auf die Beschreibung des Gesundheitszustandes (n=6) und der Lebensqualität/Lebenszufriedenheit von Personen mit Querschnittlähmung (n=6). Eine Besonderheit stellen die Forschungsarbeiten aus Saudi Arabien und Südkorea dar, die die Lebensqualität und Erfahrungen von querschnittgelähmten Frauen wissenschaftlich untersuchten (Al-Jadid et al. 2010; Hwang et al. 2012). Gegenstand der Untersuchungen aus Indien z. B. sind die Erwerbstätigkeit nach Paraplegie (Gupta et al. 2011) sowie die Epidemiologie und Rehabilitation nicht-traumatischer Querschnittlähmung (Gupta et al. 2009).

Studien, die sich ausschließlich auf die afrikanische Bevölkerung beziehen, waren in dieser Recherche nicht zu identifizieren. Lediglich eine Forschungsarbeit untersucht die Lebensqualität nach Querschnittlähmung in 6 verschiedenen Ländern und bezieht die südafrikanische Bevölkerung mit ein (Geyh et al. 2013). Australien hingegen verfügt über eine sehr breite Datenbasis (n=9) und kann detaillierte Aussagen zum Gesundheitszustand und der subjektiven Lebensqualität Betroffener, auch für die gesamte Lebenszeit (Pershouse et al. 2012), treffen. Darüber hinaus liegen Daten zum Rehabilitationssystem vor, die im Rahmen einer international angelegten Studie erhoben worden (New et al. 2013).

Auf eine Vielzahl an Studien kann auch der europäische Raum zurückgreifen (n=40). Insgesamt 11 Länder haben Untersuchungen zu Querschnittlähmung durchgeführt. Dabei beziehen sich ein Viertel der identifizierten Studien (n=10) auf die berufliche Situation Querschnittgelähmter sowie auf die Möglichkeit der Rückkehr in die Erwerbstätigkeit. Dies ist im weltweiten Vergleich eine europäische Besonderheit. Vor allem die Niederlande verfügen über mehrere Erhebungen (n=4) zu diesem Thema. So wurden die beruflichen Perspektiven (Schönherr et al. 2005), die tatsächliche berufliche Reintegration (Schönherr et al. 2004; van Velzen et al. 2012) sowie Prädiktoren der Rückkehr in die Erwerbstätigkeit (Ferdiana et al. 2014) analysiert. Niederlande ist auch das Land, das die meisten Studien in Europa durchführt. Aber auch Italien, die Türkei, das Vereinigte Königreich (UK), Frankreich sowie eine länderübergreifende Studie (Niederlande, Schweiz, Dänemark, Norwegen) können auf ähnliche Daten zur beruflichen Situation zurückgreifen. Forschungsarbeiten, die sich mit dem Freizeitverhalten Querschnittgelähmter auseinandersetzen (n=2), sind ebenfalls eine Besonderheit für Europa (Italien, Schweden).

Für die deutsche Bevölkerung ließen sich insgesamt 4 Studien nachweisen. Die Forschungsarbeit von Thietje et al. (2011) fokussiert die Todesursachen von Menschen mit Querschnittlähmung und zeigt auf, welche Sekundärerkrankungen in der weiteren Lebensspanne überwiegend von Bedeutung sind. Dies ist die einzige Studie, die sich ausschließlich auf den deutschen Raum bezieht. In der Publikation von Augutis et al. (2006) wird hingegen die medizinische Versorgung querschnittgelähmter Kinder in 19 verschiedenen Ländern untersucht und verglichen. Die Forschergruppe um Kennedy et al. (2006) untersuchte in 4 Ländern die Lebensqualität, soziale Teilhabe sowie Coping-Strategien Betroffener. In einer vierten Arbeit wurden Patientendaten in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhoben, die jedoch der Validierung eines Befragungsinstrumentes dienten (Pannek 2007). Somit steht seither ein Instrument zur Messung von Lebensqualität bei Blasenfunktionsstörung in deutscher Sprache zur Verfügung, Befragungsergebnisse enthält die Publikation jedoch nicht.

Auch das Thema Rehabilitation bei Querschnittlähmung scheint bislang in der Forschung unterrepräsentiert. Von den insgesamt 120 identifizierten Studien beziehen sich lediglich 6 auf rehabilitationsspezifische Aspekte. Die einzige europäische Forschungsarbeit hierzu untersucht Merkmale, Verweildauer und funktionales Outcome nach der Rehabilitation in den Niederlanden und Belgien (Osterthun et al. 2008). Eine internationale Vergleichsarbeit steht seit 2013 zur Verfügung, in der die Rehabilitationssysteme und -leistungen von 9 Ländern (Australien, USA, Kanada, Indien, Pakistan, Irland, Italien, Niederlande, Schweiz) gegenübergestellt werden (New et al. 2013a). Im gleichen Jahr folgte eine weitere sich auf diese Länder (zzgl. UK) beziehende Veröffentlichung mit dem Ziel, die international bestehenden Barrieren bezogen auf den Zugang in und die Entlassung aus Rehabilitationszentren zu beschreiben und zu vergleichen (New et al. 2013b). Studien zur Rehabilitation nach Querschnittlähmung in Deutschland konnten in dieser Literaturrecherche nicht identifiziert werden.


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Diskussion

Die vorliegende Arbeit untersuchte welche Studien in Deutschland und im internationalen Raum in den vergangenen 10 Jahren durchgeführt wurden, die sich auf die Gesundheits-, Versorgungs- und Lebenssituation querschnittgelähmter Menschen beziehen. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Länder auf eine solide Datenbasis zurückgreifen können, Deutschland hingegen einen deutlichen Nachholbedarf aufweist. In Europa sind es vor allem die Niederlande und Italien, international vornehmlich die USA, Kanada sowie Australien, die als Vorreiter in der Datenerhebung angesehen werden können. Es ist zu vermuten, dass vor allem die Registerarbeit der 3 letztgenannten Nationen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Durchführbarkeit dieser Studien hat.

Für Deutschland hingegen lassen die 4 identifizierten Studien wenig Aussagen zur Gesundheit, Versorgungs- und Lebenssituation querschnittgelähmter Menschen zu. Dies ist unter anderem dem Ziel der internationalen Vergleichbarkeit geschuldet, sodass die speziell auf Deutschland bezogenen Inhalte sehr limitiert sind. Folglich muss davon ausgegangen werden, dass die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Querschnittlähmung weitgehend unbekannt sind. Dank der Auswertung der Routinedaten des Arbeitskreises „Querschnittlähmung“ stehen für den deutschen Raum Schätzungen für die Anzahl der Neuerkrankungen sowie beobachtete Ursachentrends zur Verfügung. Diese ersetzen aber nicht die subjektive Sichtweise Betroffener und geben keine Auskunft über die Zufriedenheit mit der gesundheitlichen Versorgung sowie mit der Arbeits- und Lebenswelt.

Nicht zuletzt weil Querschnittläsionen zu dauerhaften Schäden und Störungen wichtiger Körperfunktionen führen, sind Daten über Funktionsfähigkeit und Teilhabe sowie über hieraus abzielende Interventionen von herausragender Bedeutung. Dabei wird das Ausmaß der Einschränkungen bei Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe von der Art der primären Schädigung beeinflusst, unterliegt aber auch zahlreichen anderen Faktoren, wie den Umwelt- und persongebundenen Faktoren der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) und dem Ausmaß und der Qualität rehabilitativer Interventionen (einschließlich assistiver Technologien, Anpassung der Umwelt und des Arbeitsplatzes usw.). Diese Faktoren beeinflussen sowohl die individuelle Lebensqualität als auch die sozialen Folgen der Querschnittlähmung. Somit ist es für zukünftige epidemiologische Studien von größter Bedeutung, die Dimension Funktionsfähigkeit und Behinderung auf allen ICF-Ebenen systematisch und umfassend zu erheben sowie den Zugang zu entsprechenden rehabilitativen Interventionen zu erfassen.


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Limitationen

Die Literaturrecherche bezieht sich ausschließlich auf die Pubmed-Datenbank. Originalarbeiten, die nicht in Pubmed gelistet sind, werden dementsprechend nicht berücksichtigt. Darüber hinaus schränken sowohl die eingesetzten MeSH-Terms als auch der Berücksichtigungszeitraum die erzielten Treffer ein.

Um auszuschließen, dass aufgrund der ausgewählten Suchstrategie einschlägige Studien nicht identifiziert werden konnten, wurde eine zusätzliche, nicht-systematischen Recherche durchgeführt. Die Suche in der Literaturdatenbank Livivo mit Verlinkung zu Literatur aus den Lebenswissenschaften [15] erzielte keine weiteren nennenswerten Treffer. Bei den identifizierten Artikeln handelte es sich vornehmlich um Arbeiten ohne eigene Datenerhebung, bezogen sich nicht auf die deutsche Bevölkerung oder wurden vor 2005 (s. o.) publiziert. Auch die Suche bei Google Scholar erbrachte keinen wesentlichen Zusatznutzen und verwies lediglich auf eine Sonderauswertung, die im Rahmen der Studie „Boberger Qualitätsscore“ veröffentlicht wurde [14]. Diese gibt erste Hinweise auf den Erfolg der beruflichen Wiedereingliederung bei querschnittgelähmten Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Deutschland und zeigt auf, dass 30 Monate nach der stationären Rehabilitation 22% der Befragten wieder erwerbstätig waren und 4% sich in einer Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme befanden. Zwei Drittel hingegen hatten einen Rentenstatus eingenommen [14].


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Ausblick

Die Beteiligung Deutschlands an der WHO-Initiative „LHS-SCI“ (Learning Health System Spinal Cord Injury) bietet die Chance, erstmalig subjektive Daten zu erheben, die Rückschlüsse auf das Leben der Menschen zulassen. Im Besonderen beinhaltet sie die Entwicklung und Einführung des ersten internationalen SCI-Surveys, der sich aus den Studien der teilnehmenden Länder zusammensetzt, die wiederum die spezifischen Lebensumstände in ihrem Land erheben. Der Survey basiert dabei u. a. auf den ICF-Core Set für Querschnittlähmung und dem WHO „Model Disability Survey“. Auf diese Weise wird die „internationalen Sprache“ zu Funktionsfähigkeit und Behinderung angewendet und ermöglicht einen Vergleich der erhobenen Daten sowie eine Verknüpfung zu anderen nationalen Studien zur Gesundheit und Behinderung. Darüber hinaus wird die LHS-Initiative nationale „Stakeholder Dialoges“ initiieren, um das im SCI Survey gewonnene Wissen in politische Diskussionen einfließen lassen zu können. Letztendlich zielt die LHS-Initiative darauf ab, nationale Datenbanken zu etablieren, um für nachfolgende Erhebungswellen des Surveys Erfolgsindikatoren zu dokumentieren (z. B. Gesundheit und Funktionsfähigkeit von Menschen mit Querschnittlähmung). Förderer der deutschen Beteiligung an der WHO-Initiative ist die Manfred-Sauer-Stiftung aus Lobbach. Darüber hinaus besteht eine enge Zusammenarbeit mit der DMGP.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen und Autoren erklären, dass es keinen Interessenkonflikt gibt.

1 In der Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft Paraplegie e.V. (DMGP) sind insgesamt 28 Querschnittgelähmtenzentren vertreten. 27 dieser Zentren versorgen Neuerkrankungen und sind Mitglieder des Arbeitskreises.[2]



Korrespondenzadresse

M. Blumenthal
Bereich Rehabilitationsforschung und -wissenschaften
Klinik für Rehabilitationsmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover