„Flüchtlinge lassen sich Zähne auf Staatskosten sanieren“, mit der Zahl der Flüchtlinge
gerate das „System“ in Deutschland immer häufiger an Grenzen. „Kostenexplosion in
den Sozialsystemen durch Flüchtlinge.“
Nur einige Schlagzeilen bei einem kurzen Blick zum Themenkreis Medizinische Versorgung
von Flüchtlingen im Internet.
Ist das wirklich so? Verschwörungstheorien sind en vogue. Soviel vorab: Dort, wo es
Zahlen zu den Ausgaben für die medizinische Versorgung gibt, geben sie keinen Anlass,
über Kostenexplosionen zu räsonieren. Versuch einer Annäherung an ein komplexes Thema.
Von wem ist die Rede?
745 545 Menschen stellten allein im Jahr 2016 in Deutschland einen Antrag auf Asyl.
695 733 solcher Anträge entschied das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) im gleichen Jahr – so viele wie nie zuvor ([Abb. 1]).
Abb. 1 Monatliche Asylanträge seit Januar 2015.
In 256 136 Fällen erkannte das Amt den Status Flüchtling oder Asylant an. In der Praxis
gibt es dabei kaum Unterschiede, aber es sind 2 juristisch unterschiedliche Wege:
Auch 2016 erhielt nur ein kleiner Teil der Antragsteller (0,3 %) einen Asylantenstatus
nach dem vom Grundgesetzartikel 16 gewährten Recht auf politisches Asyl. Sehr viel
häufiger (36,8 %) hingegen gab es eine Anerkennung nach § 3 Asylgesetz als Flüchtling
nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der Deutschland 1951 beigetreten ist. Der Terminus
Asyl meint im Folgenden immer beide Gruppen.
153 700 Antragsteller erhielten eine vorübergehende Duldung ihres Aufenthalts. Und
etwa jeder 4. Antrag, knapp 174 000, wurde abgelehnt.
Die Zahl der Asylanträge sagt nichts über die Zahl derer, die einreisen; viele Menschen
stellen die Anträge erst zeitverzögert. So lag die Zahl der im easy-System registrierten
neu angekommenen Menschen im Jahr 2016 bei 321 371 Menschen, 2015 waren es über eine
Million gewesen – die Zahl wurde später auf 890 000 korrigiert, da es viele Mehrfacheinträge
gab.
Von welchen Kosten ist die Rede?
Von welchen Kosten ist die Rede?
Generell haben Flüchtlinge vom 1. Tag der Einreise an Ansprüche nach dem sogenannten
Asylbewerberleistungsgesetz zur Sicherung des Lebensunterhalts, auf Unterkunft, Essen,
Kleidung und medizinische Versorgung. Es gibt nur Schätzungen der Kosten.
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Mit gut 8000 Euro Ausgaben pro Flüchtling im Jahr nach dem sogenannten Asylbewerberleistungsgesetz
kalkuliert zum Beispiel eine Studie des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts
(FiFo) der Universität Köln für das Jahr 2014 [1].
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Hinzu kommen je nach Aufenthaltsdauer und Status weitere staatliche Leistungen, zum
Beispiel für Sprachkurse, für die Betreuung von Kindern in Kita und Schule, oder für
Integrationsmaßnahmen und Schulungen in den Arbeitsmarkt. Die Studie referiert ein
Dutzend Hochrechnungen aus Presseartikeln namhafter Medien, die zwischen 10 000 und
14 000 Euro pro Jahr schätzen, Mittelwert bei 12 000 Euro. Macht zwischen 10 und über
50 Milliarden jährlich für die Kassen des Staates. Laut Bundesfinanzministerium gab
der Bund 2016 21,7 Milliarden Euro insgesamt für die Betreuung von Flüchtlingen aus.
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Spiegel Online bilanzierte Anfang 2016, dass der Staat am Ende im statistischen Durchschnitt
an die 12 000 Euro für jeden Bürger aufwendet, egal, ob er nun hier geboren wurde,
oder ob er ein neu angekommener Flüchtling ist [2].
Gegen diese Kosten, auch das ist zu nennen, steht die kaum quantifizierbare Chance,
dass Flüchtlinge schon bald Steuern und Sozialbeiträge zahlen könnten. Viele Experten
gehen davon aus, dass das hiesige Sozialsystem in der Summe auf mittlere Sicht profitieren
dürfte.
Wie funktioniert die medizinische Versorgung – und wer zahlt was?
Wie funktioniert die medizinische Versorgung – und wer zahlt was?
Es ist ein ziemlich kompliziertes System an Gesetzen und Vorschriften, das mit deutscher
Gründlichkeit einem Flüchtling seinen Weg in das Land weist und überaus feinziseliert
auch festlegt, wann er zum Doktor darf und wann eher nicht.
Wer als Flüchtling neu nach Deutschland kommt, erhält Unterkunft zunächst nach § 47
Asylgesetz maximal bis zu einem halben Jahr in einer Erstaufnahmeunterkunft eines
der Bundesländer. Hier soll eine medizinische „Erstuntersuchung“ stattfinden, die
wiederum nach Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes auch dem Schutz der hiesigen
Bevölkerung vor Infektionskrankheiten dienen soll. Vorschrift ist zum Beispiel ein
Check auf Tuberkulose mit einer Röntgenaufnahme. Organisation und Finanzierung dieser
Erstuntersuchungen und der medizinischen Versorgung in den Landeserstaufnahmestellen
generell ist Sache der Bundesländer.
In Bremen zum Beispiel begann der Öffentliche Gesundheitsdienst schon 1993 mit einer
eher liberalen Auslegung der Paragrafen. Der Stadtstaat sieht die Erstuntersuchung
heute als niederschwelliges Angebot für medizinische Hilfe, wie Dr. Zahra Mohammadzadeh,
Leiterin des Referats Migration und Gesundheit beim Gesundheitsamt Bremen und Mitarbeiterinnen
letztes Jahr im Bundesgesundheitsblatt beschrieb [3]. Eine Reihenuntersuchung auf Tuberkulose findet in Bremen nicht mehr statt, aufgrund
der „Fragwürdigkeit ihres medizinischen Nutzens“. Zahlen über die Kosten der medizinischen
Versorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen bundesweit sind Mangelware.
Für die Kosten der medizinischen Versorgung aller Asylbewerber in einer langen Phase
danach – bis zur Anerkennung oder Ablehnung aller Anträge – gibt es Zahlen über die
Asylbewerberleistungsstatistik. Eine Gruppe um Kayvan Bozorgmehr und Oliver Razum,
der eine an der Uni Heidelberg, der andere an der Uni Bielefeld, kommt auf Ausgaben
von gut 7 Milliarden Euro – über einen Gesamtzeitraum von 20 Jahren, von 1994 bis
2013. Verglichen mit den Gesamtkosten des deutschen Gesundheitswesens ein „Rauschen
im Hintergrund“ formuliert Kayvan Bozorgmehr (das Interview folgt in Ausgabe 3/2017).
Versorgung in Kommunen
Von der Erstaufnahme der Länder werden Flüchtlinge in Landkreise und Kommunen verteilt.
Ab jetzt sind die Sozialämter vor Ort verantwortlich für die Betreuung, einschließlich
medizinischer Versorgung. Kommunen und Landkreise müssen auch die Finanzierung übernehmen,
für die gesamte Dauer des Asylverfahrens gibt es damit auch keine Kosten für die Gesetzlichen
Kassen. Details regelt ab jetzt das Asylbewerberleistungsgesetz, das der Bundestag
1993 verabschiedete. Ein Motiv war, Ausgaben für den Staat zu minimieren und den Zustrom
von Migranten in die hiesigen Sozialsysteme zu bremsen. Damals kamen sehr viele Flüchtlinge
aus den Balkankriegen nach Deutschland.
Das Mittel zum Zweck steckt vor allem in 2 Paragrafen. Paragraf 4 Asylbewerberleistungsgesetz
legt fest, dass es für Asylbewerber die „erforderliche ärztliche und zahnärztliche
Behandlung“ gibt, aber ganz vorrangig nur „zur Behandlung akuter Erkrankungen und
Schmerzzustände“. Impfungen gibt es auch, Zahnersatz hingegen nur, wenn „unaufschiebbar“.
Darüber hinaus legt § 6 fest, dass die zuständigen Behörden „sonstige Leistungen“
gewähren können, wenn sie „im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der
Gesundheit unerlässlich“ sind. Das gilt momentan im Detail für:
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Asylbewerber und Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten ihres Anerkennungsverfahrens;
-
Menschen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, die ausreisen müssen;
-
Menschen, die aus humanitären Gründen geduldet werden.
Für den Besuch beim Arzt braucht ein Flüchtling jetzt vielerorts einen Behandlungsschein
– abzuholen in der Regel beim zuständigen Sozialamt, oft ausgestellt für ein ganzes
Quartal oder aber auch anders befristet.
Auch für Ärzte ist das, was nun zu wissen ist, durchaus komplex. Eine Kostprobe zur
Verwaltungslage, in jedem Bundesland und von Ort zu Ort oft mit Variationen?
In Berlin ging es zum Beispiel bis Ende letzten Jahres um den Behandlungsschein mit
der Kennzeichnung A, auch Grüner Schein genannt, abzuholen beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten.
Ärzte rechnen mit diesem Schein ihre Leistungen mit der KV ab, der Schein selber verbleibt
in der Praxis. Kostenträger ist im Behandlungsscheinverfahren in Berlin aber die AOK
Nordost.
Stellt ein Doktor Verordnungen für einen Asylbewerber aus, muss er dies immer mit
einem Statuskennzeichen „A“ für Asylsuchender kennzeichnen, damit dies auch für weitere
Leistungserbringer wie etwa Apotheken ersichtlich ist. Bei Erwachsenen ist der Kostenträger
72802, der Kostenträgerbereich die „08“.
Weiterhin gibt es einen weißen J-Schein mit gelbem Querbalken für unbegleitete Minderjährige.
Sie erhalten de facto uneingeschränkten Zugang zur Versorgung, hier muss der Arzt
Kostenträger 72803 und Kostenträgerabrechnung „00“ auf die Verordnungen schreiben.
Im Ärztlichen Bereitschaftsdienst wiederum muss mit einem rosa Sonderabrechnungsschein …
und so weiter und so fort.
Es darf spekuliert werden, wer da wirklich den Durchblick hat. Im Zweifel hilft die
Nachfrage bei KV oder Ärztekammer oder zunächst auch mal ein Blick auf das Infomaterial
bei Kammer oder KVen.
In Niedersachsen gilt das gleiche Schema mit Variationen. Für Überweisungen gebe es
2 Wege; welcher gilt, vermerke der Sozialhilfeträger auf dem Behandlungsschein, erläutert
die KV Niedersachsen in Hannover. Entweder muss ein Patient, der Asylbewerber ist,
mit einer Überweisung erst wieder zum Sozialamt – der Arzt schreibt dann in das Feld
Auftrag: „Nur zur Ausstellung eines Behandlungsscheins“. Können Ärzte gleich zu einem
Kollegen überweisen, dann gehört in das Statusfeld des Personalienfelds der Hinweis
„Asyl“. Damit auch der Kollege wiederum weiß, dass er nur eingeschränkte Leistungen
nach § 4 Asylbewerberleistungsgesetz verordnen kann. Welches Überweisungsverfahren
gilt, unterscheide sich von Kommune zu Kommune – leider, kommentiert der Pressesprecher
der KV Niedersachsen in Hannover, Detlef Haffke diese Vielfalt.
Heikle Entscheidung über akute Erkrankung oder nicht
Heikle Entscheidung über akute Erkrankung oder nicht
Vor allem aber: Es sind die Ärzte, die in der Praxis entscheidend mit darüber befinden
sollen, welche medizinischen Leistungen nun nach dem Gesetz möglich sind und welche
erst mal nicht. Was also bitte ist jetzt eine akute Erkrankung, die sofort zu behandeln
ist und was eine chronische, die womöglich noch etwas Zeit hat?
Chronische Erkrankungen, die ohne Behandlung zu akuten Notfällen werden, können und
sollen auch nach Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden – erklärt zum Beispiel
eine „Interpretationshilfe nach Asylbewerberleistungsgesetz“, die der Freistaat Sachsen
zusammen mit dortiger KV, Krankenhausgesellschaft und Ärztekammer aufgelegt hat. Außer
im Notfall müsse aber immer ein Behandlungsschein vorliegen. Die Entscheidung über
Ja oder Nein zu einer Gastroskopie behalten sich die Behörden im Freistaat genauso
vor wie über eine „elektive“ Intervention mit dem Herzkatheter. Bei „akutem Koronarsyndrom“
sollen die Patienten aber unverzüglich in eine Kardiologie mit Katheterplatz eingewiesen
werden. Die Verordnung von Blutzuckermessgeräten und Teststreifen für Diabetiker erfordert
hingegen wiederum eine Kostenzusage, reguläre Vorsorgeuntersuchungen seien in der
Gynäkologie nicht möglich.
„Im Zweifelsfall sollten Sie immer beim Sozialamt eine Kostenübernahmeerklärung einholen“,
rät auch Detlef Haffke. Es könne sonst vorkommen, dass die KV die Kosten einer Behandlung
nicht übernimmt, wenn sie dafür von der zuständigen Behörde kein Geld erhalten wird.
Trotzdem scheint die Versorgung vor Ort, auch nach den komplexen Regeln, heute mancherorts
zu funktionieren. Die meisten Dinge hätten sich eingespielt, meint Raimund Dehmlow,
Beauftragter für Flüchtlingsfragen der Ärztekammer Niedersachsen (siehe das Interview
ab S. 134). Und die Behörden würden vielerorts durchaus „großzügig“ bei Anträgen auf
weitere Behandlungen agieren. Die KV Berlin erklärt sogar, dass die Senatsverwaltung
für Gesundheit und Soziales in Berlin durch eine „großzügige“ Auslegung des § 6 Asylbewerberleistungsgesetz
de facto Asylsuchende im Leistungsumfang den GKV-Versicherten gleichstelle.
Probleme mit späterer Kostenübernahme
Probleme mit späterer Kostenübernahme
In Krankenhäusern ist für lange Debatten um Übernahme von Kosten vor einer Behandlung
oft schon keine Zeit. Bei akuten Notfällen sollen Asylbewerber und Flüchtlinge ohne
Gedanken an Behandlungsscheine zu verschwenden in die nächstbeste Klinik. Diesen Grundsatz
betont auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG). Manche Kliniken haben nach
Auskunft der DKG allerdings im Nachgang von Behandlungen offenbar Mühe, ihre Kosten
von den Sozialämtern erstattet zu bekommen. Nach einer hausinternen Umfrage seien
die Krankenhäuser im letzten Jahr auf geschätzten 50 Millionen Euro sitzen geblieben.
Abrechnungserleichterungen erhofft sich die Gesellschaft von der Einführung einer
elektronischen Gesundheitskarte (eGK) auch für Asylbewerber. Sie löst in manchen Regionen
mittlerweile den Behandlungsschein aus Papier ab. In Berlin etwa gibt es sie seit
Anfang 2017 für alle Flüchtlinge, grüne Scheine sind dort verschwunden.
Ärzte: Einschränkungen abschaffen
Ärzte: Einschränkungen abschaffen
Seit Langem werben Ärztevertreter dafür, die komplizierten Regeln des Asylbewerberleistungsgesetzes
zu vereinfachen oder komplett zu streichen. Die Beschränkung der Behandlung auf akute
Erkrankungen und Schmerzzustände sei aus „ärztlicher Sicht schlicht unethisch“, monierte
Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer im letzten Sommer in der
Zeitschrift Orthopädie und Unfallchirurgie, Mitteilungen und Nachrichten. Für einen
Arzt sei es nicht ausschlaggebend, warum ein Mensch nach Deutschland gekommen ist
– er habe die ethische Verpflichtung, jeden Patienten gleich zu behandeln. Auch der
119. Ärztetag im Mai 2016 forderte, dass die Einschränkungen für die medizinische
Versorgung von Flüchtlingen durch das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft werden.
Daraus wurde bislang allerdings nichts. Erst im Oktober 2016 lehnte der Bundestag
einen entsprechenden Antrag der Fraktion „Die Linke“ mit genau diesem Ziel ab. Ein
weiterer Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, die psychotherapeutische und psychosoziale
Versorgung zu verbessern, fiel ebenfalls durch.
eGK kommt in Flächenländern oft nur schleppend voran
eGK kommt in Flächenländern oft nur schleppend voran
Als Mindestziel fordern viele Ärzte und Wissenschaftler, allen Flüchtlingen von Anfang
an statt Behandlungsscheinen gleich eine elektronische Gesundheitskarte (eGK) zu geben.
Die gibt es bereits; sie sieht genauso aus wie die Gesundheitskarte eines GKV-Versicherten,
außer, dass sie auf der Rückseite keinen Vermerk der Europäischen Krankenversicherung
enthält – und dass sie den Träger nach dem Einlesen der Daten als Asylbewerber identifiziert,
dem der Arzt eben nur die eingeschränkten Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz
geben soll.
Auch bei der Einführung einer eGK für Flüchtlinge war das kleine Bundesland Bremen
der Pionier. Der Stadtstaat gab 2005 erstmals in Deutschland die elektronische Gesundheitskarte
für Asylbewerber aus. Flüchtlinge erhalten sie dort binnen 3 Monaten nach ihrer Registrierung
von der AOK Bremen/Bremerhaven. Möglich macht diese Übernahme der Betreuung von Asylbewerbern
durch eine Gesetzliche Kasse § 264 SGB V, nach dem Kassen auch die Versorgung Nichtversicherter
übernehmen können, wenn zuständige Behörden ihnen wiederum die Kosten erstatten –
nebst einem Zuschlag für ihren Verwaltungsaufwand.
Voraussetzung ist ein Rahmenvertrag zwischen einem Bundesland und einer oder mehreren
Kassen, die im Auftrag die Administration und Abrechnung über die Karten leisten.
Bremen schloss diesen Vertrag im Jahr 2005 mit der AOK Bremen/Bremerhaven, Hamburg
folgte im Jahr 2012.
Es bleibt mit der eGK für Asylbewerber aber bei den Einschränkungen der Versorgung.
Nach dem Einlesen der Karte sieht der Arzt in Bremen und Hamburg derzeit an einer
Ziffer „4“ (demnächst wird es eine „9“), dass ein Asylbewerber bei ihm in der Praxis
ist. „Damit weiß der Arzt, dass dieser Patient nach den Einschränkungen des Asylbewerber-Leistungsgesetzes
zu behandeln ist“, erklärt Marcel Schweitzer, Pressesprecher der Hamburger Behörde
für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Für den Arzt funktioniert die Abrechnung
wie bei jedem GKV-Versicherten. Die Behandlungsdaten werden am Quartalsende zur Kassenärztlichen
Vereinigung übermittelt, die KV prüft und korrigiert die Abrechnung und übermittelt
die Daten an die AOK Bremen/Bremerhaven. Die wiederum erstellt eine Abrechnung für
die Sozialbehörden in beiden Städten. Und bietet einige Statistiken.
So betreute die AOK Bremen/Bremerhaven zum Jahreswechsel 2015/2016 rund 35 000 Flüchtlinge
in beiden Stadtstaaten. Januar 2017 waren es noch 21 363.
Beide Städte berichten von positiven Erfahrungen.
Geringere Kosten bei einem Flüchtling verglichen mit GKV-Versichertem
Geringere Kosten bei einem Flüchtling verglichen mit GKV-Versichertem
Insgesamt kostete die medizinische Versorgung der Flüchtlinge Bremen und Hamburg nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz im Jahr 2015 rund 45 Millionen Euro. Pro Kopf lagen
die Ausgaben für einen Asylbewerber im Jahr zwischen Juli 2014 und Juni 2015 bei 2350
Euro. Damit koste die medizinische Versorgung von Flüchtlingen deutlich weniger als
die der GKV-Patienten, berichtet Jörn Hons, Pressesprecher der AOK Bremen/Bremerhaven.
Bei Letzteren liege man in der Größenordnung von 3000 Euro. Es ist eine Größenordnung,
die weitere Studien bestätigen (das Interview Bozorgmehr folgt in Ausgabe 3/2017).
Für Hons ist das beim Blick auf die demografischen Zahlen kein Wunder: „Über 50 %
der Flüchtlinge sind unter 25 Jahre – das ist eine sehr junge Gruppe.“
Bessere Abrechnungskontrolle
Bessere Abrechnungskontrolle
Und – Kasse wie Behörden berichten von Einspareffekten durch die eGK verglichen mit
der früheren Ausgabe von Behandlungsscheinen. Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard
bezifferte Anfang 2016 die Einsparungen durch die eGK auf 1,6 Millionen Euro im 1. Jahr
nach der Einführung. Das Ausstellen der Scheine entfällt, die Abrechnungen erstellt
die Kasse, die dafür allerdings einen Bonus von 10 Euro monatlich je betreutem Flüchtling
erhält.
Kassensprecher Hons sieht einen weiteren Kosteneinspareffekt. Mit der eGK laufe die
Abrechnung der ärztlichen Leistungen nach EBM und unterliege einer Kostenkontrolle
durch die GKV. Bei Versorgung über Behandlungsscheine rechneten Ärzte hingegen nach
ihrer GOÄ ab. „Bei diesen Privatabrechnungen wissen wir nicht, in wie weit überhaupt
geprüft wird“, erklärt Hons. Und verweist auf eine Studie der Bertelsmann Stiftung
aus dem Januar 2017 zur Krankenversicherungspflicht für Beamte und Selbstständige,
die deutliche Schwankungen in den Beihilfekosten für Beamte je nach Bundesland belegt,
allein zwischen Bayern und Bremen um mehr als 100 %. „Wenn die Ärzte in Bayern bei
der Privatbehandlung von Flüchtlingen per Krankenschein ähnlich großzügig abrechneten,
dann dürften die Kosten dort entsprechend hoch sein“, meint auch Behördensprecher
Marcel Schweitzer.
Das ist ein Stich in ein weiteres politisches und administratives Minenfeld. Denn
die Bundesländer setzen die Möglichkeit zur Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte
für Flüchtlinge unterschiedlich um. Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern
und mit dem letzten Regierungswechsel auch Baden-Württemberg wollen die Karte nicht.
Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, NRW, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Thüringen
haben hingegen wie Bremen und Hamburg zumindest die nötigen Vereinbarungen mit Kassen
geschlossen.
Nach Zahlen des GKV-Spitzenverbands wurden am 1. Mai 2016 bundesweit 165 078 Asylbewerber
mit einer eGK betreut. Auch die Kassen machen sich für die eGK stark. Es sei allein
schon unter Verwaltungsaspekten günstiger, den Flüchtlingen gleich die Karte zu geben,
meint der Pressesprecher des GKV-Spitzenverbands in Berlin, Florian Lanz. „Diese Einsparungen
überwiegen unserer Einschätzung nach auch eventuelle Mehrausgaben dafür, dass vielleicht
die eine oder andere Leistung bei der eGK mehr verordnet wird als bei einem Behandlungsschein.“
Dennoch stockt vielerorts die Umsetzung. Fast überall entscheiden, auch bei positivem
Votum auf Landesebene, am Ende die Kommunen und Landkreise, ob sie mitmachen oder
nicht. Und etliche wollen nicht, denn sie fürchten wiederum Zusatzkosten durch den
Verwaltungszuschlag, den die beauftragten Kassen zusätzlich erhalten, mancherorts
sind es sogar satte 8 % auf die verwalteten Versorgungskosten.
Trotz einschlägiger Voten von Ärztetagen für die eGK bei Flüchtlingen bleibt das Thema
offenbar auch unter Ärzten umstritten. Die Meinung zur eGK für Asylbewerber sei durchaus
gespalten, berichtet Detlef Haffke von der KV Niedersachsen. Denn bei einem Behandlungsschein
rechne der Arzt jede Leistung gleich auf dem Schein ab. Bei der Karte erfolgt die
Abrechnung quartalsweise und hier gilt in der Regel bei Mehrfachbehandlungen in einem
Quartal eine niedrigere Pauschalvergütung verglichen mit der Abrechnung über einen
oder auch mehrere Behandlungsscheine.
Restriktionen führen womöglich zu Mehrkosten
Restriktionen führen womöglich zu Mehrkosten
Es ist, vorsichtig formuliert, nicht auszuschließen, dass die Restriktionen des Asylbewerberleistungsgesetzes
die Kosten der Arztrechnung für Asylbewerber am Ende überhaupt nicht senken, sie vielmehr
sogar zusätzlich nach oben treiben.
15 Monate nach der Einreise enden die Restriktionen, auch wenn ein Asylbewerber dann
womöglich immer noch im Anerkennungsverfahren steckt. Jetzt erhält er nach § 2 des
Asylbewerberleistungsgesetzes de facto Leistungen wie ein Hartz-IV-Empfänger mit bundesdeutscher
Herkunft. Er wird Kassenmitglied und erhält eine Gesundheitskarte, die in der Praxis
einen Zugang zur Regelversorgung erlaubt.
Die Kosten übernimmt vorerst weiterhin der Staat. Ebenso wie für die Gruppe der anerkannten
Asylbewerber, die noch keine sozialversicherungspflichtige Stelle gefunden haben.
Die Versorgung beider Gruppen erfolgt wie bei ALG-II-Empfängern bundesdeutscher Herkunft.
Die Gruppe um Oliver Razum und Kayvan Bozorgmehr legt Zahlen vor, nach denen die Versorgung
von Asylbewerbern, die noch innerhalb der Frist mit einer Zugangsbegrenzung liegen,
teurer kommt als bei Asylbewerbern, die nach 15 Monaten quasi Zugang zur Regelversorgung
haben. „Das ist ein Effekt, den wir generell aus Gesundheitsdaten kennen“, erklärt
Bozorgmehr. Eine hinausgezögerte Behandlung räche sich, wenn die Behandlung einer
dann womöglich weiter fortgeschrittenen Erkrankung viel teurer werde – davon, dass
dies für den Betroffenen mehr Leid bedeutet, ganz zu schweigen. Auch die Bielefelder
Gesundheitswissenschaftler Oliver Razum und Judith Wenner fordern deshalb die Abschaffung
der Restriktionen (das Interview folgt in Ausgabe 3/2017).
Hakeleien um die Kosten setzen sich so oder so fort. Der Staat zahlt den Kassen die
Beiträge für jedes Mitglied, das mit einem ALG-II-Status geführt wird, sei es ein
Asylbewerber nach 15 Monaten, ein Hartz-IV-Empfänger bundesdeutscher Herkunft oder
ein anerkannter Flüchtling, der noch keine sozialversicherungspflichtige Stelle gefunden
hat. Es ist ein fester Zuschuss, aktuell etwa 90 Euro im Monat. Was den Kassen aber
nach deren Bekundungen nicht reicht, es gebe da eine massive „Deckungslücke“. Und
sie protestieren gegen von ihnen erwartete weitere Kosten: „Aus Sicht der GKV kommt
der Bund bereits bei den versicherungspflichtigen Arbeitslosengeld II Beziehenden
seiner Finanzverantwortung nicht hinreichend nach; eine weitere Verschiebung von Finanzierungsverantwortung
wird vor diesem Hintergrund abgelehnt“, erklärten die Juristen des GKV-Spitzenverbands
in einer Stellungnahme im Bundestag letzten Sommer.
Ob und vor allem wie viel die Kassen wirklich drauflegen, weiß allerdings mangels
valider Zahlen wieder eigentlich keiner. Bislang gab es bei der Statusmeldung auf
einer eGK nur die Angabe ALG II, ohne dass erkennbar war, ob der Patient nun ein Asylbewerber
ist, der länger als 15 Monate auf sein Verfahren wartet, ein anerkannter Flüchtling
ist oder ein ALG-II-Empfänger bundesdeutscher Herkunft. Erst seit Anfang 2017 werde
das dort differenziert, berichtet Pressesprecher Lanz vom GKV-Spitzenverband. Erst
das bietet jetzt eine Möglichkeit für mehr Transparenz.
So oder so erhielten die Kassen Ende 2016 schon mal vorsorglich einen Scheck in Höhe
von 1 Milliarde Euro zusätzlich aus den Rücklagen des Gesundheitsfonds – für, man
höre und staune, „Zusatzkosten der Versorgung von Asylbewerbern“. Manch politischer
Kommentar argwöhnte als Motiv eher den Wunsch der Bundesregierung, im Wahljahr 2017
womöglich generell drohende Erhöhungen von Zusatzbeiträgen für die Versicherten zu
vermeiden.
Bei den Empfängern der Zuwendung gibt man sich zumindest ein wenig überrascht. Ihm
sei für diese Summe keine Berechnung bekannt, die auf zugrunde liegenden Zahlen basieren
würde, formuliert etwas vorsichtig GKV-Spitzenverband-Sprecher Lanz. Mithin keine
Zahlen, die unterfüttern, dass die Kassen tatsächlich derartige Zusatzkosten für die
Versorgung mancher Flüchtlinge haben.
Bleibt noch die Frage nach dem Zahnersatz auf Staatskosten. Der Kassenzuschuss zu
Zahnersatz ist bekanntlich auch für jeden GKV-Versicherten hiesiger Herkunft schon
lange gedeckelt. Es gibt maximal 70 % bei ordentlich gefülltem Bonusheft – und dies
wohlgemerkt für eine „Standardversorgung“. Wer da mehr will, der muss schon bislang
tief in die eigene Tasche greifen. Diese Kosten seien überschaubar, meint GKV-Sprecher
Lanz. Manch armer Flüchtling – und in der Tat berichten Ärzte davon, dass viele Probleme
mit den Zähnen haben – wird kaum mehr erhalten als die einfachste Regelversorgung.
Und das womöglich sogar aus Töpfen des Sozialsystems! Zahlen dazu? Bislang alles reine
Hochrechnungen und Spekulation. Dort, wo es erste Zahlen überhaupt gibt zur medinischen
Versorgung von Flüchtlingen, kann das Fazit nur lauten: Thema tiefer hängen … und
möglichst rational diskutieren.