Spricht man über sektorübergreifende Versorgung, macht es sicherlich Sinn, ein gemeinsames
Verständnis dieses Begriffs herzustellen, bevor man darüber diskutieren kann, welche
Struktur mit welchen Kompetenzen und mit welcher Form von Finanzierung die Versorgung
übernehmen kann.
Unzweifelhaft ist, dass das Gesundheitssystem in zwei große Sektoren aufgeteilt ist.
Der ambulante ärztliche/psychotherapeutische Sektor wird über die kassenärztlichen
Vereinigungen der Länder organisiert und finanziert, die zugleich eine konkrete Bedarfsplanung
erstellen. Die Bedarfsplanung des stationären Sektors, der über krankenhausindividuelle
Budgets finanziert wird, erfolgt durch die Ministerien der jeweiligen Länder. Der
ambulante ärztliche/psychotherapeutische Sektor ist in weitere Subsektoren aufgeteilt,
zum einen in den haus- und fachärztlichen Bereich, zum anderen auch innerhalb des
fachärztlichen Bereichs in Budgets der einzelnen Fachgruppen. Darüber hinaus gibt
es in der psychiatrischen Versorgung einen ambulanten nichtärztlichen Sektor bestehend
aus den Bereichen ambulante psychiatrische Pflege, Soziotherapie und Heilmittel (Ergotherapie).
Eine Bedarfsplanung hierfür besteht nicht, Zulassung und Finanzierung erfolgen über
die Krankenkassen direkt.
In der psychiatrischen Versorgung existiert außerdem eine Besonderheit. Neben dem
oben bezeichneten SGB-V-finanzierten Versorgungssystem existiert ein weiterer relevanter
Versorgungssektor der Eingliederungshilfe. Die Versorgung richtet sich am Bedarf aus
und wird kommunal finanziert und gesteuert.
Sprechen wir über sektorübergreifende Versorgung, stellt sich also die Frage, welche
Sektoren wir meinen. Entsprechend unterschiedlich sind die bisher realisierten Projekte
zur sektorübergreifenden Versorgung aufgestellt. Es gibt nur wenige Projekte mit einem
hohen Integrationsgrad. Als Beispiel sei das regionale Budget Kinzigtal genannt, in
dem große Teile der SGB-V-Leistungen integriert sind [1]. Ein analoges Projekt – hier ausschließlich die psychiatrische und psychotherapeutische
Versorgung betreffend – existiert im Elbe-Weser-Bereich mit dem regionalen Budget
am Ostebogen [2]. Ein indikationsbezogenes regionales Budget war das Schizophrenieprojekt der AOK
Niedersachsen [3] unter Beteiligung einer Pharma-Firma. Allen diesen Projekten mit einem hohen Integrationsgrad
ist gemein, dass sie die Kosten der großen Finanzierungssektoren integrieren und potenziell
alle Leistungserbringer – ob ambulant oder stationär –, die in dem jeweiligen Versorgungsumfeld
tätig sind, kontrahieren können. Die beiden erstgenannten Projekte haben nie ihren
regionalen Bezug verlassen, letzteres währte nur wenige Jahre.
Daneben existieren in Deutschland zahlreiche Projekte mit geringerem Integrationsgrad,
oftmals hervorgegangen aus Initiativen eines Versorgungssektors. Hervorzuheben sind
hier prototypisch das Netzwerk psychische Gesundheit (NwpG) der Techniker Krankenkasse
[4], die Integrierte Versorgung für Menschen mit Schizophrenie am UKE [5] und die Sozialpsychiatrie-Vereinbarungen der IVPNetworks [6]. Das NwpG ist aus einer Initiative des Dachverbands Gemeindepsychiatrie, also der
Eingliederungshilfe, entstanden, das UKE-Projekt aus dem Krankenhaus heraus, die Projekte
der IVPNetworks aus Initiativen von ambulanten Fachdiensten und -ärzten.
Einen Sonderfall von sektorübergreifender Versorgung stellen die regionalen Krankenhausbudgets
gemäß § 64b [7] dar. Sie ermöglichen eine Flexibilisierung von Leistungen innerhalb des stationären
Sektors, integrieren jedoch nicht andere Versorgungssektoren wie die niedergelassenen
Ärzte, die Eingliederungshilfe oder nichtärztliche ambulante Leistungserbringer.
Allen Projekten mit dem Anspruch, möglichst viele Versorgungssektoren einzubeziehen,
ist gemein, dass sie eine Trägerstruktur benötigen. Diese hat ganz praktische Umsetzungsaufgaben.
Sie muss die Versorgungsidee – z. B. die Implementierung eines stationsersetzenden
ambulanten Komplexleistungsangebots – in die Fläche bringen. Dazu gehören der Einbezug
entsprechend geeigneter Leistungserbringer mit Schulung, Vernetzung und Support, die
Schaffung vertraglicher Rahmenbedingungen, aber auch das Qualitätsmanagement, das
Controlling und die Abrechnung von Leistungen. Ohne eine IT-Struktur, die allen Leistungsanbietern
aus den verschiedenen Versorgungssektoren einen Zugriff erlaubt, ist eine Umsetzung
in der Fläche nicht denkbar. Die Erfahrung der letzten 12 Jahre mit Selektivverträgen
zeigt:
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Es mangelt nicht an Versorgungsideen, es mangelt an Umsetzungskompetenz gerade für
flächendeckende Versorgung.
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Die Finanzierungsgrundlage eines tatsächlichen sektorübergreifenden regionalen Budgets
– nicht eines Modellprojekts nach § 64b – ist hoch komplex und kaum kalkulierbar.
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Versorgung ist in Deutschland regional und von Initiativen einzelner Akteure geprägt.
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Für die flächendeckende Umsetzung von Versorgungsideen unter tatsächlichem Einbezug
unterschiedlicher Sektoren wird eine kompetente Managementstruktur benötigt.
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Die Managementstruktur sollte unabhängig von institutionellen Interessen einzelner
Versorgungsakteure sein.
Wollen wir also eine tatsächliche sektorübergreifende Versorgung umsetzen, benötigen
wir eine Managementgesellschaft, welche möglichst unabhängig agieren kann. Bleibt
die Frage, wer Träger einer solchen Struktur und damit einer sektorübergreifenden
Versorgung sein kann. Kostenträger müssen die Krankenkassen bleiben, das ist ihre
ureigene Rolle im Gesundheitssystem. Die fachliche Trägerschaft ergibt sich aus den
Anforderungen. Können wir uns vorstellen, dass eine öffentliche Struktur eine solche
Aufgabe übernehmen kann? Mir fehlt innerhalb unseres privat aufgestellten Gesundheitssystems
der Glaube, dass eine Gebietskörperschaft – quasi eine Superbehörde – in der Lage
dazu sein kann. Sicherlich kann und muss innerhalb eines Modellprojekts nach § 64b
eines kommunalen Krankenhauses die Kommune eine Umsetzungsrolle spielen. Kommen jedoch
Partner aus anderen Sektoren hinzu oder soll die Versorgung über mehrere Krankenhäuser
verschiedener Trägerschaften flächendeckend ausgeweitet werden, kommt eine kommunale
Trägerschaft an ihre natürlichen Grenzen.
Fazit: Sektorübergreifende Versorgung kann natürlich von privaten Leistungsanbietern
übernommen werden. Denkt man Versorgung im größeren Rahmen und nicht nur aus einem
Versorgungssektor, scheint dies aufgrund der Anforderungen und der erforderlichen
Unabhängigkeit der einzige Weg.