physiopraxis 2017; 15(05): 39-43
DOI: 10.1055/s-0043-101655
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Lorimer Moseley im Interview – „Wenn ich könnte, würde ich die Phrase der rausgerutschten Bandscheibe abschaffen“

Nils Runge

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Publication Date:
19 May 2017 (online)

 

    Er ist Physiotherapeut und mit seinem Konzept „Explain Pain“ weltweit als Schmerzexperte bekannt. Wie in seinen Kursen plaudert Lorimer Moseley auch im Interview aus dem Nähkästchen und fordert, dass Therapeuten ihre Patienten über Schmerz aufklären und unbedingt darauf achten, welche Worte sie dabei wählen.


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    Nils Runge

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    Nils Runge ist Physiotherapeut, BSc, und arbeitet in einer Praxis in der Nähe von Freiburg im Breisgau. In seiner Arbeit interessiert er sich sehr für die Behandlung von Patienten mit persistierenden Beschwerden. Schon im Sommer 2016 war er vom Vortrag bei Lorimer Moseley in Stuttgart total begeistert und wird auch in diesem Jahr wieder dabei sein.

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    Abb.: e-fobi

    Lorimer, in deinen Kursen erklärst du komplexe Sachverhalte anhand von Anekdoten aus deiner Arbeit. Welche Patientengeschichte hat dich am meisten beeinflusst?

    Es ist schwer, eine bestimmte Geschichte herauszustellen, da viele von ihnen einen großen Einfluss auf mich und meine Arbeit hatten. Ich denke aber an einen jungen Patienten aus den frühen Neunzigern, ein Krokodiljäger. Er hatte eine Lendenwirbelsäulen-Operation mit Versteifungen auf drei Höhen und war so eingeschränkt, dass er im Rollstuhl saß. Ich sprach mit ihm in etwa im Sinne des „Explain Pain“ (HINTERGRUND, S. 42), aber es war eben in den frühen Neunzigern, und die Methodik dazu entwickelt sich ja gerade erst.

    Wie ging es mit dem Krokodiljäger weiter?

    Zehn Jahre später besuchte er mich bei meiner Arbeit, obwohl wir mittlerweile tausende Kilometer voneinander entfernt wohnten. Er brachte eine Glasbox mit, in der eine kleine rote Geleebohne war. Er erinnerte mich an seine Geschichte und erklärte mir, was es mit dieser Bohne auf sich hat. Während seiner Genesung war ihm klar geworden, dass das Bild, welches er von seinem eigenen Rücken hatte, den Schmerz erhalten hatte. Begonnen hatte das Ganze, als er bei seinem Chirurgen war und dieser ihm ein Modell einer Halswirbelsäule mit der Geleebohne als Bandscheibenvorfall zeigte. Dieses Ding hatte daraufhin sein Leben verändert, da er deshalb und wegen vieler Kommentare wie „verrutschte Bandscheibe“ und Ähnlichem ein negatives Bild von seiner Wirbelsäule bekommen hatte. Als er das erkannte, fuhr er zu seinem Chirurgen und entfernte mit einem Messer – sehr beängstigend – diese Geleebohne von dem Modell. Er packte sie in eine Glasbox als Geschenk für mich, das er mir mit Tränen in den Augen überreichte. Er sagte, wenn er all die Sachen über Schmerz schon früher gewusst hätte, wäre er niemals in diese Situation gekommen. Ich hatte ihm lediglich die Augen geöffnet für die unglaubliche Arbeit von hunderten Wissenschaftlern.

    Über die Methode „Explain Pain“ kursieren viele Missverständnisse. Was ist „Explain Pain“ für dich?

    Für mich ist „Explain Pain“ oder Pain Neuroscience Education eine Auswahl von Strategien, um Menschen die biologischen Mechanismen von Schmerz zu erklären oder ihre bisherigen Annahmen zu verändern. Und das vor allem – aber nicht zwangsläufig – bezogen auf chronischen Schmerz. Jede Intervention, die auf einem biopsychosozialen Verständnis von Schmerz basiert, sollten Therapeuten mit „Explain Pain“ vorbereiten.

    Welche Probleme siehst du bei Therapeuten, die „Explain Pain“ nutzen?

    Ich denke, „Explain Pain“ wird häufig trivialisiert. Viele Leute glauben, es reicht, wenn sie das Buch „Schmerzen verstehen“ lesen oder ihre eigene Version davon schreiben. Wenn wir aber nicht verstehen, wie viel Forschung, multimediales Design und Lehrmethodik dahinterstehen, können wir keinen guten Job machen. Die Leute müssen sich Gedanken darüber machen, was sie erklären wollen, und planen, wie sie es tun werden.

    Warum glaubst du, dass viele Therapeuten nicht erkennen, wie schwer es ist, „Explain Pain“ passend anzuwenden?

    Ich denke, das größte Problem ist, dass die Leute nicht wirklich verstehen, was „Explain Pain“ ist. Es geht um die Biologie von Schmerz und nicht darum, Patienten zu sagen: „Ihr Schmerz ist nicht real“ oder „Es ist alles nur in Ihrem Kopf“. Diese einfache, aber komplett falsche Erklärung liegt nahe, wenn man nicht versteht, welchen Änderungsprozess die Patienten in ihrer Denkweise durchlaufen müssen und dass wir Physiotherapeuten die Prozesse verändern, wie Gehirnzellen arbeiten und zusammenarbeiten.

    Ein Verständnis für die Schmerzphysiologie und -wissenschaft zu entwickeln ist extrem wichtig für jeden Therapeuten. In Deutschland macht dieser Bereich jedoch nur einen sehr kleinen Teil in der Grundausbildung aus. Wie sieht die aktuelle Situation in Australien aus?

    Hier in Australien ist es sehr unterschiedlich, wie viel Schmerzphysiologie und -management an den Universitäten unterrichtet wird, aber es wird immer mehr. Bei uns an der University of South Australia und auch an anderen Orten werden die Studierenden zunehmend mehr in diesen Themen ausgebildet. Ich weiß, dass es sich in Europa ähnlich entwickelt.

    Dass es immer mehr Forschung zu Schmerzphysiologie und -management gibt, zeigt, dass dieses Thema jetzt erst richtig anläuft. Es wird oft beschrieben, dass es mindestens ein Jahrzehnt dauert, bis Evidenz in Universitätskurse integriert wird. Aber es bewegt sich schon etwas. Die Universitäten sind extrem bemüht, Pain Neuroscience Education in ihre Programme zu integrieren, da sie verstanden haben, dass Therapeuten mit diesem Wissen einfach besser sind.

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    ABB. 1 Immer ein Highlight: Lorimer Moseley ist auf der ganzen Welt unterwegs, um Vorträge über das Konzept „Understand and Explain Pain“ zu halten.
    Abb.: e-fobi

    „Unser Gehirn schützt uns mit Schmerzen, wenn es glaubt, dass wir geschützt werden sollten.“

    Lorimer Moseley ist Professor für Clinical Neuroscience und Physiotherapie an der Universität von South Australia. Er veröffentlichte vier Bücher und mehr als 200 Artikel und Studien. Über 10.000 Gesundheitsfachleute unterrichtete er bisher in “Pain Education” im Rahmen von mehr als 140 Vorträgen in über 30 Ländern. Sein Steckenpferd ist die Rolle des Gehirns und des Verstandes bei chronischen Schmerzen.

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    ABB. 2 Ein gutes Team: Lorimer Moseley und Dennis Kraus (links) von e-fobi, die gemeinsam Kurse in Deutschland auf die Beine stellen
    Abb.: e-fobi

    Es gibt viele Phrasen und Metaphern, um Patienten ihre Problematik zu erklären. Welche von diesen würdest du sofort abschaffen, wenn du könntest?

    (lacht) Wenn ich könnte, würde ich die Phrase der herausgerutschten Bandscheibe abschaffen. Es wäre super, wenn wir diese aus dem allgemeinen Sprachgebrauch entfernen könnten. Außerdem würde ich alles, was wir sagen, durch einen Filter laufen lassen. Dieser prüft, ob das, was wir sagen, dem entspricht, was auch tatsächlich passiert, und ob das Gesagte für den Patienten eher ein Hinweis auf Gefahr oder auf Sicherheit ist. Ein Beispiel: Das Wort Verschleiß ist für die meisten Menschen ein Hinweis auf Gefahr, und das ist nicht korrekt. Bis auf ein paar Ausnahmen ist meist nichts gerissen oder abgenutzt. Oft hat sich etwas nur an die Ansprüche, die an die Struktur gestellt wurden, angepasst. Nichts, was Menschen jemals hergestellt haben – nicht einmal deutsche Autos –, ist in der Lage, sich in Echtzeit an Anforderungen anzupassen. Unser Körper, unser Nerven- und Immunsystem, dagegen kann das. Wir sollten diese Fakten in Metaphern einbinden und nicht den pathologischen, inkorrekten Kram.

    Oft heißt es, dass diese Erklärungen „nur Metaphern“ seien, um Patienten komplexe Sachverhalte leichter zu verdeutlichen, und dass sie keinen negativen Einfluss haben. Was ist deine Meinung dazu?

    Bloß weil es eine Metapher für etwas anderes ist, bedeutet es nicht, dass es nicht wichtig ist. Es gibt großartige Forschung zu diesem Thema, auf die ich auch bei meinem Kurs in Stuttgart eingehen werde.

    In einer Studie beispielsweise brachten Wissenschaftler Probanden in eine Situation, in der diese misstrauisch wurden („Something smells fishy“). Sie bekamen verschiedene Düfte zum Riechen, und es fiel ihnen in dieser Situation deutlich leichter, den Geruch von Fisch zu erkennen. Zudem fanden die Autoren heraus, dass Personen in Räumen, die nach Fisch riechen, eher misstrauisch wurden. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist, dass die Metapher „Something smells fishy“, welche in unserem Sprachraum für „Etwas ist verdächtig“ steht, in den Gehirnzellen und -verbindungen eingebettet ist. Ich finde es unglaublich faszinierend, dass wir mit dieser Metapher Gehirnprozesse beeinflussen können. Ich habe keine Studien mit der Bandscheibenmetapher gemacht oder gelesen, aber ich würde wetten, dass auch diese die Gehirnprozesse beeinflusst.

    „Wenn etwas nicht passiert, sollte ich es dem Patienten gegenüber auch nicht andeuten.“

    Welche Informationen sollten wir unseren Patienten also anstatt der negativen Metaphern bei der ersten Behandlungseinheit mitgeben?

    Ich denke, die wichtigste Information ist, dass Schmerz ein Schutzsignal ist. Wenn wir Schmerzen haben, dann bedeutet das wirklich immer, dass unser Gehirn uns schützen will. Wir empfinden Schmerzen, damit wir uns nicht verletzen, nicht erneut verletzen oder die Gewebeheilung verhindern. Nicht, um uns zu sagen, dass wir uns schon verletzt haben. Es klingt vielleicht unwichtig, aber es ist grundlegend und entspricht einer völlig anderen Betrachtungsweise von Schmerz.

    Wir sollten den Patienten deutlich machen, dass Schmerz kein Maßstab für den Zustand unseres Gewebes ist. Ich denke, die meisten Menschen haben ein System mit der Kapazität, mit einer Vielzahl von Situationen umzugehen und zu genesen. In manchen Fällen aber müssen wir Therapeuten aktiv werden, um Feedback zu Bewegung und Lebensstil zu geben oder der Muskulatur wieder zu zeigen, wie sie arbeiten soll.

    Es gibt aktuelle Studien von Adrian Louw, David Butler und anderen, die „Explain Pain“ in einem präoperativen Setting untersuchen. Die Resultate scheinen sehr vielversprechend. Wie groß könnte deiner Meinung nach der Einfluss von „Explain Pain“ bei Operationen oder auch bei anderen Problematiken sein, welche oft als primär nozizeptive Schmerzsituationen gelten?

    Ich sehe keinen Unterschied zwischen diesen Zuständen und irgendwelchen anderen. Denn „Explain Pain“ möchte die Leute nicht davon überzeugen, dass Schmerz nichts mit ihrem Gewebe zu tun hat. Es geht darum, den Menschen ein möglichst genaues Verständnis davon zu geben, wie ihr System – nach aktuellem Wissensstand – funktioniert. Welche Gewebeproblematik vorliegt, spielt keine Rolle. Bei Operationen wissen wir, dass wir eine Aktivierung von Nozizeptoren sowie einen ziemlich gut einzuschätzenden entzündlichen Verlauf haben. Ansonsten weiß man, dass die Nozizeptoren nach einer gewissen Zeit wieder aufhören, zu feuern. Aber es ist ebenfalls bekannt, dass sich Schmerz auf Grundlage dessen, was an den Nozizeptoren geschieht, nicht gut vorhersagen lässt, nicht einmal in einem postoperativen Setting.

    Einige Studien, in die ich klinisch mit „Explain Pain“ involviert war, untersuchten den Einfluss dieser Intervention bei Patienten mit Rheumatoider Arthritis, Krebs und komplexem regionalem Schmerzsyndrom. Alle diese Erkrankungen haben Situationen mit sehr schwer zu beeinflussenden primär nozizeptiven Faktoren. Doch die Evidenz ist überwältigend, dass es selbst dann um die Bedeutung des Ganzen geht. Dein Gehirn wird dich schützen, wenn es glaubt, dass du geschützt werden solltest.

    Häufig kommt bei Patienten mit chronischen Schmerzen Manuelle Therapie zum Einsatz. Kritiker sagen, diese unterstütze ein sehr strukturfixiertes Modell von Schmerz und sollte deshalb nicht genutzt werden. Wie sollten wir passive Maßnahmen bei diesen Patienten optimal einsetzen?

    Wir wissen, dass Manuelle Therapie viele verschiedene Effekte auf die Biologie des Menschen hat. Es ist bekannt, dass antinozizeptive Mechanismen aktiviert werden, und man weiß heutzutage viel darüber, wie dies funktioniert. Hinzu kommen starke psychologische Faktoren. Um Manuelle Therapie bei diesen Patienten optimal anwenden zu können, ist es wichtig, ihnen ein passendes Erklärungsmodell zu geben. Ich ermutige alle, die mit Manueller Therapie behandeln, sich damit auseinanderzusetzen, was dabei wirklich biologisch passiert und was nicht. Wenn etwas nicht passiert, dann sollte man es dem Patienten auch nicht erzählen oder andeuten, dass es passieren könnte. Ich betone das deshalb so, weil ich schon viele Patienten gesehen habe, die eine eigentlich erfolgreiche manuelle Intervention erhalten haben. Doch zugleich gab ihnen der Therapeut ein inkorrektes, katastrophales Erklärungsmodell mit auf den Weg, was es bedeutet, wenn ihr Schmerz zurückkommt. Phrasen wie „Etwas ist draußen“, „Etwas ist eingeklemmt“, „Sie sind instabil“ oder „Sie haben Adhäsionen“, sind unsinnige pathologische Modelle. Es ärgert mich sehr, wenn ich sehe, dass Therapeuten diese unterstützen. Sie haben wahrscheinlich Techniken in der Manuellen Therapie oder in anderen Bereichen gefunden, die für sie funktionieren, und und sie erklären sich und den Patienten die Effekte mit diesen pathologischen Modellen. Aber das ist sehr naiv und extrem problematisch. Es braucht einen offenen Denkprozess, der die Komplexität des Menschen mit einbezieht und nicht nur Annahmen über Gewebeverhalten, welche komplett widerlegt sind.

    Die Fragen stellte Nils Runge.

    Hintergrund – Explain Pain

    Das Konzept „Explain Pain“ wurde von Dr. Lorimer Moseley und David Butler entwickelt. Sie hatten wissenschaftliche Belege dafür gesammelt, dass es Schmerzen beeinflusst, wenn Patienten mehr über die neurobiologischen und neuropsychologischen Prozesse wissen. Nach ihrem Konzept sollten Therapeuten ihre Patienten darüber aufklären, wie akute und chronische Schmerzen entstehen und verarbeitet werden. Ziel ist es, dass Patienten ihre Schmerzen als weniger bedrohlich wahrnehmen und mit ihnen einen eigenverantwortlichen Umgang finden.


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    Abb.: e-fobi
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    ABB. 1 Immer ein Highlight: Lorimer Moseley ist auf der ganzen Welt unterwegs, um Vorträge über das Konzept „Understand and Explain Pain“ zu halten.
    Abb.: e-fobi
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    ABB. 2 Ein gutes Team: Lorimer Moseley und Dennis Kraus (links) von e-fobi, die gemeinsam Kurse in Deutschland auf die Beine stellen
    Abb.: e-fobi