Zunächst erscheint es daher notwendig, die verschiedenen Formen der Aussprachestörungen
und myofunktioneller Störungen zu erläutern: Unter einer myofunktionellen Störung
versteht man eine Zungen-Fehlfunktion, die zu einem pathologischen, d. h. nicht regelrechten
Schluckmuster des Kindes führt. Diese Zungen-Fehlfunktion ist auf ein muskuläres Ungleichgewicht
oder eine muskuläre Schwäche im Bereich der Lippen- und/oder Zungenmuskulatur zurückzuführen.
Wurde eine myofunktionelle Störung diagnostiziert, ist der gezielte Einsatz von Zungen-
und oder Lippenübungen ein sinnvolles Vorgehen, um ein muskuläres Gleichgewicht oder
eine muskuläre Stärkung zu erreichen, das als Grundlage für die Überwindung der Zungen-Fehlfunktion
dient. In der Regel findet ein therapeutisches Vorgehen nach Kittel [1] Anwendung,
indem eine strukturierte Hierarchie von Muskelübungen vorgegeben ist.
Eine Aussprachestörung hingegen liegt dann vor, wenn ein Kind Laute auf nicht altersgerechte
Weise verwendet, diese also fehlbildet, auslässt, vertauscht oder ersetzt, sodass
die Verständlichkeit des Kindes eingeschränkt sein kann. Aussprachestörungen können
z. B. durch eine neurologische Grunderkrankung wie beispielsweise der Zerebralparese
oder durch Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, angeborene Hörstörungen oder Behinderungen
mit kognitiven Einschränkungen (z. B. Down-Syndrom) verursacht sein. In den meisten
Fällen liegt allerdings keine organische Ursache vor. Zu unterscheiden sind Kinder
mit einer reinen Laut-Fehlbildung (z. B. Lispeln oder einer lateralen Fehlbildungen
des <sch>-Lautes, sodass eine Art schlürfendes Geräusch entsteht) von Kindern, die
systematische oder sogar unsystematische Ersetzungen und Auslassungen von Lauten zeigen.
Mitte des letzten Jahrhunderts ging man davon aus, dass Aussprachestörungen vor allem
durch mangelnde Reifung der Artikulations-Muskeln (z. B. Zunge, Lippen) verursacht
werden. Daher stellten mundmotorische Übungen einen zentralen Baustein der Behandlung
von Aussprachestörungen nach van Riper (1939/1963) dar [2]. Im Gegensatz zur bis heute
häufigen therapeutischen Umsetzung des Ansatzes betonte van Riper, dass ein generelles
Training aller Artikulationsmuskeln nicht sinnvoll sei, sondern nur Übungen, die direkt
einen Laut in seiner Bewegung vorbereiten. So sollen z. B. Übungen zur Stärkung einer
spitzen, nach oben zeigenden Zunge die korrekte Bildung des Lautes <s> vorbereiten.
Solche spezifischen Übungen können auch heute noch kurzfristig eingesetzt werden,
wenn die Bildung eines Lautes, den ein Kind noch nicht produzieren kann, unterstützt
werden soll.
Seit Ende der 1960er-Jahre ist allerdings bekannt, dass kindliche Aussprachestörungen
in der Regel nicht mit einer muskulären Schwäche oder Fehlfunktion in Zusammenhang
stehen, sondern zum Beispiel mit inkorrekter oder mangelnder Analyse oder Speicherung
von gehörten Wortformen (Klangbild eines Wortes). Dies bedeutet, dass der therapeutische
Schwerpunkt auf der Analyse und Speicherung von Wortformen liegen sollte und nicht
auf dem Training rein korrigierender Bewegungsabläufe.
Des Weiteren konnte die Forschung nachweisen, dass Übungen der Zungen- und Lippenmuskulatur
auch bei Menschen mit einer neurologischen Erkrankung, die zu einer Einschränkung
der Bewegungsfähigkeit, verursacht durch mangelnde Steuerung oder eine Schwäche der
Artikulationsmuskeln (Dysarthrie), führen, keinen positiven Einfluss auf die Sprachfähigkeit
der Patienten nehmen. Es liegt ein Unterschied zwischen der Sprechmotorik und der
Mundmotorik vor, sodass Erfolge in der Sprechmotorik nicht über ein Training der Mundmotorik
erreichbar sind. Zahlreiche Untersuchungen konnten zeigen, dass Kinder mit einer nicht
organischen Aussprachestörung vom Einsatz genereller mundmotorischer Übungen nicht
profitieren. Dies bedeutet, dass die Durchführung von mundmotorischen Übungen einen
Therapieerfolg nicht schneller herbeiführt, als wenn auf die Durchführung dieser verzichtet
wird. So herrscht mittlerweile ein Konsens unter den Experten für Aussprachestörungen
weltweit [3], dass auf ein generelles, regelmäßiges Training der mundmotorischen Fähigkeiten
in der Aussprachetherapie verzichtet werden sollte.
Generelle unspezifische Übungen zur Mundmotorik sind für Aussprachestörungen kein
sinnvolles therapeutisches Mittel. An die Bedürfnisse des Kindes spezifisch angepasste
Übungen sind zentraler Baustein der myofunktionellen Therapie. Im Bereich Aussprachestörungen
können spezifisch ausgewählte Übungen bei Bedarf die Lautanbahnung kurzfristig unterstützen.
Annette Fox-Boyer, Rostock
Literatur
[1] Kittel A. Myofunktionelle Therapie. 11. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner; 2014
[2] Van Riper C. Speech Correction: principles and methods. 4th ed. New York: Englewood
Cliffs, Prentice Hal; 1939/1963
[3] Fox-Boyer A. Kindliche Aussprachestörungen – Erwerb –
Differentialdiagnostik – Therapie. 7. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner; 2016
[4] Fox-Boyer A, Groos I, Schauß-Golecki K. Kindliche Aussprachestörungen –
ein Ratgeber für Eltern, Erzieher, Therapeuten und Ärzte. 2. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner;
2015