Schlüsselwörter
Zwangsstörungen - Kinder - Jugendliche - Kognitive Verhaltenstherapie - SSRI
Einleitung
Zwangsstörungen sind auch schon im Kindes- und Jugendalter häufig auftretende und
sehr beeinträchtigende Erkrankungen. Erwachsene mit Zwangsstörungen leiden häufig
bereits seit ihrer Kindheit an Zwängen. Die Erkrankung wird oftmals lange verheimlicht
oder bei Kindern nicht richtig erkannt. Dies führt dazu, dass sich trotz hoher Prävalenz
nur ein Bruchteil der Betroffenen in Therapie befindet oder rechtzeitig eine Behandlung
begonnen hat. Ein anderes Dilemma ist, dass sich immer noch nur relativ wenige Therapeuten
auf eine – speziell zu Beginn – sehr aufwendige Therapie mit Expositionen und Reaktionsverhinderung
einlassen. Sei es, da sie sich eine solche Behandlung nicht zutrauen oder immer noch
Skrupel vor Expositionen haben. Auch ökonomisch lohnen sich diese zu Beginn der Expositionen
oft langen Sitzungen eventuell nicht oder sind, wenn sie zu Hause stattfinden sollten,
schwer zu organisieren. Viele verschiedene Gründe führen dazu, dass eine Vielzahl
von Patienten keine evidenzbasierte Behandlung erhält. Der Beitrag soll das Erkennen
und Verstehen von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter verbessern und die Hemmschwelle
erniedrigen, diese Patienten zu behandeln.
Symptomatik und Klassifikation
Symptomatik und Klassifikation
Symptomatik
Zwangsstörungen sind komplexe Störungsbilder mit vielfältigen Erscheinungsformen.
Die wichtigsten Symptomkomplexe sind:
-
Zwangshandlungen und
-
Zwangsgedanken.
Merke
Zwangshandlungen und Zwangsgedanken können unabhängig voneinander vorkommen, sie treten
jedoch häufig gemeinsam auf – dann als „gemischt“ klassifiziert.
Zwangsgedanken
Bei Zwangsgedanken handelt es sich um Vorstellungen oder Ideen, die sich wiederholt
und gegen den Willen des Betroffenen aufdrängen, als unsinnig erlebt werden und schweres
Unbehagen auslösen. Die als unangenehm empfundenen Zwangsgedanken sind meist mit dem
Drang verbunden, sie zu beenden oder ungeschehen zu machen – sie sozusagen zu neutralisieren.
Inhaltlich beziehen sich Zwangsgedanken häufig auf Angst vor Kontaminationen und drohenden
Gefahren (Schmutz, Krankheitserreger), aber auch auf Aggression, Symmetrie und Genauigkeit.
Merke
Die „Ausgestaltung“ der Zwangsinhalte ist oft abhängig vom Alter und der Entwicklungsphase
bzw. den Entwicklungsaufgaben des Betroffenen.
Während junge Kinder vermehrt Zwänge beim Anziehen oder Toilettengang zeigen, werden
im Jugendalter religiöse oder sexuelle Themen sowie das Bedürfnis nach Autonomie bedeutsamer.
Gedanken, man könnte mit jedem Toilettengang eine Schwangerschaft verursachen oder
man könnte die eigenen Eltern töten wollen, belasten die Betroffenen extrem und können
starke Schamgefühle auslösen. Mischformen und Kombinationen verschiedener Zwangsinhalte
kommen sehr häufig vor. Ebenfalls ist die Persistenz der Zwangsinhalte im Kindes-
und Jugendalter geringer als im Erwachsenenalter (Wechsel z. B. von Symmetrie- zu
Kontrollzwängen). Die Symptome können auch episodisch auftreten.
Definition
Zwangsgedanken nach ICD-10 (F42.0) [1]
-
Unter Zwangsgedanken versteht man zwanghafte Ideen, Gedanken, Vorstellungen oder Impulse
mit wiederholtem Auftreten.
-
Sie werden von den Betroffenen meist als quälend, störend oder ungewollt empfunden,
weshalb sie versuchen, den Gedanken Widerstand zu leisten.
-
Die Ideen können unterschiedliche Inhalte haben und sind häufig sinnlos.
Zwangshandlungen
Unter Zwangshandlungen versteht man Verhaltensweisen, die einer bestimmten Regelhaftigkeit
folgen, um Angst, eine drohende Gefahr oder ein Unbehagen zu reduzieren oder zu vermeiden.
Die Einsicht in die Unsinnigkeit dieser Verhaltensweisen kann bei den Betroffenen
graduell sehr verschieden sein. Bei Kindern können sowohl die Einsicht der Unsinnigkeit
als auch der Widerstand gegen die Symptomatik gänzlich fehlen. Die häufigsten Zwangshandlungen
im Kinder- und Jugendalter sind Reinigungszwänge – wie Wasch- und Putzzwänge – oder
auch zwanghaftes Kontrollieren. Es lassen sich aber auch sehr bizarr anmutende Zwangshandlungen
beobachten, z. B. Luft verwirbeln, um eigene Schuppen der Haare aufzufangen oder bestimmte
Formen in der Wohnung „100-mal“ entlanglaufen, um Schlimmes zu verhindern. Diese Formen
der Zwangshandlungen müssen teilweise von psychotischen Störungen abgegrenzt werden.
Definition
Zwangshandlungen nach ICD-10 (F42.1) [1]
-
Zwangshandlungen sind wiederholte Verhaltensweisen, die einer gewissen Regelhaftigkeit
folgen und denen die Furcht vor einer bedrohlichen Situation zugrunde liegt. Das Verhalten
ist ein meist wirkungsloser Versuch, diese potenziell gefährliche Situation zu vermeiden.
-
Häufig beziehen sich die Handlungen auf die Reinlichkeit, übertriebene Ordnung und
Sauberkeit sowie wiederholtes Kontrollieren.
-
Zwangshandlungen kommen bei beiden Geschlechtern gleich häufig vor, wobei sich das
spezifisch gezeigte Verhalten unterscheidet.
-
Im Vergleich zu Zwangsgedanken sind Zwangshandlungen weniger eng mit Depression verbunden
und schlagen besser auf eine Verhaltenstherapie an.
Zwangsimpulse
Im DSM-5 wird nicht mehr von Zwangsimpulsen gesprochen, sondern vom „Drang/Sich-Aufdrängen“
(engl.: Urge) gewisser Gedanken oder Verhaltensweisen. Im Gegensatz zu Patienten mit
Impulskontrollstörungen im engeren Sinn gibt der Patient mit Zwangsstörung diesen
Impulsen, nun Drang genannt, in der Regel nicht nach. Während Patienten mit einer
Impulskontrollstörung (z. B. ADHS) erst nach dem Ausführen des Impulses über ihre
Handlung nachdenken, wird bei einer Zwangsstörung die Ausführung des Impulses gefürchtet
und spezifische Situationen werden vermieden oder neutralisiert, damit es nie dazu
kommen kann. Solche sehr angstauslösenden Drangvorstellungen (z. B. ich könnte ein
Messer aus der Schublade nehmen und jemanden damit erstechen) können sich mit großer
Macht aufdrängen und werden dann in der Regel mit sehr zeit- und kraftraubenden „Gegenmaßnahmen“
verhindert. So wird beispielsweise die Küchentür und somit der Zugang zu den Messern
x-mal abgeschlossen und kontrolliert. Diese Impulse können den Betroffenen so ängstigen,
dass er aus Sorge, er könnte schlafwandeln und sich die Messer holen, nicht mehr schlafen
kann.
Klassifikation
Die Klassifikation erfolgt in den deutschsprachigen Ländern in der Regel nach der
ICD-10.
Merke
Bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter empfiehlt sich alternativ oder mindestens
zusätzlich zum ICD-10 eine Betrachtung der DSM-5 Kriterien.
Das DSM-5 berücksichtigt bei Minderjährigen die noch teilweise mangelnde Fähigkeit,
die Zwangssymptome als eigene Gedanken zu erkennen und ihnen Widerstand zu leisten.
Entscheidend ist bei beiden Klassifikationsschemata, dass die Zwangssymptome auch
schon bei Kindern, die noch wenig Einsicht zeigen können, einen hohen Leidensdruck
auslösen. Zudem wird im Gegensatz zu Ritualen die Wiederholung der Zwangshandlungen
als belastend erlebt.
Diagnosekriterien
Zwangsstörungen nach ICD-10 (F42) [1]
-
Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) sind an den meisten Tagen über
einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen nachweisbar.
-
Die Zwangsgedanken/-handlungen müssen sämtliche folgende Merkmale aufweisen:
-
Sie werden vom Betroffenen als eigene Gedanken oder Handlungen angesehen und werden
nicht als von anderen Personen eingegeben empfunden.
-
Ihr wiederholtes Auftreten wird vom Betroffenen als unangenehm empfunden und als unsinnig
oder übertrieben angesehen.
-
Gegen mindestens einen dieser Gedanken oder Handlungen wird Widerstand geleistet,
auch wenn wenig erfolgreich.
-
Sie werden vom Betroffenen nicht als angenehm empfunden, wobei von einer vorübergehenden
Erleichterung von einem angespannten Zustand unterschieden werden muss.
-
Die Zwangsgedanken und -handlungen lösen einen Leidensdruck aus und beeinträchtigen
die soziale oder individuelle Leistungsfähigkeit.
-
Die Störung tritt nicht aufgrund einer anderen psychischen Störung wie Schizophrenie
oder affektive Störungen auf.
Zwangsstörungen nach dem DSM-5 [2]
-
Vorhandensein von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen
Zwangsgedanken sind definiert durch:
-
Wiederkehrende, stabile Gedanken, Vorstellungen oder Ideen, die vom Betroffenen als
unangenehm empfunden werden und einen Leidensdruck hervorrufen.
-
Die Betroffenen versuchen, diese Gedanken zu unterdrücken, zu ignorieren oder ihnen
mit einem anderen Gedanken oder einer Handlung entgegenzuwirken.
Zwangshandlungen sind definiert durch:
-
Wiederkehrende Verhaltensweisen oder vorgestellte Handlungen, welche vom Betroffenen
in einer gewissen Regelhaftigkeit ausgeführt werden.
-
Diese Verhaltensweisen oder vorgestellten Handlungen haben das Ziel, die Angst vor
einer bedrohlichen befürchteten Situationen zu reduzieren. Da diese Handlungen jedoch
in keiner realistischen Weise mit diesem Ziel verbunden sind, bleibt dies erfolglos.
-
Die Zwangsgedanken und -handlungen führen über den hohen Zeitaufwand zu einem klinisch
relevanten Leidensdruck oder zu einer Beeinträchtigung sozial oder individuell bedeutsamer
Lebensbereiche.
-
Den Zwangssymptomen liegen keine physiologischen Effekte einer Substanz oder eines
Medikaments zugrunde.
-
Die Symptome können nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden
(z. B. übermäßige Sorgen bei einer generalisierten Angststörung).
Das DSM-5 hat einige Neuerungen gegenüber dem ICD-10 sowie Anpassungen gegenüber dem
DSM-IV eingeführt [3]. Nach DSM-IV waren Zwangsstörungen unter der Kategorie der „Angststörungen“ eingeordnet.
Im DSM-5 gibt es nun eine eigene Kategorie für „Zwangsstörungen und verwandte Störungen“.
Gemeinsam ist den Angst- und Zwangsstörungen oftmals eine zugrunde liegende, tiefe
Angst, deren Auslöser oder potenzielle Auslöser bei der Angststörung vor allem vermieden
werden und bei der Zwangsstörung z. B. durch Zwangshandlungen neutralisiert werden.
Es gibt aber auch Zwänge, denen nicht per se eine Angst zugrunde liegt (z. B. Symmetriezwänge
oder „Just-right“-Zwänge). Hier entsteht erst durch das Unterlassen dieser Zwänge
ein sehr unangenehmes, z. B. „unfertiges“ Gefühl.
Die neue Kategorie der Zwangsstörungen im DSM-5 setzt sich aus einem Zwangsspektrum
von Zwangsstörungen im engeren Sinne (s. o.) mit verschiedenen Störungsbildern zusammen.
Zusatzinfo
Den Zwangsstörungen verwandte Störungen nach DSM-5 [2]
-
Dysmorphophobie/Body Dysmorphic Disorder
-
Horten
-
Trichotillomanie
-
Exkoriationsstörung (Skin Picking)
-
durch Substanz oder Medikation induzierte Zwangsstörung
-
Zwänge oder verwandte Störungen bedingt durch eine andere medizinische Ursache
-
andere spezifische Zwangsstörungen und verwandte Störungen
-
unspezifische Zwangsstörungen und verwandte Störungen
Bedeutung der Einsichtsfähigkeit
Neu und auch therapeutisch relevant sind die Spezifizierungen des DSM-5 zur Einschätzung
der Einsichtsfähigkeit. Die Einsichtsfähigkeit muss nun als „gut/angemessen“, „eingeschränkt“
oder „fehlend“ eingeschätzt werden. Dieses Kriterium ist auch von besonderer Bedeutung
zur Abgrenzung von Psychosen, bei denen „ich-syntone“ zwangsartige Vorstellungen oder
Ideen auftreten können, also auch „keine Einsicht“, aber in der Regel liegen bei diesen
Patienten auch andere Symptome einer psychotischen Störung vor [3]. Körperdysmorphe Störungen ohne Einsicht werden nur noch unter der Gruppe der Zwangsstörungen
und nicht mehr bei den psychotischen Störungen klassifiziert, selbst wenn diese wahnhafte
Formen annehmen [4]. In den wenigen vorliegenden Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen, konnte
gezeigt werden, dass die Einsichtsfähigkeit negativ mit dem Alter korreliert und auch
bei einem höheren Schweregrad der Zwänge und bei gleichzeitig vorliegenden Angststörungen
reduziert ist [5], [6]. Bei reduzierter Einsichtsfähigkeit wurde eine schlechtere Therapieresponse auf
SSRIs, aber auch auf verhaltenstherapeutische Interventionen beobachtet [7].
Tipp für die Praxis
Beurteilen Sie immer die Einsichtsfähigkeit der Betroffenen. Bei Kindern ist diese
oft allein aufgrund des Entwicklungsstandes reduziert. Trotzdem muss bei fehlender
oder eingeschränkter Einsichtsfähigkeit immer die Differenzialdiagnose einer Psychose
bedacht werden.
Komorbiditäten
Komorbide psychische Störungen sind wie bei anderen psychischen Störungen im Kindes-
und Jugendalter sehr verbreitet und liegen bei Zwangsstörungen mit bis zu 70% vor
[3], [8], [9].
Merke
Je ausgeprägter die Zwangserkrankung, umso wahrscheinlicher scheinen auch Komorbiditäten
aufzutreten [10].
Die relevantesten Komorbiditäten der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter sind
unter [Tab. 1] gelistet.
Bei Knaben und jüngeren Kindern sind Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) und Tic-Störungen hervorzuheben, wohingegen bei Mädchen und Jugendlichen eher
Essstörungen zusätzlich auftreten. Angststörungen sowie depressive Störungen treten
bei allen Altersgruppen und geschlechtsunabhängig häufig komorbid auf. Mit zunehmendem
Alter können auch Persönlichkeitsstörungen hinzukommen.
Tab. 1 Komorbidität der Zwangsstörungen über das gesamte Kindes- und Jugendalter (Mediane)
nach Wewetzer [11].
|
Komorbidität
|
Häufigkeit
|
|
Angststörungen
|
38%
|
|
Depressionen
|
33%
|
|
ADHS und expansive Störungen
|
29%
|
|
Tic-Störungen
|
20%
|
Das DSM-5 verlangt ebenfalls neu im Vergleich zum DSM-IV ausdrücklich eine Spezifizierung
eines Subtyps von Zwangsstörungen mit einer zusätzlich auftretenden Tic-Störung. Diskutiert
werden gemeinsame genetische Risikofaktoren für Zwänge und Tics, aber auch für ADHS,
da z. B. diesen Störungen eine Inhibitionsstörung zugrunde zu liegen scheint. Auch
scheint es eine eher motorische Form von Zwängen (ohne primär zugrunde liegender Angst)
zu geben, die den Tic-Störungen verwandt zu sein scheint (siehe auch [12]). Die komorbiden Störungen wurden auch als Prädiktoren für den Behandlungserfolg
beschrieben. Patienten mit Zwängen und gleichzeitigen Tic-Störungen, ADHS oder einer
Störung mit oppositionellem Trotzverhalten sprachen weniger positiv auf SSRI und auch
auf kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung an [13], [14].
Tipp für die Praxis
Im DMS-5 muss neu immer die Einsichtsfähigkeit und die Komorbidität mit Tic-Störungen
beurteilt werden. Beide Symptombereiche sind wesentliche Prädiktoren für das Ansprechen
auf die Behandlung.
Der potenziell gemeinsame Verlauf der häufig auftretenden, komorbiden Störungen (nach
[15]) zeigt, dass ADHS und Tic-Störungen ihren Erkrankungsbeginn immer im Kindesalter
haben und ein Teil der Zwangsstörungen ebenfalls in einer ähnlichen Altersgruppe und
teilweise sogar besonders früh beginnt. Im Vergleich zu Zwängen und ADHS reduzieren
sich die Tic-Störungen tendenziell mit der Zeit deutlicher von selbst ([Abb. 1]; siehe auch [12]).
Abb. 1 Altersabhängiger Beginn und Verlauf von Tics, ADHS und Zwang (nach [15]).
Differenzialdiagnostisch sind Zwangshandlungen teilweise schwer von komplexen Tic-Störungen
abzugrenzen. Vor allem, wenn komplexe Tics ein ganzes Handlungsmuster umfassen, wie
z. B. Hüpfen und Springen oder Klopfen oder mit den Fingern speziell tippen etc. Entscheidend
ist aber in der Regel, dass hinter dem Zwang eine Intention zu finden ist, was bei
Tic-Störungen so nicht der Fall ist.
Merke
Die Zwangshandlung ist für den Patienten mit Zwangsstörung nicht per se angenehm,
sondern durch die ständige Wiederholung sehr quälend. Die sich dauernd wiederholenden
Tics hingegen sind meistens eher für die Umwelt unangenehm. Die Patienten leiden oft
mehr unter der Reaktion der Umwelt als unter dem Tic selbst.
Tipp für die Praxis
Für differenzialdiagnostische Beurteilung von Zwängen und Tics sollte man den Zweck,
der dem Verhalten zugrunde liegt, betrachten. Während der Zwang oftmals einen Zweck
verfolgt (z. B. eine Angst zu reduzieren), dient ein sich wiederholender Tic keinem
Zweck.
Epidemiologie und Prävalenz
Epidemiologie und Prävalenz
Zwangsstörungen treten kulturübergreifend in allen Teilen der Welt auf. Die Prävalenz
im Kindes- und Jugendalter beträgt etwa 1 – 3% [3]. Nach der „Comorbidity Survey Replication“ war etwa jeder fünfte Betroffene bereits
vor dem Alter von 10 Jahren an seiner Zwangsstörung erkrankt [16]. Die Altersverteilung ist bimodal, ein erster Erkrankungsgipfel scheint in der Kindheit
im 11. Lebensjahr und ein zweites Maximum im frühen Erwachsenenalter im 23. Lebensjahr
vorzuliegen [17]. Es gibt Hinweise darauf, dass im Kindesalter Jungen etwas häufiger betroffen sind
als Mädchen. Ab dem Jugendalter wurden jedoch keine bedeutsamen Geschlechtsunterschiede
mehr beschrieben.
Verlauf
Verlaufsstudien im Kindes- und Jugendalter zeigen wie im Erwachsenenalter eine deutliche
Chronifizierung. In einer Metaanalyse und in einer deutschsprachigen prospektiven
Verlaufsstudie wurden 5 Jahre nach Beginn der Erkrankung mittlere Persistenzraten
von 40% für das Vollbild und von 60% unter Berücksichtigung subklinisch ausgeprägter
Zwangsstörungen beobachtet [18]. Untersuchungen zum Schweregrad direkt nach der Therapie sowie zum Follow-up-Zeitpunkt
zeigen jedoch jeweils signifikante Verbesserungen [19], [20], [21]. Zusammenfassend scheinen viele Patienten auch noch nach einer Therapie die Kriterien
der Zwangsstörung zu erfüllen, wobei aber der Schweregrad deutlich abgenommen hat
und die Beeinträchtigung soweit reduziert war, dass die Betroffenen eine gute Lebensqualität
erleben. Für einen guten oder negativen Verlauf scheinen besonders relevant die soziale
Integration, die altersgemäße Verselbstständigung von der Herkunftsfamilie und der
Partnerschaft [19]. Prognostisch günstig erwiesen sich vor allem
Der Früherkennung einer Zwangsstörung kommt daher eine besondere Bedeutung zu, da
sie die Prognose entscheidend verbessern kann.
Merke
Je früher Zwangsstörungen erkannt werden, umso besser ist die Prognose. Je früher
die Behandlung beginnt, umso besser ist die psychosoziale Entwicklung im Verlauf der
Zwangsstörung.
Tipp für die Praxis
Bei Verdacht auf eine Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter warten Sie nicht lange,
sondern konsultieren Sie bald einen kinder- und jugendpsychiatrischen Experten.
Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren
Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren
Neben psychosozialen Ursachen, die Auslöser für Zwangsstörungen und bedeutsame aufrechterhaltende
Faktoren sein können, sind auch biologische Faktoren für die Entstehung von Zwangsstörungen
relevant. Insbesondere bei Patienten mit sehr frühem Erkrankungsbeginn stellt sich
die Frage einer biologischen Vulnerabilität, wobei aber dem „Modell-Lernen“ in diesem
Alter eine ebenso wichtige Rolle zukommt. Für die Bedeutung beider Faktoren gibt es
viel Evidenz und beide Faktoren sind letztlich für die Behandlung relevant.
Genetische Komponenten
Zwillingsstudien zeigen, dass die Konkordanz bei monozygoten Zwillingen bei einem
frühen Erkrankungsbeginn höher war als bei Patienten mit Erkrankungsbeginn im Erwachsenenalter
[22]. In einer aktuellen Studie wurden alle dänischen Psychiatriepatienten mit einer
Zwangsstörung der Geburtsjahrgänge 1952 – 2000 untersucht. Es zeigte sich klar, dass
in der Patientengruppe signifikant mehr Familienmitglieder ebenfalls unter Zwängen
litten. Zusammenhänge mit dem Erkrankungsbeginn wurden jedoch nicht gefunden. Neben
der familiären Häufung von Zwangskrankheiten waren auch Tic-Störungen, Affektstörungen
sowie Angststörungen bei den Verwandten, ein mütterliches Geburtsalter von über 35
Jahren, ein jüngeres Alter der Patienten sowie tendenziell auch das männliche Geschlecht
Risikofaktoren für die Entwicklung von Zwangsstörungen [23].
Neben einer großen Gruppe der sogenannten eher „familiär“ auftretenden Zwangsstörungen
findet man aber nahezu genauso häufig sog. „neu erkrankte Patienten, ohne familiäre
Belastung“. In den meisten bisherigen molekulargenetischen Studien ist es noch nicht
gelungen, einzelne Gene, Genvarianten oder in den neuesten Untersuchungen z. B. CNV
(Copy Number Variations) mit hohen Effektstärken als Ursache für Zwangsstörungen zu
finden. Die bisher vielversprechendsten Befunde umfassen Gene in serotonergen, dopaminergen
und glutamatergen Systemen [24]. Diese Gene haben auch für andere psychische Störungen eine Relevanz, wobei aktuell
noch unklar ist, welche zusätzlichen Faktoren, u. a. epigenetische Faktoren, für die
Entstehung der jeweiligen psychischen Störungen ausschlaggebend sind.
Neurobiologische Befunde
Grundsätzlich geht man davon aus, dass bei Patienten mit Zwängen sog. kortico-striato-thalamische
(CST) Regelkreisläufe beeinträchtigt sind ([Abb. 2]) [13]. Diese Netzwerke sind wichtige Feedbackschlaufen für motorische, kognitive und affektive
Prozesse; sie regulieren die Aktivität in den involvierten Hirnregionen. Bei Patienten
mit Zwangsstörungen scheinen sich diese Kreisläufe jedoch nicht im Gleichgewicht zu
befinden, was sich durch strukturelle Bildgebungsbefunde und Aktivierungsunterschiede
in den beteiligten Regionen zeigt [25]. Funktionelle Studien zeigen Auffälligkeiten bei Lern- und Inhibitionsaufgaben.
Nach einer Metaanalyse von Brem und Kollegen findet sich eine Hypoaktivierung insbesondere
im präfrontalen Kortex und im anterioren Cingulum (ACC) – einer Region, die auch mit
immer wiederkehrenden Gedanken in Verbindung gebracht wird [26].
Die Resultate der funktionellen Bildgebung deuten zusammenfassend auf Aktivierungsunterschiede
bei Zwangspatienten in den entsprechenden funktionellen Gehirnnetzwerken hin [26], [27]. Ein Ungleichgewicht der direkten und indirekten Pfade der CST-Kreisläufe könnte
die Hyper- oder Hypoaktivität von spezifischen Gehirnarealen verursachen, die in funktionalen
Bildgebungsstudien genannt werden. Zudem können die Symptome von Zwangspatienten möglicherweise
auch durch ein Ungleichgewicht in den parallelen kognitiven und affektiven Kreisläufen
erklärt werden.
Abb. 2 Vereinfachte Darstellung der kortiko-striato-thalamischen (CST) Bahnen (nach [26]). Abkürzungen: OFC = orbitofrontaler Kortex, ACC = anteriorer cingulärer Kortex,
dlPFC = dorsolateraler präfrontaler Kortex.
Immunologische Faktoren
Zwangssymptome (häufiger auch Tic-Störungen), die in engem Zusammenhang mit Infektionen
durch beta-hämolysierende Streptokokken auftreten, werden unter der Gruppe PANDAS
(Pediatric autoimmune neuropsychiatric Disorders associated with streptococcal Infections)
beschrieben. Die Ursache scheint eine Kreuzreaktion zu sein: von primär gegen beta-hämolysierende
Streptokokken der Gruppe A gerichteten Antikörpern gegen Basalganglien. Die Prävalenz
ist noch unbekannt.
Die Symptome beginnen im Kindesalter (meist zwischen 3 und 12 Jahren) und treten abrupt
und oft mit dramatischer Symptomverschlechterung auf. Zwischen den verschiedenen Episoden
bilden sich die Symptome jeweils wieder zurück, wobei Symptombeginn oder -zunahme
in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Streptokokkeninfekt steht.
Merke
Im Gegensatz zu der sehr häufigen Streptokokkeninfektion ist die Symptomatik der PANDAS
sehr selten.
Snider und Kollegen zeigten erstmals die Wirksamkeit einer antibiotischen Prophylaxe
[28]. PANDAS haben bislang weder im ICD-10 noch im DSM-5 Einzug gehalten und die Antibiotikaprophylaxe
ist bislang mehr Theorie als Praxis. Das neuere Konstrukt sind die PANS (Pediatric
acute-onset neuropsychiatric Syndrome) – Erkrankungen, denen der ebenfalls akute Beginn
gemeinsam ist [29]. Die Symptomatik ist breiter als bei PANDAS und schließt neben Zwangsstörungen Störungen
der Nahrungsaufnahme, aber auch Irritabilität und Depression mit ein. Die Pathogenese
ist noch unklar, man geht aber von einem direkten Zusammenhang mit einer vorangegangenen
oder aktuellen Infektion, metabolischen Störungen oder einer anderen Entzündungsreaktion
aus.
Hintergrundwissen
Diagnostische Kriterien für PANS [29]
A. Abrupter Beginn von deutlichen Zwangssymptomen oder der verminderten Nahrungsaufnahme
B. Mit gleichzeitigem Auftreten ähnlich akuter neurologischer Auffälligkeiten von
mindestens 2 der folgenden Kategorien:
-
Angst
-
emotionale Instabilität oder Depression
-
Aggressivität, Reizbarkeit oder oppositionelles Verhalten
-
Rückschritt in der Verhaltensentwicklung
-
Verschlechterung der schulischen Leistung
-
sensorische oder motorische Auffälligkeiten
-
somatische Symptome (Schlafprobleme, Enuresis oder Harndrang)
C. Die Symptome können durch keine anderen neurologischen oder medizinischen Störungsbilder
erklärt werden.
Kognitiv-behaviorale Modelle
Entsprechend metakognitiv-behavioraler Befunde und Modelle liegen den Zwangsstörungen
dysfunktionale Interpretationsmuster von wahrgenommenen Situationen, Ereignissen und
Gedanken zugrunde ([Abb. 3]).
Merke
Die Zwangspatienten bewerten „eigentlich“ normale Gedanken als aufdringlich oder negativ.
Abb. 3 Modell der kognitiven Hypothese der Ursache von Zwängen (nach [30]).
Diese dysfunktionalen Interpretationsmuster führen unter anderem zu einer verstärkten
Wahrnehmung von Gefahr und persönlicher Verantwortung. Dies resultiert in einem Drang,
die als quälend erlebten Gedanken durch Vermeidungsverhalten zu beenden oder zu neutralisieren.
Der Versuch, die aufdringlichen Gedanken nicht zu denken oder zu unterdrücken, hat
keinen hilfreichen, sondern in der Regel einen gegenteiligen Effekt. Eine kurzfristig
erlebte Erleichterung verstärkt das Verhalten, was die Bedeutung der Gedanken verstärkt.
Dies führt zu einer weiteren Stabilisierung der ständigen Beschäftigung mit dem unangenehmen
Gedanken. Das Unterdrücken verstärkt somit auf längere Sicht die Auseinandersetzung
mit dem aufdringlichen Gedanken und hält die dysfunktionale Beurteilung aufrecht.
Der Betroffene ist in einem Teufelskreis aus aufdringlichen Gedanken und Widerstandsversuchen
gefangen.
Dieses Ursachenmodell von Salkovskis bildet die Grundlage für die kognitiv-behaviorale
Therapie der Zwangsstörungen [30]. Die kognitiven Interventionen arbeiten an der Fehlinterpretation oder Überbewertung
der Gedanken, wobei sich die verhaltenstherapeutischen Anteile mit der Reaktionsverhinderung
befassen (z. B. keine neutralisierenden Handlungen nach Exposition).
Tipp für die Praxis
Das kognitive Modell ist bei Kindern und Jugendlichen nicht immer anwendbar, da die
Kognitionen teilweise noch nicht ausreichend differenziert sind oder noch kaum Einsichtsfähigkeit
vorliegt.
Diagnostik von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Diagnostik von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Die Diagnostik umfasst eine ausführliche Anamnese, Beobachtung, klinische und spezifische
Untersuchung und Verhaltensanalyse.
Praxis
Diagnostik: Verhaltensanalyse [31]
-
Erscheinungsbild und Schweregrad des Zwangs
-
interne und externe Auslöser
-
Erwartungen und Befürchtungen, falls die Zwangsrituale nicht ausgeführt werden könnten
-
Möglichkeiten der Abwehr (mit welchen Verhaltensweisen kann sich der Patient bereits
selbst behelfen?)
-
Reaktionsweisen der (familiären) Bezugspersonen (Involvierung; protektive Ressourcen
und verstärkende Einflüsse)
Multiaxiales Klassifikationsschema
Auf der ersten Achse wird das klinisch-psychiatrische Syndrom diagnostiziert (die
Zwangserkrankung, aber auch komorbide psychische Störungen). Auf den weiteren Achsen
werden umschriebene Entwicklungsstörungen beschrieben (Achse 2), das Intelligenzniveau
betrachtet (Achse 3), eventuelle körperliche Symptome erfasst (Achse 4) sowie aktueller
abnormer intrafamiliärer Beziehungen Rechnung getragen (Achse 5). Auf der 6. und letzten
Achse erfolgt schließlich eine globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
in mehreren Lebensbereichen. Die Ausprägung der Beeinträchtigung, die hier erfasst
wird, ist mit der spezifischen Beurteilung des Schweregrads der Zwangsstörung entscheidend
für die Intensität der Therapie.
Merke
Allgemein sollte die Diagnostik kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen grundsätzlich
in Anlehnung an das multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des
Kindes- und Jugendalters erfolgen [31].
Bei Verdacht auf eine Zwangsstörung sollte die gründliche kinder- und jugendpsychiatrische
Abklärung (Achse 1) mit einem strukturierten klinischen Interview wie z. B. dem K-SADS
[32] oder dem Kinder-DIPS erfolgen [33]. Zusätzlich sollte immer die Childrenʼs Yale-Brown Obsessive-Compulsive Scale CY-BOCS
durchgeführt werden [34]. Eine Checkliste erfasst die einzelnen Symptomarten und im Interview werden verschiedene
wesentliche Aspekte zum Schweregrad dezidiert erfasst (z. B. ob Widerstand geleistet
werden kann). Ein Cut-off-Wert von 16 steht nach Scahill und Riddle für eine milde
bis mittelschwere Zwangsstörung, während man ab einem Wert von 23 von einer mittelschweren
bis schweren Symptomatik spricht [34].
Die CY-BOCS kann den Schweregrad unterschätzen, vor allem dann, wenn bei den Patienten
keine Einsichtsfähigkeit vorliegt und sie nicht den Eindruck haben, dass die Zwänge
sie beeinträchtigen oder z. B. viel Zeit kosten. Die Einsichtsfähigkeit selbst wird
in der CY-BOCS aber miterfasst. Dies erlaubt in den meisten Fällen, die erhobene Einschätzung
einzuordnen.
Tipp für die Praxis
Das standardisierte Interview CY-BOCS gilt als internationaler Goldstandard für die
Einschätzung des Schweregrades einer Zwangsstörung und sollte immer durchgeführt werden.
Die Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung und die Diagnose von Komorbiditäten
auf Achse 1 sind wesentlich, um die optimale Behandlung zu wählen sowie den Behandlungserfolg
einzuschätzen [8].
Behandlung
Die erste Wahl der Behandlung von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist die
kognitive Verhaltenstherapie. Dabei sind die Elemente der Konfrontation mit Reaktionsverhinderung
zentral. Je jünger die Patienten sind, umso wesentlicher ist der Einbezug der Eltern
und Familienmitglieder in die Therapie. Es gibt auch Indikationen für die Kombinationstherapie
mit Medikation oder in sehr seltenen Fällen für die alleinige Therapie mit Psychopharmaka.
Im Folgenden werden die einzelnen Therapieelemente vertieft.
Tipp für die Praxis
Die Behandlung der ersten Wahl bei Zwangsstörungen im Kinder- und Jugendalter ist
die kognitive Verhaltenstherapie. Eine frühe Behandlung über einen längeren Zeitraum
unter Einbezug der Eltern und Familienmitglieder wird empfohlen.
Vor der eigentlichen Intervention steht die Diagnostik und Vorbereitung der Therapie,
die sich in 3 Phasen einteilen lässt ([Tab. 2]). Die Vorbereitungsphase folgt direkt der Diagnostik und schließt die Psychoedukation
und Therapieplanung ein.
Tab. 2 Drei Phasen der Therapie von Zwangsstörungen (nach [35]).
|
Vorbereitung
|
Intensivphase
|
Nachsorge
|
|
Pschoedukation
|
kognitive Interventionen
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Rückfallprophylaxe
|
|
individuelle Therapieplanung
|
Exposition
|
|
|
(Pharmakotherapie)
|
|
In der umfassenden Aufklärung über die Erkrankung können bereits Elemente der narrativen
Therapie verwendet werden [36]. Im Sinne einer Metapher wird dabei „der Zwang“ als ein Wesen (Tier, Krake, Monster
etc.) externalisiert. Der Patient kann sich so in Gesprächen und Rollenspielen mit
dem Zwang auseinandersetzen und sich von ihm abgrenzen. Gemeinsam mit Kind und Eltern
wird ein Erklärungsmodell der Zwänge erarbeitet. Je nach Zwangssymptomatik und Entwicklungsstand
werden dabei lerntheoretische, kognitive oder auch neurobiologische Aspekte sowie
Persönlichkeit, familiäre und soziale Faktoren berücksichtigt.
Merke
Das kognitive Modell bietet sich z. B. immer dann an, wenn Zwangsgedanken sehr dominant
sind, wohingegen das lerntheoretische Modell für die Erklärung von Zwangshandlungen
gut geeignet ist.
Zu Verstehen und zu akzeptieren, dass es neurobiologische Ursachen von Zwängen gibt,
entlastet meist bereits den Patienten und dessen Eltern, speziell, wenn die Erkrankung
als eine Folge falscher Erziehung oder auch Schuld verstanden wird.
Tipp für die Praxis
Das therapeutische Vorgehen sollte auf transparente und verständliche Art vermittelt
werden, damit der Patient stets die Kontrolle über den Therapieprozess behält. Dieses
Vorgehen fördert die Compliance und stärkt die Therapeut-Patient-Beziehung.
Psychotherapie
Kognitive und Verhaltenstherapien
Kognitive Therapieverfahren gehören zum Standard bei der Behandlung von Zwangsstörungen,
da der Überbewertung von Gedanken ein entscheidender Faktor bei der Entstehung von
Zwangsgedanken zukommt (kognitives Modell) [30], [37]. Kognitive Interventionen unterstützen die direkte Auseinandersetzung mit den Zwangsgedanken
und -befürchtungen. Dem Patienten wird vermittelt, dass die Vermeidung und Unterdrückung
schlimmer Gedanken nicht funktioniert, denn je mehr man versucht einen Gedanken nicht
zu denken, desto häufiger und drängender tritt dieser auf („paradoxer Effekt der Gedankenunterdrückung“).
Merke
Der Schwerpunkt kognitiver Interventionen liegt auf der Identifikation und Veränderung
von dysfunktionalen Denkinhalten (kognitive Umstrukturierung).
Kognitive Interventionen können auch das Ziel haben, dysfunktionale Einstellungen
zu verändern. Damit sind Einstellungen gemeint, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung
der Zwänge relevant sind. Ein übertriebenes Verantwortungsgefühl, wie es z. B. auch
in der CY-BOCS erfragt wird, kann den „Nährboden“ für massive Ängste und Befürchtungen
bilden.
Exposition mit Reaktionsmanagement
Die Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) ist ein zentrales Wirkelement der kognitiven
Verhaltenstherapie. Bei der ERM konfrontiert sich der Patient mit den von ihm gefürchteten
Situationen oder Gegenständen, ohne Zwangshandlungen auszuführen oder die Situation
zu vermeiden. Die dadurch entstehenden negativen Gedanken, Gefühle (z. B. Angst, Sorge,
Ekel etc.) oder körperlichen Symptome werden so lange ausgehalten, bis diese von selber
in ihrer Intensität abnehmen. Das Prinzip der Gewöhnung (Habituation) führt dazu,
dass die Reaktion eines Organismus auf den gleichen Reiz bei wiederholter Darbietung
abnimmt.
Tipp für die Praxis
Im Kinder- und Jugendbereich ist eine graduierte Expositionsbehandlung (ansteigender
Schwierigkeitsgrad) grundsätzlich einem massierten Vorgehen (sofortige Konfrontation
mit der schwierigsten Situation) vorzuziehen. Ein massiertes Vorgehen birgt die Gefahr
einer emotionalen Überforderung des Kindes. Expositionsübungen sollten einen möglichst
hohen Bezug zu den realen Bedingungen haben. Daher ist eine Exposition in vivo (in
der Realität) einer Exposition in sensu (in der Vorstellung) vorzuziehen.
Eine ERM muss immer individuell auf den einzelnen Patienten und seine Zwänge ausgerichtet
sein. Eine detaillierte Beschreibung des Vorgehens bei Expositionen für Kinder und
Jugendliche mit Zwangsstörungen findet sich bei [35].
Hintergrundwissen
Zentrale Punkte der Behandlungsstrategie: Exposition
-
Einsicht in die Behandlungsstrategie (der Patient versteht und akzeptiert das Vorgehen)
-
Erstellung einer Hierarchie von zwangsauslösenden Reizen (die Exposition beginnt graduell)
-
Therapeutenbegleitung bei anfänglichen Expositionen
-
häusliches Umfeld: Zwänge dort behandeln, wo sie auftreten
-
Selbstmanagement: zunehmende Verantwortungsübernahme für die Exposition durch den
Patienten
Beispiele für erfolgreiche Behandlungskonzepte
basierend auf KVT
Im deutschsprachigen Raum liegt ein Therapiemanual für die Behandlung von Zwangsstörungen
bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 – 18 Jahren vor [35]. Dieses Manual ist für die Einzeltherapie konzipiert und für die ambulante Therapie
zugeschnitten, aber auch bei stationären Patienten anwendbar. Es ist modular aufgebaut,
die Module können flexibel kombiniert werden; damit ist die Dauer des Therapieprogramms
variabel. Folgende Module finden sich:
-
Modul I – Diagnostik,
-
Modul II – Psychoedukation
-
Modul III – erste therapeutische Eingrenzung
-
Modul IV – kognitive Interventionen
-
Modul V – Exposition mit Reaktionsmanagement
-
Modul VI – Psychopharmakotherapie
-
Modul VII – Nachsorge
Merke
Die Module Diagnostik, Psychoedukation und Nachsorge sollten grundsätzlich durchgeführt
werden.
Jedes Modul hat einen ähnlichen Aufbau: Es ist gegliedert in Hintergrundwissen, Beschreibung
der Sitzungen, Diskussion möglicher Probleme und enthält Fallbeispiele. Die Sitzungen
sind im Ablauf gegliedert. Der Einstieg in die Sitzung beinhaltet gerade bei Kindern
einen Elternkontakt. Daran schließt sich die Besprechung der therapeutischen Hausaufgabe
an. Hierzu werden in einer Kinder- und Jugendlichenversion Info- und Arbeitsblätter
eingesetzt.
Das Computerspiel Ricky und die Spinne (www.rickyandthespider.uzh.ch) soll die Chance auf eine möglichst frühzeitige verhaltenstherapeutische Behandlung
kindlicher Zwangserkrankungen erhöhen und Psychotherapeuten in ihrer Arbeit mit zwangserkrankten
Kindern unterstützen. In seinem Intro und den 8 „Levels“ sowie in Hausaufgaben integriert
es die wichtigsten Behandlungselemente des verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Ricky
und die Spinne bietet eine ansprechende und kindgerechte Metapher, mit deren Hilfe
die Zwangserkrankung, ihre Folgen und ihre Behandlung besser verstanden werden können.
Merke
Ein Computerspiel ermöglicht heute einen guten Zugang zu Kindern, von denen dies meist
als attraktiv empfunden wird.
Ricky und die Spinne kann nur im Rahmen einer Therapie eingesetzt werden. Eine erste
Evaluation von Ricky und die Spinne an 18 zwangserkrankten Kindern zeigte, dass alle
Kinder das Spiel schätzten und angaben, ihre Zwänge hätten sich durch die Behandlung
stark gebessert. Die Therapeuten ihrerseits beurteilten Ricky und die Spinne als wertvolle
Unterstützung bei der Behandlung von Zwangserkrankungen [38].
Bedeutung der Angehörigen und Familieneinbindung
Unter Familieneinbindung oder „Family Accommodation“ versteht man gut gemeintes, aber
ungünstiges Verhalten von Eltern oder anderen Angehörigen, das zur Aufrechterhaltung
einer Zwangserkrankung beiträgt und damit die Wirksamkeit einer verhaltenstherapeutischen
Behandlung erschwert. Es geht dabei vor allem um eine übertriebene Anpassung des Familienalltags
an die Zwänge, bis hin zur direkten Unterstützung bei deren Ausführung [39]. Bei kindlichen Zwangserkrankungen ist die Einbindung der Familie oft besonders
ausgeprägt. Es kann zu sehr heftigen Szenen mit Beschimpfungen, aber auch körperlicher
Gewalt seitens des Kindes kommen, wenn Eltern sich weigern, das Kind bei der Ausführung
seiner Zwänge zu unterstützen [19]. Der Einbezug der Eltern in die verhaltenstherapeutische Behandlung eines zwangserkrankten
Kindes ist deshalb längst allgemeiner Standard. In einer neueren Studie erwies sich
das Ausmaß der Familieneinbindung als prognostisch relevanter Faktor für den Therapieerfolg
[40]. Die gleiche Forschergruppe hat die Einbindung der Eltern bereits in der ersten
Sitzung thematisiert und mit den Eltern gezielt alternatives Verhalten geübt [41]. Keine der Familien brach die intensive Behandlung ab, und die Eltern äußerten sich
sehr zufrieden mit der Therapie.
Pharmakotherapie
Die erste Wahl der Behandlung von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist wie
beschrieben die KVT. In gewissen Fällen kann jedoch die Indikation für eine Pharmakotherapie
gegeben sein. Eine weiterführende Darstellung der Pharmakotherapie von Kindern und
Jugendlichen mit Zwangsstörungen findet sich im Lehrbuch Neuropsychopharmakotherapie
des Kindes- und Jugendalters, Kapitel Behandlung der Zwangsstörung [42].
Die Kombination von KVT und Psychopharmakotherapie zeigte sich in der bisher größten
kontrollierten Untersuchung (POTS 2004) am effektivsten [43]. In einer aktuellen Metaanalyse von 18 kontrollierten Studien zeigte sich für eine
alleinige KVT eine Effektstärke von d = 1,203, für eine alleinige pharmakologische
Behandlung eine Effektstärke von d = 0,745 und für eine kombinierte Behandlung von
d = 1,704 [44].
Cave
Eine Pharmakotherapie muss in jedem Fall in ein multimodales Behandlungsprogramm eingebettet
sein.
Praxis
Indikation für eine Pharmakotherapie [42]
Die Indikation besteht, wenn die Symptome so ausgeprägt sind, dass das Kind oder der
Jugendliche in seiner sozialen Integration (z. B. Schulbesuch nicht mehr möglich)
massiv beeinträchtigt ist und eine KVT aufgrund der Schwere der Symptomatik nicht
durchgeführt werden kann. In folgenden Situationen ist eine Pharmakotherapie angezeigt:
-
Die Motivation für eine KVT ist (noch) nicht gegeben und die Bereitschaft dazu könnte
durch die Medikation erhöht werden.
-
Die KVT kann wegen bestehender Wartezeiten oder nicht vorhandener Ressourcen nicht
durchgeführt werden.
-
Es besteht eine deutlich ausgeprägte komorbide depressive Störung.
-
Vorherrschende Zwangsgedanken.
SSRI – Medikamente der ersten Wahl
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sind die erste Wahl für die medikamentöse
Behandlung einer Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter. SSRI zeigen ein gutes Wirkungsprofil
bei vergleichsweise wenig Nebenwirkungen. Die Studienlage zeigt, dass die SSRI im
Vergleich zu einem Placebo bei Kindern und Jugendlichen wirksam sind und zu einer
klinisch relevanten Reduktion der Zwangssymptomatik führen. In kontrollierten Studien
waren Fluoxetin, Fluvoxamin und Sertralin der Placebobehandlung überlegen [42]. In den meisten Studien wurde der Behandlungserfolg mit der schon erwähnten CY-BOCS
ermittelt, die auch der Verlaufsmessung von Behandlungserfolg dient [34].
Dosierungen von SSRI bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
Da mit dem Wirkungseintritt von SSRI in der Regel erst nach 4 – 10 Wochen zu rechnen
ist, ist auch ein möglicher Therapieerfolg erst nach 10 – 12 Behandlungswochen beurteilbar.
Bei allen SSRI sollte die Tagesdosis am Morgen verabreicht werden. Einzig Fluvoxamin
hat eine sehr viel kürzere Halbwertszeit und hier empfiehlt es sich, die Tagesdosis
auf 2 Gaben, morgens und abends, aufzuteilen. In kontrollierten Untersuchungen wurden
die SSRI höher dosiert, als es bei der Behandlung einer Depression im Kindes- und
Jugendalter üblich ist. Die amerikanischen Leitlinien empfehlen ebenfalls eine regelmäßig
höhere Dosierung, als in der Behandlung der Depression oder auch Angst üblich ist
[45]. So werden Kinder und Jugendliche mit einer Depression überwiegend z. B. mit Fluoxetin
mit einer Tagesdosis von 10 – 20 mg behandelt, während bei der Behandlung der Zwangsstörungen
zwischen 20 und bis zu 60 mg täglich eingesetzt wird.
Praxis
Vorgehensweise am Beispiel von Sertralin [42]
Bei Beginn der Therapie wird Kindern eine Tagesdosis von 25 mg am Morgen verabreicht.
Bei Jugendlichen kann auch mit 50 mg begonnen werden. Dann wird wöchentlich um 25 mg
bis zur Besserung der Zwangssymptomatik erhöht. Die Tageshöchstdosis liegt bei Kindern
zwischen 50 und 100 mg und bei Jugendlichen zwischen 75 und 200 mg.
Medikation der zweiten Wahl
Falls ein Patient nicht auf ein SSRI anspricht, sollte ein anderes SSRI gegeben werden
– z. B. nach dem Beginn mit Sertralin dann Fluvoxamin. Neben SSRI wurde vor allem
bei Erwachsenen das trizyklische Antidepressivum Clomipramin eingesetzt. In 2 Metaanalysen
von randomisierten, kontrollierten Studien zu SSRI und Clomipramin bei pädiatrischen
Patienten war Clomipramin noch wirksamer als die SSRI [44], [46]. Es traten jedoch gerade im Kindes- und Jugendalter unter Clomipramin mehr unerwünschte
Arzneimittelwirkungen und Studienabbrüche auf als unter den SSRI [47], daher wird es in der Regel nicht als „erstes“ Zweite-Wahl-Medikament eingesetzt.
Trizyklische Antidepressiva verfügen generell über eine geringe therapeutische Breite
und weisen gegenüber SSRI ein erhöhtes Risiko für Intoxikationen und kardiologische
Nebenwirkungen auf [48], [49]. Speziell bei Kindern und Jugendlichen sind SSRI demnach den trizyklischen Antidepressiva
in der Behandlung von Zwangsstörungen, aber auch bei Angststörungen und Depression
nach dem heutigen Wissensstand immer vorzuziehen.
Praxis
Zugelassene Medikation bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
In Deutschland sind Sertralin (ab dem 6. Lebensjahr) und Fluvoxamin (ab dem 8. Lebensjahr)
für die Behandlung von Zwangsstörungen zugelassen.
Insgesamt sollte der Einsatz von Medikation aber immer zurückhaltend erfolgen. Langzeitwirkungen
von SSRI auf das sich entwickelnde Gehirn sind kaum untersucht. Es gibt jedoch einige
wenige Studien mit wiederum sehr kleinen Fallzahlen, die zeigen, dass Antidepressiva,
und darunter auch die SSRI, Effekte auf die Mikrostruktur der weißen Substanz bei
Patienten mit Zwangsstörungen haben könnten, die bei nicht medikamentös behandelten
Patienten oder Gesunden nicht zu sehen waren [50].
SSRI können gerade im Jugendalter das Risiko für suizidale und aggressive Verhaltensweisen
erhöhen [51]. Im Vergleich zum Erwachsenenalter kam es aber in den bisherigen Metaanalysen bei
Kindern und Jugendlichen unter Studienbedingungen unter Medikation zu keinem Todesfall.
Merke
Unter Medikation sollte eine sehr engmaschige Wirkungs- und Nebenwirkungskontrolle
erfolgen.
Kernaussagen
Zwangsstörungen sind schon im Kindes- und Jugendalter häufig auftretende und sehr
beeinträchtigende Erkrankungen. Die Erkrankung wird häufig lange verheimlicht oder
bei Kindern nicht als solche erkannt. Wie bei nahezu allen psychischen Erkrankungen
liegen häufig andere psychische Störungen komorbid vor. Hervorzuheben sind die Tic-Störungen,
die – wenn sie gemeinsam mit Zwängen auftreten – eine besondere Entität zu bilden
scheinen. Das Vorliegen oder Fehlen von Einsicht hat eine besondere diagnostische
und therapeutische Relevanz. Die erste Wahl der Behandlung ist die kognitive Verhaltenstherapie.
Sollte eine Kombination oder alleinige Psychopharmakotherapie indiziert sein, sind
selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer im Kindes- und Jugendalter die erste Wahl.
Der Einbezug der Eltern ist vor allem bei Kindern relevant. Je früher die Behandlung
beginnt, umso besser ist die Prognose.
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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Susanne Walitza, Zürich.