physiopraxis 2017; 15(05): 10-11
DOI: 10.1055/s-0043-101763
Profession
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Neue Leitlinien Rückenschmerz – Physios sind die beste Wahl

Tim Starck

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 May 2017 (online)

 

Nach Großbritannien und den USA hat auch Deutschland die Leitlinie Rückenschmerz aktualisiert. Physiotherapeut Tim Starck hat die Empfehlungen in den drei Ländern analysiert. Sein Fazit: Physios sind die beste Wahl für die genannten Interventionen.


#

Tim Starck

Zoom Image

Tim Starck ist Physiotherapeut in einer Heidelberger Praxis, Organisator des Schmerznetzwerks Heidelberg und Co-Gründer der Website www.physiomeetsscience.com. Diese setzt sich für evidenzbasierte Arbeit und die Professionalisierung der Berufsgruppe ein. Auf der Website veröffentlichen die Gründer Zusammenfassungen aktueller Studien, bringen sie in eine verständliche Sprache und machen damit aktuelles Wissen verfügbar.

Zoom Image
Seit November 2016 gibt es für Großbritannien, die USA und Deutschland die neuen Leitlinien Rückenschmerz. Diese sind sich nicht in allen Punkten einig.
Abb.: Thieme Verlagsgruppe; booka/fotolia.com

Seit November 2016 sind die neuen Guidelines Rückenschmerz des National Institute for Health and Care Excellence in Großbritannien, kurz NICE Guidelines, veröffentlicht. Diese haben gleich zu Beginn für rege Diskussionen in der Physiotherapie gesorgt [1]. Grund dafür waren durchaus umstrittene Empfehlungen, beispielsweise in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen keine Akupunktur mehr einzusetzen. Im Februar 2017 brachte auch das American College of Physicians für die USA neue Guidelines, kurz ACP Guidelines, heraus. Hier geben die Experten vermeintlich gegensätzliche Interventionsempfehlungen zu den NICE Guidelines wie Akupunktur und Massage, was die Diskussionen weiter anheizte [2]. Um die Hintergründe dazu zu verstehen, gilt es, ein paar Grundsätze zum Thema Guidelines zu wissen.

Guidelines repräsentieren oftmals nicht die Evidenz

Guidelines sind Behandlungsempfehlungen, die bestenfalls auf der aktuell hochwertigsten Evidenz beruhen. Zeigt eine Methode jedoch gute Ergebnisse in einer Studie, muss das nicht bedeuten, dass diese zwangsläufig als allgemeine Empfehlung in eine Leitlinie aufgenommen wird. Am Beispiel von multimodalen oder komplexen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren für chronischen Rückenschmerz lässt sich dieser Konflikt gut erklären: Die aufwendigen Ansätze brauchen viel Zeit, große Teams in enger Zusammenarbeit und hochqualifizierte Therapeuten. Es gibt dafür durchaus Evidenz [12]. Liest man jedoch zwischen den Zeilen, sind die relativen Effekte gegenüber der regulären Rückenschmerzbehandlung aber nicht groß genug, um diese Therapien in der Breitenversorgung anzuwenden. Allen Patienten mit chronischen Schmerzen multimodale Therapieprogramme zu verordnen, würde zu einem volkswirtschaftlichen Fiasko führen. In einer simplen Kosten-Nutzen-Rechnung müsste man sich in diesem Fall also im Rahmen einer Leitlinie gegen die allgemeine Empfehlung für komplexe Therapieverfahren entscheiden [3–5].


#

Guidelines widersprechen sich mitunter direkt

Ginge es bei der Erstellung von Guidelines nur um die beste verfügbare Evidenz, müssten alle zum gleichen Ergebnis kommen. Oft fließen jedoch durchaus wirtschaftliche und berufspolitische Interessen mit ein, wenn Institutionen an der Erstellung beteiligt sind, die sich mit der Erkrankung selbst befassen. Das ist einer der Gründe, warum Guidelines zum selben Thema – wie im Eingangsbeispiel – unterschiedliche Behandlungen empfehlen.

Guidelines beruhen bestenfalls auf der hochwertigsten Evidenz.

Die aktuelle ACP-Guideline empfiehlt beispielsweise explizit, bei akutem und subakutem Rückenschmerz Massage einzusetzen. Die angegebene Quelle dafür ist ein inhaltlich korrekt zitiertes Cochrane Review: „Massage for low-back pain“ [6]. In diesem Review kommen die Autoren allerdings zu dem Schluss, dass Massage bei dieser Patientengruppe wirksam sein könnte, aber vor allem, wenn sie mit Übungen und Aufklärung kombiniert wird. Die Leitlinie gewichtet das Resultat hier also völlig anders. Um zu erkennen, wo der Haken ist, muss man etwas genauer hinsehen: Das Review, welches die Guideline zitiert, ist von 2008. Seit 2015 gibt es allerdings eine aktualisierte Version davon, welche zu einem durchaus anderen Fazit kommt. Darin heißt es: Wir sind sehr unsicher, ob Massage eine effektive Therapie für Rückenschmerz darstellt [7]. Wir müssen uns also die Frage stellen, warum ein aktualisiertes Review ignoriert wird, um die veraltete Variante aufzunehmen.

Guidelines bleiben damit Empfehlungen, die von einem Expertengremium zusammengestellt sind. Wenn solche Gremien zusammenkommen, entsteht automatisch eine gewisse Verzerrung. Wir Physiotherapeuten können Leitlinien zwar lesen und unsere Therapie an ihnen orientieren, sollten sie aber wie andere Therapieempfehlungen immer sorgfältig hinterfragen. Nicht umsonst gibt es einen Unterschied zwischen evidenzbasierter und leitlinienorientierter Therapie. Evidenzbasiert arbeiten wir, wenn wir die Primärliteratur lesen und verstehen. Leitlinienorientiert zu arbeiten bedeutet, den Expertenvorgaben zu folgen und darauf zu vertrauen, dass diesen keine Fehler unterlaufen sind.


#

Guidelines sind sich in einigen Punkten einig

Interessanter als die Unterschiede zwischen den Leitlinien sind allerdings deren Gemeinsamkeiten. Die ACP Guideline stellt vor den einzelnen Interventionsempfehlungen noch drei generelle Empfehlungen auf:

  • Patienten mit akuten Rückenschmerzen sollten die natürliche Heilung abwarten und keine weitere Behandlung in Anspruch nehmen. Bei Bedarf kann konservativ und non pharmakologisch behandelt werden.

  • Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sollten primär non pharmakologisch und verhaltensorientiert behandelt werden.

  • Bei Non-Respondern kann steigernd pharmakologisch behandelt werden.

Diesen Empfehlungen stimmen auch die neuen NICE Guidelines zu. Unter 1.1.2 empfehlen sie beim therapeutischen Erstkontakt die Verwendung eines Assessment Tools wie den StartBack-Fragebogen (PHYSIOPRAXIS 5/16, S. 46), um das Chronifizierungsrisiko zu ermitteln. Dieser unterstützt die therapeutische Behandlungssteuerung durch Einteilung der Patienten in Gruppen mit niedrigem, moderatem und hohem Risiko. Diejenigen mit einem geringen Risiko bekommen eine Minimalintervention mit Beratung und genesen in der Regel von selbst. Patienten mit einem größeren Risiko brauchen verhaltensorientierte Physiotherapie.

Im März 2017 veröffentlichte auch Deutschland die aktualisierten Nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz [8]. Hier findet sich eine Empfehlung für „Bewegungsprogramme mit einem verhaltenstherapeutischen Ansatz“. Weltweit stimmen alle Behandlungsleitlinien zum Rückenschmerz also in einem Punkt überein: Wir brauchen ein Risikomanagement [9] und eine bewegungsorientierte Verhaltenstherapie [10].

Es wird Zeit, dass sich die deutsche Physiotherapie weiterentwickelt.


#

Nur Physios kommen für eine bewegungsorientierte Verhaltenstherapie in Frage

Wer also, wenn nicht wir Physiotherapeuten kann mit Patienten mit chronischen Rückenschmerzen bewegungsorientierte Verhaltenstherapie durchführen? Wer steht so perfekt in engem Kontakt zum Menschen, hat gleichzeitig ein gutes Bewegungsverständnis, medizinisches Fachwissen und kennt psychologische Betrachtungsweisen? Mal angenommen, Physiotherapeuten wären nicht bereits von der Vorstellung eingeschüchtert, den ganzen Menschen anstelle des betroffenen Gelenksystems zu behandeln [11]. Mal angenommen, es würden sich Ausbildungsinstitute finden, die eine fundierte Ausbildung in diesem Bereich anböten. Wir stünden vor einem völlig neuen Problem: Es werden Interventionen empfohlen, für die keine Strukturen existieren.

Im unserem Gesundheitssystem ist es derzeit noch nicht möglich, eine derartige Intervention außerhalb von speziellen multimodalen Rehaprogrammen durchzuführen. Diese Hürden müssen wir überwinden, wenn wir unsere Kompetenz und Profession weiterentwickeln wollen. Es wird Zeit, dass sich die deutsche Physiotherapie aktiv weiterentwickelt und gemeinsam die Strukturen schafft, die uns zu einem modernen, transprofessionellen Therapieverständnis bringen. Womöglich können wir dabei auf die Deutsche Gesellschaft für Physiotherapiewissenschaft e. V. (DGPTW) als neu gegründete Interessenvertretung setzen.

Tim Starck


#
#

Zoom Image
Zoom Image
Seit November 2016 gibt es für Großbritannien, die USA und Deutschland die neuen Leitlinien Rückenschmerz. Diese sind sich nicht in allen Punkten einig.
Abb.: Thieme Verlagsgruppe; booka/fotolia.com