Psychiatr Prax 2017; 44(03): 122-124
DOI: 10.1055/s-0043-103336
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenautonomie ernst nehmen – eine Herausforderung

Respecting Patientʼs Autonomy – A Challenge
Tilman Steinert
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Weissenau
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Prof. Dr. med. Tilman Steinert
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Weissenau
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg

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Publication Date:
11 April 2017 (online)

 
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Tilman Steinert

Im Verlauf der vergangenen 10 Jahre wurden die Selbstbestimmungsrechte von Patienten erheblich gestärkt, durch maßgebliche höchstrichterliche Entscheidungen, die Rechtsprechung und nicht zuletzt auch durch die damit einhergehenden Änderungen der Einstellungen der Professionellen, der Gesellschaft und der Patientinnen und Patienten (im Kontext dieser Veränderungen: der Nutzer psychiatrischer Einrichtungen). Die bestens bekannten Stichworte in diesem Zusammenhang lauten UN-Behindertenrechtskonvention, Patientenrechtegesetz, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung, Empowerment, Recovery, Freiheitsrechte, User Involvement und andere mehr. Dass viele der geläufigen Begriffe fremdsprachlich sind und kein wirklich kongruentes deutschsprachiges Äquivalent haben, zeigt, dass es sich nicht um ein nationales Phänomen, sondern um einen internationalen Trend handelt. Auch die Professionellen scheinen diese Entwicklung dem Grunde nach mehrheitlich zu begrüßen und nicht als Machtverlust zu erleben. Eher werden frühere Grundpfeiler des psychiatrischen Selbstverständnisses wie die Doppelfunktion von Heilen und Sichern und der mit Unterbringungs- und Maßregelvollzugsgesetzen übertragene Ordnungsauftrag zu Sonderaspekten, die ethisch und fachlich neu bewertet sein wollen und nicht mehr widerspruchslos als Prämisse akzeptiert werden [1]. So leicht aber die generelle Zustimmung zu einem Wandel fallen mag, der als Königsweg zur Entstigmatisierung des Fachs, seiner Patienten und seiner Professionellen erscheinen kann, so herausfordernd ist dennoch die Umsetzung im Konkreten. Ich möchte dies an einigen wichtigen Bereichen psychiatrischen Handelns illustrieren und einige noch ungelöste Problembereiche aufzeigen.

1. Aufklärung und Einwilligung

Wer mit Forschung und Ethikkommissionen zu tun hat, ist mit den (erheblichen) Anforderungen in diesem Bereich gut vertraut. Vergleichbar sind die Ansprüche aber auch im Bereich der Aufklärung über jede psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, und dies steht oft im Widerspruch zum traditionellen Selbstverständnis. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass Patienten vor Beginn einer Psychotherapie umfassend über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt werden müssen. Und, zum Beispiel, dass man bei der Einleitung einer antidepressiven Behandlung den Patienten in adäquater Weise über die Number needed to treat, d. h. die statistisch recht hohe Wahrscheinlichkeit eines Nichtansprechens der Behandlung, aufklären muss. Womit man dann ein gerade auch bei Psychopharmakotherapie besonders wirksames Instrumentarium, nämlich den Mut machenden ärztlichen Zuspruch in Verbindung mit einem Placebo-Effekt, aus der Hand gibt. In der ärztlichen Aufklärung in diesem delikaten Konflikt die richtigen Worte zu wählen und den Patienten als mündigen Gegenüber, aber zugleich auch als nach Hilfe suchenden Kranken ernst zu nehmen, ist eine große Herausforderung. Sie wird künftig mehr Aufmerksamkeit verdienen.


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2. Zwangsbehandlungen

Dieses Thema stand in den letzten Jahren im Vordergrund der Diskussion, vielleicht sogar zu sehr. Die ethische Stellungnahme der DGPPN [2] hat die wichtigsten Gesichtspunkte überzeugend dargelegt. Dennoch verbleiben einige ungelöste Probleme, die womöglich in Zukunft häufiger auftreten werden: Was tun mit jenen, die eine in geschäftsfähigem Zustand verfasste Patientenverfügung vorlegen, dass sie grundsätzlich nichts mit der Psychiatrie zu tun haben wollen, d. h. keine Untersuchung, keine Diagnose, keine Abrechnung mit der Krankenkasse? Wie soll man mit einwilligungsunfähigen Patienten umgehen, die wegen Selbst- oder Fremdgefährdung untergebracht werden, aber eine wirksame Patientenverfügung haben, dass sie keine pharmakologische Behandlung wünschen und auf anderem Wege nicht erreichbar sind? Wie gehen wir damit um, dass manche Gesetze Ärzte ermächtigen, Eingriffe vorzunehmen, die die Berufsordnung und die ärztliche Ethik aber verbieten (zum Beispiel Zwangsbehandlung bei Einwilligungsfähigen in einigen Landesgesetzen)?


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3. Gemeindepsychiatrie

Die Gemeindepsychiatrie hat sich aus einer Haltung der sozialen Fürsorge entwickelt – nicht mit den Betroffenen gemeinsam gestaltet, sondern für diese. Der Aufbau gemeindepsychiatrischer Einrichtungen in Deutschland nach der Psychiatrie-Enquete war von der Leitvorstellung geprägt, dass engagierte Akteure aufseiten der Leistungsträger, der Leistungserbringer und ggf. der gesetzlichen Betreuer Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen außerhalb der psychiatrischen Kliniken entwickelten. Dabei wurde Beachtliches geleistet, Angebote wurden optimiert, Schnittstellenübergänge verbessert und Leistungspflichten im Sozialrecht verankert, endlich auch die Wende von einer institutionszentrierten zu einer personenzentrierten Perspektive in Angriff genommen [3]. Inzwischen ist allerdings, von vielen noch nicht wirklich bemerkt, eine wirkliche Systemänderung in Kraft getreten: Der psychisch kranke Mensch wird in seiner Rechtsstellung tatsächlich zunehmend vom Objekt zum selbstbewussten Subjekt, d. h. Unterstützung beim Wohnen und Arbeiten sind nicht mehr „gewährte“ Leistungen, die mit einigen Pflichten wie zum Beispiel Mitwirkung bei der Behandlung garniert werden können, sondern es handelt sich schlichtweg um die Einlösung eines Rechtsanspruchs. Ob der psychisch kranke behinderte Mensch neben seinem Wohnrecht auch noch eine Behandlung oder Unterstützung in Anspruch nehmen möchte und welcher Art diese sein sollte, bedarf der getrennten Verhandlung. Und welches Mitspracherecht er bei der angebotenen Wohnversorgung hat – wenn er z. B. nicht in das angebotene Heim in einem anderen Landkreis möchte – ist eine interessante Frage. Bisher können Landkreise sich häufig noch auf eine „Gibt es bei uns nicht“-Position zurückziehen, aber vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention wird das so immer weniger gehen. Gerade in der Eingliederungshilfe gibt es viele neue ethische und rechtliche Herausforderungen.


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4. Gremien

Es gilt heute bereits als Makel, wenn keine Vertreter der Betroffenen in wichtigen Gremien der Politik und der psychiatrischen Leistungserbringer vertreten sind – zu Recht. Die damit entstandene Kultur muss aber noch wesentlich weiter entwickelt werden. Noch ist man manchmal froh, überhaupt irgend jemanden zu finden, der diese Rolle einzunehmen bereit ist. Auch bei den Betroffenen bedarf es eines breiteren Engagements, der Entwicklung des Verständnisses der eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten und einer Dialogkultur. Sie sollten dabei unterstützt werden, sich zu organisieren, damit sie als legitime Vertreter ihrer Interessensgruppe auftreten können. Damit dürfte sich auch das Problem minimieren, dass eine kleine Minderheit selbst ernannter Vertreter in der Öffentlichkeit durch Extrempositionen Aufmerksamkeit erlangt.


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5. Fremdgefährdung

Psychiatrie ist zuständig für die Behandlung und auch Sicherung einwilligungsunfähiger Menschen, die andere gefährden – das ist weitgehend unstrittig und auch in deren eigenem Interesse. Die dafür formulierten Gesetze stammen allerdings aus einer Tradition des Polizeirechts, in der man in psychiatrischen Anstalten untergebrachte Patienten automatisch als einwilligungsunfähig, „unfrey“ in der Diktion des 19. Jahrhunderts, ansah und den Anstalten die vornehme Aufgabe zuschrieb, die Öffentlichkeit dauerhaft vor ihnen zu schützen (weil wirksame Behandlungskonzepte auch kaum existierten). Das hat sich gründlich geändert. Fremdgefährdendes Verhalten kann mit und ohne psychische Erkrankung auftreten, und auch das Vorliegen irgendeiner ICD-10-Diagnose reicht keineswegs aus, eine „Zuständigkeit“ des psychiatrischen Hilfesystems zu begründen. Vielmehr bedarf es eines kausalen Zusammenhangs und – nach heutiger medizinethischer Auffassung – auch der Feststellung vorliegender Einwilligungsunfähigkeit, um psychiatrisch legitimierten Zwang zu begründen [4] [5]. Eben deswegen ging die öffentliche Diskussion um die „psychische Krankheit“ des German Wings-Piloten Lubitz und des München-Attentäters am Kern der Sache vorbei. Aus freiem Willen begangene Verbrechen zu verhindern kann aus heutiger Sicht keine Kernaufgabe der Psychiatrie sein, auch wenn eine Verweisung von gefährlich erscheinenden Menschen an die psychiatrische Pflichtversorgung Vertretern der Öffentlichkeit und der Polizei manchmal als der einfachste Weg erscheinen mag.


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6. Selbstgefährdung

Es ist erstaunlich, dass darüber hierzulande im Zusammenhang mit Patientenautonomie noch am wenigsten diskutiert wird – dies angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel in unserem Nachbarland Niederlande das Recht auf einen ärztlich assistierten Suizid inzwischen, in der Logik durchaus konsequent, auch für psychisch Kranke gilt [6]. Wenn jemand direkt oder indirekt suizidal kommuniziert, herrscht hierzulande ein extrem hoher Konsens, dass die betreffende Person unter allen Umständen ggf. auch gegen ihren Willen sofort in eine psychiatrische Klinik zu verbringen sei – bei den meisten Psychiatern, bei nahezu allen anderen Ärzten, bei Behörden, bei der Polizei, bei der wie auch immer gearteten „Öffentlichkeit“, bei Angehörigen und Freunden und nicht zuletzt bei den Patienten selbst. Diese Grundhaltung bestimmt die Vorstellung in psychiatrischen Kliniken zur Suizidprävention, aber auch viele tägliche Einzelentscheidungen im Hinblick auf Aufnahmeindikationen, unbegleiteten Ausgang, Wochenendbeurlaubungen, Entlassungen und vieles weitere mehr. Auch in den Köpfen vieler Ärzte in nicht vollversorgenden psychiatrischen beziehungsweise psychosomatischen Kliniken ist das absolute Primat der sofortigen Suizidverhütung offenbar fest verankert – was man immer wieder erlebt, wenn bei suizidalen Äußerungen von Patienten alle Überlegungen zur therapeutischen Beziehung schnell über Bord geworfen werden und es nur noch um die Frage geht, ob die Verlegung in die nächste psychiatrische Klinik mit oder ohne Polizeibegleitung erfolgen muss. Mit unseren inzwischen verbreiteten Vorstellungen im Hinblick auf die Patientenautonomie sind derartige unhinterfragte paternalistische Reflexhandlungen nicht mehr vereinbar. Vielmehr müssen auch in diesem Bereich Maßnahmen gegen den Willen des Patienten ihre Grenzen an der erhaltenen Selbstbestimmungsfähigkeit finden. Es ist belastend, einen Patienten zu behandeln, der wiederkehrende Suizidgedanken äußert. Das Recht, sich abrupt und notfalls gewaltsam von ihm zu trennen oder ihn allein dadurch legitimiert seiner Freiheit zu berauben, erwächst daraus aber nicht. Bei kritischer Betrachtung gibt es eine überschaubare Anzahl von klinisch-psychopathologischen Zuständen, bei denen paternalistisches Handeln zum Schutz des Patienten legitim und sogar verpflichtend ist: Demenz, Delir, schwere Depression, akute Psychose und Intoxikation. Wenn solche Zustände ausgeschlossen sind und trotzdem suizidale Gedanken oder Absichten im Raum stehen (was klinisch erfahrungsgemäß heute keineswegs selten ist), wird man primär von erhaltener Selbstbestimmungsfähigkeit ausgehen können und müssen. Situative Einengungen können Eingriffe in die Freiheitsrechte für einen sehr limitierten Zeitraum zu Zwecken der Evaluation und Entaktualisierung rechtfertigen, mehr aber auch nicht. Was dann bleibt, ist aushandeln, wenn irgend möglich Verzicht auf alle Formen von Zwang und anstelle dessen das Angebot hilfreicher therapeutischer Maßnahmen. Dies lässt den betreffenden Patientinnen und Patienten Autonomie, allerdings damit einhergehend auch Eigenverantwortung. Dass derartiger Respekt vor der Patientenautonomie regelrechte Empörung bei vielen Beteiligten auslösen kann, ist bekannt. Dennoch wird man sich unvermeidlich auch diesen Fragen stellen müssen, wenn man die Patientenautonomie wirklich ernst nehmen will.


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Interessenkonflikte

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Berlin: DGPPN; 2014
  • 2 Pollmächer T. Gefährdung Dritter als Rechtfertigung einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung psychisch Kranker? Kontra. Psychiat Prax 2016; 43: 11-12
  • 3 Steinhart I. Wienberg G. Hrsg. Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2017
  • 4 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Task Force Patientenautonomie. Eckpunkte für die Regelung der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern – mit Erläuterungen. Berlin: DGPPN; 2016
  • 5 Steinert T. Ethics of coercive treatment and misuse of psychiatry. Psychiatr Serv DOI: 10.1176/appi.ps.201600066.
  • 6 Kim SY. De Vries RG. Peteet JR. Euthanasia and assisted suicide of patients with psychiatric disorders in the Netherlands 2011 to 2014. JAMA Psychiatry 2016; 73: 362-368

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Tilman Steinert
Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Weissenau
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg

  • Literatur

  • 1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Berlin: DGPPN; 2014
  • 2 Pollmächer T. Gefährdung Dritter als Rechtfertigung einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung psychisch Kranker? Kontra. Psychiat Prax 2016; 43: 11-12
  • 3 Steinhart I. Wienberg G. Hrsg. Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2017
  • 4 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Task Force Patientenautonomie. Eckpunkte für die Regelung der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern – mit Erläuterungen. Berlin: DGPPN; 2016
  • 5 Steinert T. Ethics of coercive treatment and misuse of psychiatry. Psychiatr Serv DOI: 10.1176/appi.ps.201600066.
  • 6 Kim SY. De Vries RG. Peteet JR. Euthanasia and assisted suicide of patients with psychiatric disorders in the Netherlands 2011 to 2014. JAMA Psychiatry 2016; 73: 362-368

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