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DOI: 10.1055/s-0042-1749475
Ist der Begriff „traditional use“ auf Basis ethnomedizinischer Forschung erweiterbar?
Authors
Die traditionelle Medizin beinhaltet viele verschiedene volksheilkundliche Methoden. Sie wird in irgendeiner Art und Weise in vielen, wenn nicht gar allen Ländern der Welt angewandt – sofern sie kulturell verankert und überliefert ist. Die WHO definiert sie als „Summe des Wissens, der Fertigkeiten und der Praktiken, die auf den Theorien, Überzeugungen und Erfahrungen der verschiedenen Kulturen beruhen und zur Erhaltung der Gesundheit sowie zur Vorbeugung, Diagnose, Verbesserung oder Behandlung von körperlichen und geistigen Krankheiten eingesetzt werden, unabhängig davon, ob sie erklärbar sind oder nicht“ [1].
Abzugrenzen ist die traditionelle Medizin von der wissenschaftlich-fundierten und -begründeten Medizin, zumeist auch als „westliche Medizin“ bezeichnet (dass auch andere Länder und Regionen eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin etabliert haben, wird mit diesem Begriff jedoch außer Acht gelassen). Ziel der WHO, auf Basis der Beschlüsse der 62. Versammlung der World Health Assembly 2009 [2], ist die Entwicklung von Lösungen, die zu einer umfassenderen Vision von verbesserter Gesundheit und Patientenautonomie beitragen, die dann in dem Strategiepapier WHO Traditional Medicine Strategy, zuletzt für den Zeitraum 2014–2023 [1] fixiert wurden.
Die WHO hat dabei vor allem den Blick auf Länder, in denen ein solches Regelwerk, wie es bei uns in der „westlichen“ Hemisphäre der Medizin, nicht, rudimentär bzw. kaum etabliert worden ist oder derzeit werden kann. Eine an der evidenzbasierten Medizin orientierte regulatorische Lösung hat eine Reihe an Ländern etabliert, allen vor voran die Europäischen Gemeinschaft als größter Wirtschaftraum mit deren Regelwerk unter dem Dach der EMA, European Medicines Agency, als auch der Schweiz. Länder auf anderen Kontinenten – z. B. Brasilien, Kanada und Japan – haben ebenfalls Verfahren dieser Art etabliert, wie u. a. auf dem Kongress „TradReg2013“ des BfArM im Jahr 2013 ersichtlich wurde [3].
Die EU als auch die Schweiz haben eine pragmatische Lösung vorgesehen. Hier kann ein Arzneimittel mit dem Status „traditional use“ regulatorisch anerkannt (registriert bzw. zugelassen) werden, wenn es zum Zeitpunkt der Antragstellung seit mindestens 30 Jahren, davon mindestens 15 Jahre in der EU bzw. EFTA, nachweislich medizinisch verwendet wird. Geregelt ist dies in der Richtlinie 2004/24/EC der Europäischen Gemeinschaft [4] sowie entsprechend in der Komplementär- und Phytoarzneimittelverordnung (KPAV) der Swissmedic [5].
Grundlage beider Regelwerke ist vor allem eine etablierte und ausreichend gut dokumentierte lange Anwendungstradition und gleichermaßen eine hohe Anwendungssicherheit, wobei die wesentliche Erleichterung für einen Antragsteller im quasi nicht geforderten Wirksamkeitsbeleg besteht. Für Produkte dieser Kategorie muss die Wirksamkeit nicht nach den heutigen Anforderungen mit klinischen oder bibliographischen Nachweisen belegt werden. Hier muss sich die Wirkung bzw. Wirksamkeit aus langer Anwendung und Erfahrung plausibel ergeben; charakterisiert sind solche Produkte durch definierte Dosisstärken und Anwendungsarten sowie eine ausreichende und nachzuweisende pharmazeutische Qualität [6].
Das Vorgehen dieser Art stellt eine pragmatische regulatorische Lösung als Folge eines langjährigen politischen Prozesses dar. Jedoch: Mit dem Bezug auf ein sehr konkret definiertes Produkt kann eine eigentliche Tradition nur sehr bedingt abgebildet werden. Denn „traditionell“ bedeutet gerade und zwingend nicht nur einen Prozess der generationsübergreifenden unveränderten Wiederholung. Eine Tradition schließt kulturhistorische, soziologische und psychologische Komponenten mit ein; sie ist einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterworfen, der auch eine Weiterentwicklung, eine Interpretation und die Modulation eines Wissens, Verfahrens oder einer Praxis beinhalten darf und soll – und eine Tradition verliert dadurch keineswegs ihre Gültigkeit [6] [7].
Vor vielen Jahren wurden innerhalb der EU die Vorbereitungen zur Regelung der traditionellen Arzneimittel auf den Weg gebracht, die letztendlich zur Verabschiedung der Richtlinie 2004/24/EC zu den traditionellen Arzneimitteln führte. Es ist daher darauf hinzuweisen, dass ein vergleichbarer politischer Prozess bzgl. der Veterinärarzneimittel seitens des Europäischen Parlaments auf den Weg gebracht worden ist: Gemäß Artikel 157 der Verordnung 2019/6/EC von 2018 [8] hat die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum 29. Januar 2027 einen Bericht über traditionelle pflanzliche Erzeugnisse zur Behandlung von Tieren in der Union vorzulegen. Explizit wird ausgeführt: „Die Kommission legt gegebenenfalls einen Legislativvorschlag vor, um ein vereinfachtes System für die Registrierung traditioneller pflanzlicher Erzeugnisse zur Behandlung von Tieren einzuführen.“
Wünschenswert wäre es daher, wenn die Erfahrungen zur Regelung der traditionellen Humanarzneimittel auch für das anstehende Regelwerk zu den Veterinärarzneimitteln eine Berücksichtigung finden würden. Hier besteht die Hoffnung, dass auch andere Anwendungsbelege – z. B. dokumentierter Einsatz verbreiteter Hausmittel auf Bauernhöfen und bei Tierärzten – eine Berücksichtigung finden werden. Daraus ergäben sich dann möglicherweise auch wieder neue Ansätze für die Humanmedizin, um den bisher hier sehr pragmatischen regulatorischen Ansatz zu erweitern. Diese Aspekte sind Gegenstand dieser Podiumsdiskussion.
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Literatur
- 1 WHO traditional medicine strategy: 2014-2023.. Geneva: World Health Organization; 2013. https://www.who.int/publications/i/item/9789241506096
- 2 WHA62.13. Traditional medicine. In: Sixty-second World Health Assembly, Geneva, 18–22 May 2009. Resolutions and decisions, annexes.. Geneva: World Health Organization; 2009. https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/A62/A62_R13-en.pdf
- 3 Federal Institute for Drugs and Medical Devices (BfArM, Bonn, Germany). TradReg 2013. Regulation of herbal and traditional medicinal products – European and global strategies. International Symposium Bonn, 30/09/2013 to 02/10/2013 https://www.bfarm.de/DE/Aktuelles/Veranstaltungen/Archiv/130930_tradreg.html
- 4 Directive 2004/24/EC of the European Parliament and of the Council of 31 March 2004 amending, as regards traditional herbal medicinal products, Directive 2001/83/EC on the Community code relating to medicinal products for human use
- 5 Komplementär- und Phytoarzneimittelverordnung (KPAV). Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die vereinfachte Zulassung und das Meldeverfahren von Komplementär- und Phytoarzneimitteln vom 7. September 2018
- 6 Helmstädter A, Staiger C. Traditionelle Anwendung: Eine Betrachtung zu pflanzlichen Arzneimitteln aus pharmaziehistorischer Sicht. Forsch Komplementärmed 2012; 19: 93-98
- 7 Jütte R. et al. Herbal medicinal products - Evidence and tradition from a historical perspective. J Ethnopharmacol 2017; 207: 220-225
- 8 Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG
Publication History
Article published online:
13 June 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 WHO traditional medicine strategy: 2014-2023.. Geneva: World Health Organization; 2013. https://www.who.int/publications/i/item/9789241506096
- 2 WHA62.13. Traditional medicine. In: Sixty-second World Health Assembly, Geneva, 18–22 May 2009. Resolutions and decisions, annexes.. Geneva: World Health Organization; 2009. https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/A62/A62_R13-en.pdf
- 3 Federal Institute for Drugs and Medical Devices (BfArM, Bonn, Germany). TradReg 2013. Regulation of herbal and traditional medicinal products – European and global strategies. International Symposium Bonn, 30/09/2013 to 02/10/2013 https://www.bfarm.de/DE/Aktuelles/Veranstaltungen/Archiv/130930_tradreg.html
- 4 Directive 2004/24/EC of the European Parliament and of the Council of 31 March 2004 amending, as regards traditional herbal medicinal products, Directive 2001/83/EC on the Community code relating to medicinal products for human use
- 5 Komplementär- und Phytoarzneimittelverordnung (KPAV). Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die vereinfachte Zulassung und das Meldeverfahren von Komplementär- und Phytoarzneimitteln vom 7. September 2018
- 6 Helmstädter A, Staiger C. Traditionelle Anwendung: Eine Betrachtung zu pflanzlichen Arzneimitteln aus pharmaziehistorischer Sicht. Forsch Komplementärmed 2012; 19: 93-98
- 7 Jütte R. et al. Herbal medicinal products - Evidence and tradition from a historical perspective. J Ethnopharmacol 2017; 207: 220-225
- 8 Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG