Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(08): e42-e50
DOI: 10.1055/s-0043-100841
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Qualität und Inanspruchnahme von Kindervorsorgeuntersuchungen in Deutschland

Quality of and Attendance at Healthy Child Clinics in Germany
Alexandra Weithase
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Mandy Vogel
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Henriette Kiep
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Sarah Schwarz
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Laura Meißner
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Janine Herrmann
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Kristin Rieger
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Christiane Koch
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
,
Volker Schuster
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
,
Wieland Kiess
1   Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
2   LIFE Child Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, Universitätsklinikum Leipzig
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wieland Kiess
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
Liebigstraße 20a
04103 Leipzig

Publication History

Publication Date:
21 April 2017 (online)

 

Zusammenfassung

Hintergrund Kindervorsorgeuntersuchungen sind seit vielen Jahren eine geschätzte Präventionsmaßnahme und unterliegen einer ständigen Erweiterung. Die Inanspruchnahme hängt vom sozialen Status der Familien ab. Die Dokumentation erfolgt unter anderem im sogenannten Gelben Vorsorgeheft. Derzeit werden in Deutschland die erhobenen Daten nicht epidemiologisch genutzt oder die Präventionsmaßnahmen evaluiert.

Methoden Zwischen 2011 und 2016 wurden innerhalb der populationsgestützten Kohortenstudie LIFE Child in Leipzig 3480 Probanden rekrutiert. 90,6 % der Teilnehmer legten ein Gelbes Vorsorgeheft vor. Diese Hefte wurden gescannt und in eine digitale Eingabemaske übertragen. Kenngrößen zum Sozialstatus wurden mittels Soziodemografiefragebogen erhoben, woraus der Winkler-Index berechnet wurde. Die Studienpopulation wurde aus jeweils dem ältesten Kind pro Familie mit beiden vorliegenden Datensätzen (n = 1964) gebildet.

Ergebnisse Die Erfassung der Daten aus den Gelben Heften war zeit- und kostenintensiv. Dieser Aufwand ergab sich durch große Datenmengen, uncodierte Diagnosen sowie den Einsatz geschulter Mitarbeiter zum Übertragen der oftmals unleserlichen Handschriften. Die Auswertung der Inanspruchnahme zeigte insgesamt eine hohe Akzeptanz über alle Sozialschichten hinweg. Mit zunehmendem Lebensalter sanken die Teilnahmeraten ab. Zur U9 wiesen Probanden der unteren Sozialschicht die geringste Inanspruchnahme auf (83,0 %). Die Dokumentation der Zielkrankheiten im Gelben Heft war unplausibel. Die Häufigkeit der Angaben schwankte unerklärlich zu den verschiedenen Vorsorgezeitpunkten. Besonders diskrepant zeigte sich die Dokumentation von psychosozialen Auffälligkeiten, welche im gesamten Untersuchungszeitraum bei weniger als 2 % aller Probanden dokumentiert wurden.

Schlussfolgerung Aus den Häufigkeiten der in den Gelben Heften dokumentierten Befunde lässt sich die Prävalenz der Zielkrankheiten nicht ableiten. Um die Gelben Hefte auswertbar machen zu können, muss die Dokumentation verbessert werden. Deshalb ist eine Digitalisierung der Vorsorgeuntersuchungsbefunde anzustreben.


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Abstract

Background For several years the German healthy child clinics program has been a highly appreciated preventive measure and is subject to constant development. However, attendance depends on the families' sociodemographic situation. Findings are documented in a medical checkup booklet (the so-called Gelbes Heft). Currently, there is no procedure to use the data collected for epidemiological purposes nor to evaluate the pediatric prevention measures in Germany.

Methods Between 2011 and 2016, we recruited 3480 study participants for our population-based cohort study LIFE Child in Leipzig. 90.6 % submitted their check-up booklets which were subsequently scanned, the data was digitalized and transmitted to a computerized form. Furthermore, data on social status (so-called Winkler-Index) were collected for each family using a structured questionnaire. The study population consisted of the families' oldest child for whom both data sets were available.

Results The transmission of data from the check-up booklets was time-consuming and cost-intensive due to large datasets, uncoded diagnoses as well as the necessity of trained employees for transferring often illegible handwriting. Early diagnostic tests for children enjoy a high level of acceptance among all social classes. With increasing age, attendance rate decreases gradually. Only 83 % of the population with a lower social status attend the U9 test. The documentation of diagnoses in the check-up booklets was implausible because the frequency fluctuated heavily between the different check-up time points. With only less than 2 %, the documentation of psychosocial difficulties in a child was particularly surprising

Conclusion It is not possible to draw conclusions regarding the prevalence of target diseases from the frequency of documented findings in the check-up booklets. In order to make the data both comparable and evaluable, documentation must be digitalized in the future.


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Einleitung

Bereits seit 1971 sind die Kindervorsorgeuntersuchungen Bestandteil des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenkassen [1] [2]. Im Verlauf wurden immer weitere Untersuchungen ergänzt, zuletzt 2008 die U7a im Alter von 3 Jahren [3]. Im Rahmen der zehn Früherkennungsuntersuchungen (U1–U9) werden die Kinder bis zum Vorschulalter hinsichtlich ihrer altersgerechten körperlichen Entwicklung und Fähigkeiten in den Bereichen Motorik, Sprachentwicklung und Sozialverhalten untersucht. Die zu erfassenden Zielkrankheiten sind in den „Kinderrichtlinien“ des gemeinsamen Bundesausschusses von Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen aufgelistet [4]. Nach 10 Jahren Beratung wurden die Inhalte der Kinderrichtlinien 2015 vom Gemeinsamen Bundesausschuss neu geregelt und traten am 1.9.2016 in Kraft [5] [6]. Der Stellenwert der Eltern-Kind-Interaktion wurde neu bewertet, weil sozialpädiatrische Themen und emotionale Auffälligkeiten in den Praxen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Inhalte des Dokumentationsheftes wurden ebenfalls überarbeitet, wobei die Erfassung der neuen Morbiditäten und Instrumente zur Sozialanamnese nicht wie erhofft berücksichtigt wurden [7]. Ein weiteres Thema, an dem seit langem gearbeitet und geforscht wird, ist die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. Der Einfluss sozialer Schichtzugehörigkeit auf die Inanspruchnahme der präventiven Leistungen wurde wiederholt belegt [8] [9] [10] [11] [12]. Außerdem hängt die Teilnahmebereitschaft von weiteren soziodemografischen Faktoren, wie der Geschwisteranzahl oder dem Alter der Kinder oder der Eltern ab. Zur Verbesserung der Inanspruchnahme der Vorsorgeleistungen wurden in vielen Bundesländern Meldeverfahren eingerichtet [13].

Jede Vorsorgeuntersuchung und deren Ergebnisse sollen im Gelben Heft vom durchführenden Arzt dokumentiert werden. Ein Verfahren, das die Evaluation der erhobenen Daten ermöglicht, existierte bis Anfang der 90er-Jahre über das Zentralinstitut der Kassenärztlichen Vereinigung. Dieses Procedere wurde letztlich wegen unplausiblen und unzureichenden Ergebnissen beendet [3] [14]. Hochwahrscheinlich scheitert eine Qualitätssicherung heute immer noch aus demselben Grund wie in den 90er-Jahren, nämlich Unplausibilität und möglicherweise mangelndem Willen einzelner Interessenvertreter zu Transparenz und Qualitätssicherung. Dazu kommen finanzielle Aspekte und Zuständigkeitsfragen.

Inanspruchnahme und Qualität der Vorsorgeuntersuchungen können nur wissenschaftlich untersucht werden, wenn sie korrekt und vollständig dokumentiert werden. Präventionsstudien und Qualitätssicherung mit „epidemiologischer Nutzung der erhobenen Daten“ wurden wiederholt gefordert [7] [14]. Außerdem ist unklar, inwiefern die erfassten Daten im Gelben Heft überhaupt eine Aussage über die Kindergesundheit treffen können. Aus ethischen und ökonomischen Gesichtspunkten ist aber eine Qualitätssicherung und Evaluation der Präventionsmaßnahmen verpflichtend.

Als Ansatzpunkt zur Überprüfung der Effektivität der Untersuchungen wurden in dieser Studie an einer großen Stichprobe die Gelben Hefte herangezogen. Aufgrund der Individualität der Niederschriften im Gelben Heft war mit einer enormen Datenvielfalt zu rechnen, welche systematisch aufgearbeitet und ausgewertet werden musste. Ziel dieser Studie war es, die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen in Abhängigkeit vom Sozialstatus nach Winkler zu untersuchen. Es sollte zudem ein Verfahren zur Erfassung der Daten in den U-Heften erarbeitet werden, welches die dokumentierten Früherkennungsuntersuchungen U1–U9 systematisch auswertbar macht. Im zweiten Schritt sollten die erfassten Diagnosen entsprechend ihrer Häufigkeit nach Vorsorgezeitpunkt und Sozialstatus aufgeschlüsselt werden. Hierfür wurden Auffälligkeiten im Bereich der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung, des Hörens und des Sehens sowie psychosoziale Auffälligkeiten berücksichtigt. Die erfassten Daten aus den Gelben Heften sollten auf Plausibilität überprüft und damit beantwortet werden, ob Gelbe Hefte als Instrument zur Qualitätssicherung für Kindervorsorgeuntersuchungen dienen können und Rückschlüsse auf die Gesundheit der Kinder erlauben. Solch eine Analyse steht in Deutschland bisher noch nicht zur Verfügung.


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Material und Methoden

Im Rahmen der LIFE-Child-Studie, einem Projekt des „Forschungszentrums für Zivilisationserkrankungen“ der Universität Leipzig, werden bis zu 10 000 gesunde Kinder und Jugendliche im Alter von 0 – 18 Jahren und 2000 schwangere Frauen ab der 24. Schwangerschaftswoche aus dem Raum Leipzig untersucht. In weiteren Kohorten werden Jugendliche mit Übergewicht und mit psychischen Problemen untersucht [15]. Die LIFE-Child-Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Leipzig zugelassen (Reg. No. 264 -10- 19 042 010). Außerdem ist sie unter der Studiennummer NCT02 550 236 registriert.

Für die hier bearbeitete Fragestellung wurden 3480 Probanden eingeschlossen, von denen 90,6 % zum Stichtag 27.1.2016 ein Gelbes U-Heft vorlegten ([Abb. 1]). Gründe für ein Nichtvorlegen des Gelben Heftes waren neben Versäumnis auch mitgebrachte fremdländische Hefte. Die vorliegenden Gelben Hefte wurden gescannt und in eine auswertbare computerisierte Datenbank übertragen (n = 3154). Die Erfassung orientierte sich am Format des Gelben Heftes: Zur systematischen Erfassung der sehr variablen Einträge in den Diagnosen- und Bemerkungsfeldern wurde eine Diagnoseliste mit Mehrfachauswahl angelegt, die häufige Diagnosen im Kindes- und Jugendalter abfragte (z. B. Auffälligkeiten der psychosozialen, motorischen und sprachlichen Entwicklung, Auffälligkeiten des Sehens und des Hörens). Diese Auffälligkeiten sind keinesfalls im Sinne einer Diagnose nach gängigen Klassifikationssystemen zu verstehen und wurden für die vereinfachte Erfassung folgendermaßen definiert: „Psychosoziale Auffälligkeiten“ repräsentieren die Summe von Bemerkungen im Gelben Heft, die emotionale Auffälligkeiten beschrieben. Man kann diese Gruppe keiner allgemeingültigen Definition zuordnen, da Symptome verschiedener Dimensionen wie auffälliges soziales Verhalten, Bindungsstörungen, Hyperaktivität, Depression oder Vorstufen dieser Erkrankungen zusammengefasst wurden. Diese Entscheidung musste auch im Folgenden getroffen werden, da bei allen untersuchten Zielkrankheiten die Grenzwerte zwischen Normvariante, Auffälligkeit und Pathologie nicht klar definiert sind. Unter dem Begriff „Auffälligkeiten der Sprachentwicklung“ sind alle Bemerkungen zu verstehen, die auf ein auffälliges Ergebnis im Sprachtest hindeuteten, Hinweise auf logopädische Behandlung gaben oder sonstige Notizen zu Störungen der Sprach- und Sprechentwicklung [16]. Die Problemgruppe „Auffälligkeiten der motorischen Entwicklung“ fasst alle Niederschriften zusammen, die sich auf eine gestörte Entwicklung der Fein- und Grobmotorik bezogen. Im Speziellen sind das Hinweise auf Nichterreichen bestimmter Meilensteine wie Sitzen, Hochziehen, Laufen, Pinzettengriff oder auch Defizite der Grafomotorik. Zu „Hörstörungen“ zählen Bemerkungen über einen auffälligen Hörtest und sonstige Minderungen des Hörvermögens. Dasselbe gilt für „Sehstörungen“. Hierzu gehören ebenfalls Anhaltspunkte für eine Überweisung zum Augenarzt, Schielen, jegliche Minderung des Sehvermögens und auffällige Ergebnisse im Sehtest. Im Gelben Heft findet sich zu diesen Erkrankungen jeweils pro Untersuchung linksseitig eine Auflistung von Auswahlfeldern, die ebenfalls bei der Datenerhebung berücksichtigt wurden. Andere Diagnosen wurden, wenn nötig, in ICD-10 transformiert und ebenfalls festgehalten. Zur Vereinfachung der Erfassung erfolgte keine Unterscheidung zwischen Verdachts- und gesicherten Diagnosen.

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Abb. 1 Flussdiagramm zur Entstehung der untersuchten Stichprobe der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 mit den vorliegenden Datensätzen „Gelbes Heft“ und „Soziodemografiefragebogen“ (n = 1964).

Die soziodemografischen Merkmale wurden mittels Selbstausfüllerfragebogen erhoben. Dieser bildet die Grundlage zur Berechnung des Winkler-Index und enthält Fragen zu Schul- und Berufsausbildung, beruflicher Stellung und zum Haushaltsnettoeinkommen [17] [18] [19]. Diese drei Variablen (Schul- und Berufsausbildung gehören einer gemeinsamen Dimension an) werden in ordinale Skalen mit 7 Kategorien eingeteilt, welche die Punktwerte von 1 – 7 tragen. Je nach Ausprägung der jeweiligen Variable erhält der Proband dreimal einen Punktwert zwischen 1 und 7. Der Index wird anschließend gebildet, indem die Einzelwerte der genannten Faktoren addiert werden und kann einen Bereich von 3 – 21 Punkte umfassen. Mit dieser Methode wurden die Probanden in eine untere Sozialschicht (3 – 8 Punkte), in eine Mittelschicht (9 – 14 Punkte) sowie in eine hohe Sozialschicht (15 – 21 Punkte) eingeordnet. Ergab der Winkler-Index unter den Elternteilen unterschiedliche Werte, so wurde der höhere Wert zur Berechnung herangezogen. Um die Ergebnisse nicht durch den Einschluss mehrerer Kinder aus einer Familie zu verzerren, wurde aus allen Familien jeweils nur das älteste Kind in die Berechnungen einbezogen. Somit geht der soziale Status der Familie nur einfach in die Berechnungen ein. Anschließend wurden die Daten aus den Gelben Heften mit den soziodemografischen zusammengefügt. Der Datenfluss und die Zusammensetzung der Studienpopulation sind der [Abb. 1] zu entnehmen. Zur Auswertung wurden auch Kinder herangezogen, deren Alter die Toleranzgrenze der U9 oder früherer Untersuchungen noch nicht erreicht hatte. Deshalb lagen je Vorsorgezeitpunkt und sozialer Schicht verschiedene Fallzahlen vor ([Tab. 1]).

Tab. 1

Fallzahlen der untersuchten Stichprobe der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 je Vorsorgezeitpunkt und Sozialstatus mit den vorliegenden Datensätzen „Gelbes Heft“ und „Soziodemografiefragebogen“ (n = 1964).

Probanden

Vorsorgeuntersuchung

U1

U2

U3

U4

U5

U6

U7

U8

U9

Sozialstatus

  • niedrig

 290

 290

 290

 287

 279

 273

 264

 242

 230

  • mittel

 836

 836

 835

 831

 820

 803

 771

 700

 671

  • hoch

 838

 838

 838

 832

 816

 788

 745

 668

 633

gesamt

1964

1964

1963

1950

1915

1864

1780

1610

1534

Für die deskriptive und statistische Analyse wurde die Statistiksoftware R Version 3.2 verwendet [20]. Um zu überprüfen, ob ein signifikanter Zusammenhang besteht, wurde für kategoriale normalverteilte Daten der Chi-Quadrat-Test angewandt. Das Signifikanzniveau wurde auf α = 0,05 gesetzt. Im Post-hoc-Test sind anschließend die einzelnen Gruppenvergleiche durchgeführt worden. Um die Fehlerkumulierung bei multiplen Paarvergleichen zu neutralisieren, wurden die p-Werte nach der Methode nach Hommel korrigiert [21].


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Ergebnisse

Auswertbarkeit

Für eine computergestützte Auswertung der Daten aus den Gelben Heften war es zunächst nötig, die Dokumentation in eine digitale Form zu überführen. Eine 1:1-Übertragung der Daten war nicht realisierbar, da es sich bei der Dokumentation um handschriftliche Freitextangaben handelte ([Abb. 2]). Die daraus resultierende Datenvielfalt erforderte eine exakt auf die Fragestellung zugeschnittene Eingabemaske. Bei der Übertragung der handschriftlichen Dokumentation wurden folgende Probleme deutlich: Bei der Dokumentation in den Gelben Heften wurde häufig auf die geforderte Angabe des ICD-Codes verzichtet. Vielmehr wurde als Kompromisslösung das Bemerkungsfeld für Entwicklungsbeschreibungen und Diagnosen genutzt und dabei nicht zwischen Verdachts- und gesicherter Diagnose unterschieden. Dadurch entstand eine enorme Datenvielfalt, die im Rahmen dieser Studie nur selektiv, mit dem Fokus auf entwicklungsrelevante Informationen, erfasst werden konnte. Eine systematische Auswertung konnte weiterhin durch die Gruppierung ähnlicher Diagnosen erreicht werden. Für diesen Zuordnungsprozess war eine Vielzahl geschulter Mitarbeiter (Medizinstudenten, medizinische Dokumentationsassistenten und ärztliche Mitarbeiter) nötig, was die Auswertung zeitaufwendig und kostenintensiv machte. Ein weiterer Problempunkt war die „Übersetzung“ der oftmals schwer lesbaren Handschriften, wofür ausreichend medizinisches Knowhow und Nachschlagewerk für die Auswertenden nötig waren. Aktuell sind außerdem noch zwei Versionen von Gelben Heften im Umlauf, welche mit unterschiedlichen Formaten zur Komplexität der Auswertung beitrugen. Der Zeitaufwand für die Erfassung eines Gelben Heftes von U1–U9 mit sämtlichen Screenings betrug für geschulte Mitarbeiter 20 Minuten.

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Abb. 2 Kopie eines Bemerkungsfeldes im Gelben Heft aus dem Datenpool der LIFE-Child-Studie als Beispiel für die handschriftliche Dokumentation der Diagnosen.

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Inanspruchnahme

Die Studienpopulation bei LIFE Child war auffallend stark durch Ober- (42,7 %) und Mittelschicht (42,6 %) vertreten, die Unterschicht war im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert (14,7 %). Das Angebot der Früherkennungsuntersuchungen wurde von Kindern der LIFE-Child-Kohorte insgesamt sehr häufig genutzt. Bis zur U3 lag die Inanspruchnahme aller Probanden nahe 100 % ([Abb. 3]). Im Verlauf nahm die Inanspruchnahme mit zunehmendem Alter ab und zeigte beim niedrigen Sozialstatus einen steileren Abfall als in den anderen Sozialschichten. Zum ersten Lebensjahr stiegen die Teilnahmeraten aller Schichten leicht an und lagen auf annähernd gleich hohem Niveau (niedrige Sozialschicht 96,0 %, mittlere und hohe Sozialschicht 96,4 %). Bis zur U7 erreichte der Unterschied zwischen den Sozialschichten keine Signifikanz. Während die Inanspruchnahme der hohen Sozialschicht zur U9 immer noch sehr hoch war (92,4 %), fiel die der mittleren und niedrigen Sozialschicht bis zum 6. Lebensjahr unter die 90 %-Grenze (88,8 vs. 83,0 %). Kinder der niedrigen Sozialschicht wiesen damit zur U9 eine signifikant geringere Inanspruchnahme gegenüber der mittleren (p = 0,029) und hohen (p = 0,0003) Sozialschicht auf. Erst ab der U9 unterschieden sich auch mittlere und obere Schicht signifikant voneinander (p = 0,029). Der sozioökonomische Status einer Familie nimmt also mit zunehmendem Alter einen stärkeren Einfluss auf die Inanspruchnahme der Vorsorgeleistungen.

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Abb. 3 Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen U1–U9 der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 (n = 1964) gruppiert nach Sozialstatus nach Winkler-Index, im Vergleich zum Ergebnis der KiGGS-Basiserhebung [8].

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Häufigkeit dokumentierter Zielkrankheiten

Mit zunehmendem Alter der Kinder wurden Auffälligkeiten in der Entwicklung häufiger dokumentiert. Besonders eindrücklich zeigte sich dieser Trend bei Auffälligkeiten der Sprachentwicklung. [Abb. 4] zeigt die Dokumentationshäufigkeit ausgewählter Befunde zu den verschiedenen Vorsorgezeitpunkten. Darüber hinaus wurden diese Ergebnisse in Abhängigkeit zum Sozialstatus nach Winkler dargestellt. Bezüglich dieses Index fand sich zur Sprachentwicklung durchweg die häufigste Befunddokumentation bei Kindern der niedrigen Sozialschicht. Zur U7 wurde der Unterschied erstmals signifikant gegenüber hoher (p = 0,02) und mittlerer Sozialschicht (p = 0,01). Mit 13,1 % ist die Dokumentationshäufigkeit bei Kindern der niedrigen Sozialschicht zur U8 fast doppelt so hoch wie in den anderen Sozialschichten. Zwischen Probanden der mittleren und oberen Sozialschicht konnte zu keinem Untersuchungszeitpunkt ein signifikanter Unterschied festgestellt werden.

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Abb. 4 Häufigkeit der Dokumentation ausgewählter Entwicklungsauffälligkeiten in den Gelben Heften der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 (n = 1964) je Vorsorgezeitpunkt und Sozialstatus: a) Auffälligkeit der Sprachentwicklung, b) Auffälligkeit der motorischen Entwicklung, c) Auffälligkeit des Sehens, d) Auffälligkeit des Hörens, e) psychosoziale Auffälligkeiten.

Eine Besonderheit zeigte der Dokumentationsverlauf motorischer Auffälligkeiten. Die Häufigkeit dieser Diagnose nahm mit steigendem Alter und sozialer Schwäche der Familien zu. Dieser Trend wurde zur U7 durch ein Minimum der Dokumentationshäufigkeit unterbrochen, welches sich gleichermaßen in allen sozialen Schichten zeigte. So fiel die Kurve der niedrigen Sozialschicht zwischen U6 und U7 von 3,1 auf 0,3 % und stieg zur U8 auf 4,5 % an. Zur U9 fand sich in den Gelben Heften bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischen Status mit 4,8 % am häufigsten die Dokumentation motorischer Entwicklungsauffälligkeiten, mittlerer und hoher Sozialstatus waren dagegen mit 3,8 und 1,8 % seltener betroffen. Signifikant waren diese Unterschiede zwischen mittlerem und hohem bzw. niedrigem und hohem Sozialstatus (p = 0,01).

Auffälligkeiten des Hörens und Sehens wurden in den Gelben Heften ähnlich häufig dokumentiert. Unterschiede zwischen den Sozialschichten waren zu keinem Untersuchungszeitpunkt signifikant. Es fiel auf, dass bis zur U7 in allen Sozialschichten nahezu keine Hörstörungen (< 1 %) dokumentiert wurden, aber zur U8 die Häufigkeit abrupt anstieg. Diese Beobachtung konnte ebenfalls bei Herabsetzungen des Sehvermögens gemacht werden. Zur U9 wurde bei 2,0 % (Höchstwert) der niedrigen Sozialschicht eine Hörstörung dokumentiert. Minderungen des Sehvermögens wurden beispielsweise zur U7 bei keinem Kind mit niedrigem Sozialstatus dokumentiert. Zur U9 fiel aber gerade diese Sozialschicht mit einem Befundmaximum von 3,1 % auf.

Psychosoziale Auffälligkeiten wurden in den Gelben Heften im gesamten Untersuchungszeitraum bei nur unter 2 % aller Probanden dokumentiert. Die häufigsten Dokumentationen zu Merkmalen dieser Gruppe fanden sich im 5. und 6. Lebensjahr im Gelben Heft von Probanden der niedrigen Sozialschicht (U9 1,7 %). Zur U9 wurden bei Kindern der mittleren und hohen Sozialschicht mit 1,1 bzw. 0,4 % sehr selten psychosoziale Auffälligkeiten dokumentiert.


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Diskussion

Der Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Inanspruchnahme der Kindervorsorgeuntersuchungen konnte durch die LIFE-Child-Studie bestätigt werden. Das Alter der Kinder schien in den ersten Lebensjahren einen stärkeren Einfluss auf die Inanspruchnahme zu nehmen als die soziale Schichtzugehörigkeit. Signifikante Unterschiede ließen sich im Vergleich zu KiGGS, einer Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, nur in höheren Lebensjahren (ab U8) feststellen [23]. In dieser Zeit (im 4. Lebensjahr bzw. vor Schuleintritt) finden in der Regel die Kita- und Schuleingangs-untersuchungen durch das Gesundheitsamt statt, die aber keine Vorsorgeuntersuchungen ersetzen.

Die Studienpopulation bei LIFE Child enthielt einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Kindern der hohen und mittleren Sozialschicht ([Tab. 2]). Das ging aus einem Vergleich mit der KiGGS-Studienpopulation (Basiserhebung) als auch der Bevölkerungsstruktur der Stadt Leipzig hervor [24] [25]. Die Inanspruchnahme der LIFE-Child-Studienpopulation lag im gesamten Verlauf über der KiGGS-Kurve [8]. Obwohl die untere Sozialschicht in der LIFE-Child-Population unterrepräsentiert war, reichte ihr Einfluss, um die Inanspruchnahme der anderen Sozialschichten insgesamt zu reduzieren. Ferner konnte durch dieses Bias der starke Einfluss sozialer Schichtzugehörigkeit gezeigt werden. Durch die Einführung des verbindlichen Einladewesens wurde in vielen Bundesländern versucht, die Teilnahmebereitschaft an der Vorsorgeleistung zu erhöhen [13]. In Schleswig-Holstein konnte dadurch 2011 zu den Schuleingangsuntersuchungen eine Inanspruchnahme der U9 von 96,7 % ausgemacht werden [12]. Dieser Wert liegt mit 4,3 % sogar über dem Ergebnis der oberen Sozialschicht der LIFE-Child-Kohorte. In Sachsen trug das Gesetz angeblich nicht maßgeblich zur Verbesserung der Inanspruchnahme bei, sodass es zum 5.7.2015 ohne Verlängerung auslief [26].

Tab. 2

Verteilung der Studienpopulation der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 (n = 1964) nach Sozialstatus im Vergleich zu Ergebnissen der KiGGS-Basiserhebung in Prozent [24].

Sozialstatus

Familien (%)

LIFE Child

n = 1964

KiGGS

n = 17 142

niedrig

14,7

27,5

mittel

42,6

45,4

hoch

42,7

27,1

Nach sorgfältiger Aufarbeitung der Niederschriften in den Gelben Heften konnten erstmals auch die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchungen untersucht werden. Die Dokumentation von Entwicklungsauffälligkeiten zeigte sowohl zwischen den Untersuchungszeitpunkten als auch im Vergleich zu Literaturangaben Unstimmigkeiten. Es ist davon auszugehen, dass hierfür verschiedene Faktoren zusammengewirkt haben, die anhand der einzelnen Zielkrankheiten diskutiert werden sollen.

Auffälligkeiten der Sprachentwicklung wurden zur U8 abhängig vom Sozialstatus zwischen 6,0 und 13,1 % in den Gelben Heften dokumentiert. Diese Werte liegen mit mehr als 20 % unterhalb des Resultats der KiTa-Untersuchung 2013 der Stadt Leipzig. Laut KiTa-Untersuchung weise mehr als jedes dritte Kind eine Sprachentwicklungsverzögerung auf [27]. Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung berichtete, dass bei Entwicklungsverzögerungen tendenziell überdiagnostiziert wird. Demnach würde die Hälfte der Kinder vornehmlich im Bereich der Sprach- und Sprechkompetenz in manchen Tests als auffällig gelten [28]. Dafür spräche außerdem die zunehmende Anzahl der verordneten logopädischen Behandlungen bei Kindergartenkindern laut dem Heilmittelbericht der AOK von 2014 [29]. Hier stellt sich die Frage, mit welchen Instrumenten Auffälligkeiten der Sprachentwicklung in den Vorsorgeuntersuchungen diagnostiziert werden und wie der Kinderarzt diese Ergebnisse bewertet. Um Kinder mit Normvarianten der Entwicklung nicht unnötig zu pathologisieren und zu behandeln, sollten die Begrifflichkeiten einheitlich definiert und voneinander abgrenzbar sein. Deshalb darf angenommen werden, dass das Ergebnis der KiTa-Untersuchungen sowie die Häufigkeit in den U-Heften nicht als Referenz zu bewerten sind, sondern der wahre Wert möglicherweise in der Mitte dieser Angaben liegt. Bereits hier wird deutlich, dass nicht standardisierte Untersuchungen zu differenten Ergebnissen führen. Werden diese dann auch noch lückenhaft dokumentiert, sind die Angaben für eine nachträgliche Evaluation unbrauchbar.

Ähnliche Resultate fanden sich beim Vergleich der Dokumentation von Sehstörungen aus den Gelben Heften mit den Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen aus Schleswig-Holstein 2012 (32,6 %) und den KiTa-Untersuchungen in Leipzig 2013 (19,9 %) [12]. Die niedrige Sozialschicht der LIFE-Child-Kohorte wies mit 3,1 % (U9) eine auffallend geringere Häufigkeitsangabe auf als die amtlich geführten Untersuchungen. Eine mangelnde Compliance scheint keine Ursache für derart niedrige Vermerke in den Gelben Heften zu sein, da bei unter 5 % dieser Kinder bei der Untersuchung „keine oder unsichere Mitarbeit“ vermerkt wurde [27]. Beide Literaturangaben verweisen auf ähnliche Größenordnungen der Prävalenz, deshalb fehlen in den Gelben Heften offenbar Angaben zum Sehvermögen. Bei Seh- und Hörstörungen visualisieren auch unplausible Dokumentationsverläufe, dass in den Gelben Heften wichtige Angaben fehlen. Der Großteil dieser Erkrankungen wurde nicht vor der U8, also dem 5. Lebensjahr dokumentiert. Auffälligkeiten des Sehens sind zu vorherigen Zeitpunkten in unter 1 % der Gelben Hefte dokumentiert worden. Damit erlaubt diese Dokumentation keine Aussage über die Prävalenz oder die Qualität des Sehscreenings. Über die Ursache der plötzlich ansteigenden Dokumentation in den Gelben Heften lässt sich nur mutmaßen. Als Fehlerquellen würden die Mitarbeit der Kinder, ein Fehlen von diagnostischen Instrumenten und die anschließende mangelhafte Dokumentation in Betracht bekommen. Eine Studie zum Sehscreening bei Kinderärzten untersuchte diese Problempunkte, indem drei der vorgeschlagenen Tests für Vorsorgeuntersuchungen mit einem ophthalmologischen Befund verglichen wurden. Je nach Test verweigerten 3 – 10 % der Kinder die Mitarbeit, zum Teil wurde ungenau dokumentiert oder die Untersuchung fehlerhaft durchgeführt. Letzten Endes wurden nur 10 % der visuell auffälligen Kinder rechtzeitig herausgefiltert [30].

Inwiefern bei psychosozialen Auffälligkeiten Fehler in der Dokumentation oder der Diagnostik vorlagen, die zu einer Dokumentationshäufigkeit von unter 2 % führten, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Bei der Diagnostik psychosozialer Auffälligkeiten spielt es sicher eine große Rolle, ob sich der Untersuchende überhaupt Zeit für die entsprechenden Fragen nimmt. Dabei kann die Anamnese beispielsweise durch Elternfragebogen, wie dem Mannheimer Elternfragebogen, unterstützt werden [31]. Aber auch deren Einsatz ist freiwillig und noch nicht in den Kinderrichtlinien fest etabliert. Bei LIFE Child wurde parallel zu dieser Studie die Prävalenz von emotionalen Auffälligkeiten mittels des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) untersucht. Dabei waren 21,4 % der Kinder zwischen 2,5 – 11,9 Jahren (n = 1202) in der Subskala „emotionale Probleme“ auffällig bzw. grenzwertig auffällig [32]. Ähnliche Tendenzen ergaben sich unter Berücksichtigung aller Symptomskalen des SDQ in der KiGGS-Studie. Demnach wiesen zwischen 7,2 % (auffällig) und 14,7 % (grenzwertig und auffällig) der untersuchten Kinder und Jugendlichen psychische Probleme auf [33]. Außerdem konnte in beiden Studien gezeigt werden, dass ein hoher sozioökonomischer Status protektiv auf psychische Probleme wirkt. Obwohl eine direkte Vergleichbarkeit dieser Ergebnisse mit den Angaben in den Gelben Heften nicht gegeben ist, verweisen diese Prävalenzen aufgrund der hohen Diskrepanz auf Datenlücken in den Gelben Heften. Dass Krankheiten richtig erkannt werden können, ist aber grundlegende Voraussetzung zur Dokumentation und anschließenden Evaluation. Deshalb müssen standardisierte Tests zur Verfügung stehen, die einheitliche Kriterien abfragen und objektiv und valide sind. Die Variabilität der Ausdrucksweisen in den Gelben Heften führt zu der Annahme, dass derzeit eine Vielzahl verschiedener Erhebungsinstrumente genutzt werden. Bisher wählt jeder Facharzt die Untersuchungsmethoden für die einzelnen Zielkrankheiten individuell. Um eine nachträgliche Evaluation und Vergleichbarkeit der erhobenen Daten zu ermöglichen, sollte an der Vereinheitlichung der Screeninginstrumente gearbeitet werden. So ließe sich möglicherweise eine Erklärung für die Ursache des Dokumentationsminimums der motorischen Entwicklungsverzögerung zur U7 finden. Da im Gelben Heft nicht angegeben wird, auf welchem Test die angegebene Gesundheitsstörung beruht, kann im Nachhinein aus der Dokumentation auf keine Fehlerquelle geschlossen werden. Es ist natürlich auch möglich, dass Erkrankungen sehr wohl festgestellt und auch behandelt werden, jedoch keine Dokumentation im Gelben Heft erfolgt. Ein langfristiges Ziel sollte deshalb die klare und verbindliche Regelung der Vorsorgeuntersuchungen als Ganzes sein. Es sollte klar werden, welche Untersuchung in welcher Art zu welcher Aussage und zu welcher Maßnahme führt. Die Kinderrichtlinien überlassen dem Untersuchenden immer noch zu viele Möglichkeiten in der Art der Durchführung und Interpretation der Ergebnisse.

Im Juni 2015 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss nach zehn Jahren Beratungen die Neustrukturierung der Kinderrichtlinien sowie die Überarbeitung des Gelben Vorsorgeheftes [5]. Diese am 1.9.2016 in Kraft getretenen neuen Anforderungen an die Kindervorsorgeuntersuchungen können einigen der angesprochenen Kritikpunkte begegnen. Ein wichtiges Ergebnis ist beispielsweise die Beschreibung von Untersuchungsmethoden zur Prüfung des Sehvermögens. Zwar stellen diese im Vergleich zur Vorversion der Richtlinie detaillierteren Angaben eine Verbesserung dar. Dennoch ist damit immer noch keine Standardisierung oder Vereinheitlichung erreicht. Die stärkere Berücksichtigung der psychosozialen Entwicklungsauffälligkeiten mit dem Einsatz von Elternfragebogen wurde entgegen den Forderungen des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte abgelehnt. Wie gezeigt werden konnte, liegt gerade die Dokumentation von Auffälligkeiten der psychosozialen Entwicklung weit unter der tatsächlichen Prävalenz.

Neben dem Ansatzpunkt, die Diagnosestellung zu erleichtern und zu verbessern, wurde gleichfalls das Dokumentationsheft überarbeitet. Mit der formalen Neustrukturierung des Gelben Heftes wird nun eine ausführlichere Version mit neuen Inhalten ausgegeben. Die bisher verwendeten Hefte sollen nach und nach aussortiert werden. Ob das neue Heft den angesprochenen Problemen gerecht werden kann und ob es gar übersichtlicher, vollständiger und lesbar ausgefüllt wird, bleibt abzuwarten.

Aus der Datenfülle im Gelben Heft konnten in dieser Studie nur selektiv Informationen erfasst und untersucht werden. Um die Auswertung der Gelben Hefte zu erleichtern, muss klar definiert sein, welche Informationen in welcher Form ins Gelbe Heft gehören. Außerdem sollten die Adressaten dieser Informationen bekannt sein. Für die behandelnden Ärzte darf es kein Hindernis sein, ob Eltern, Ärzte, Versicherungen oder auch Kindertagesstätten auf die Informationen zugreifen möchten. Eine „zurückhaltende“ Dokumentation führt zum Informationsverlust und zweckentfremdet das Gelbe Heft. Um die persönlichen Daten zumindest bei der Herausgabe an Dritte zu schützen, gibt es im neuen Gelben Heft eine herausnehmbare Karte, die die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen bestätigt. Um die Probleme im Umgang mit multivariablen Handschriften zu umgehen, sollte dringend an der Digitalisierung der Gelben Hefte gearbeitet werden. Bereits 1995 wurden Möglichkeiten und Grenzen diskutiert, auch Daten der Vorsorgeleistungen auf Chipkarten zu speichern, um beispielsweise die Dokumentationsqualität zu erhöhen [34]. Die Einführung von standardisierten Untersuchungen kann dann gemeinsam mit der Digitalisierung zu sauber dokumentierten, vergleichbaren und auswertbaren Ergebnissen führen, die die Grundlage für ein Qualitätsmanagement bilden.

Erfreulicherweise ist in der Neufassung der Kinderrichtlinien eine Qualitätsüberprüfung vorgesehen, die die Einhaltung der vorgegebenen Standards in der Kinderrichtlinie überprüfen soll. Ein unabhängiges wissenschaftliches Institut soll spätestens 2 Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie evaluieren, ob Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern rechtzeitig entdeckt und behandelt werden. Dieser neue wichtige Schritt ist sehr zu begrüßen und sollte durch ein konsequentes Qualitätsmanagement fortgeführt werden.

Die vorliegende Arbeit liefert erstmals Erkenntnisse über die Dokumentationsqualität und den Informationsgehalt der Gelben Hefte auf wissenschaftlicher Basis. Damit konnte Einsicht in die Vielschichtigkeit der Ursachen für Dokumentationslücken genommen werden. Da die Dokumentation der Gelben Hefte nach den vorliegenden Daten unplausibel ist, ist davon auszugehen, dass eine Evaluation der Kindervorsorgeuntersuchungen auf Basis der Gelben Hefte nicht möglich oder zumindest fehlerhaft ist.

Kernaussagen
  • Offensichtlich haben Kinder der unteren Sozialschicht die niedrigste Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen, aber die häufigsten Befunddokumentationen.

  • Aus diesem Grund sollte weiterhin daran gearbeitet werden, die Teilnahmebereitschaft zu erhöhen, um gerade Familien aus niedrigen Sozialschichten besser erreichen zu können.

  • Die Gelben Hefte stellen derzeit keine Datengrundlage dar, um Prävalenzen zu erheben oder die Qualität der medizinischen Versorgung von Kindern zu evaluieren.

  • Zur besseren Vergleichbarkeit sind systematisierte Untersuchungsabläufe und standardisierte Testverfahren der Zielkrankheiten notwendig.

  • Eine elektronische Dokumentation sollte verbindlich umgesetzt werden.

  • Die in der Neufassung der Kinderrichtlinien vorgesehene Qualitätsüberprüfung sollte als permanentes Qualitätsmanagement fortgeführt werden.


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No conflict of interest has been declared by the author(s).


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Wieland Kiess
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Zentrum für Pädiatrische Forschung, Universitätsklinikum Leipzig
Liebigstraße 20a
04103 Leipzig


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Abb. 1 Flussdiagramm zur Entstehung der untersuchten Stichprobe der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 mit den vorliegenden Datensätzen „Gelbes Heft“ und „Soziodemografiefragebogen“ (n = 1964).
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Abb. 2 Kopie eines Bemerkungsfeldes im Gelben Heft aus dem Datenpool der LIFE-Child-Studie als Beispiel für die handschriftliche Dokumentation der Diagnosen.
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Abb. 3 Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen U1–U9 der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 (n = 1964) gruppiert nach Sozialstatus nach Winkler-Index, im Vergleich zum Ergebnis der KiGGS-Basiserhebung [8].
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Abb. 4 Häufigkeit der Dokumentation ausgewählter Entwicklungsauffälligkeiten in den Gelben Heften der LIFE-Child-Kohorte Leipzig 2011 – 2016 (n = 1964) je Vorsorgezeitpunkt und Sozialstatus: a) Auffälligkeit der Sprachentwicklung, b) Auffälligkeit der motorischen Entwicklung, c) Auffälligkeit des Sehens, d) Auffälligkeit des Hörens, e) psychosoziale Auffälligkeiten.