Z Sex Forsch 2017; 30(02): 201-203
DOI: 10.1055/s-0043-109210
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Zygmunt Bauman (19. November 1925 – 09. Januar 2017)

Artur Becker
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Publication Date:
23 June 2017 (online)

Mit seiner ersten Frau lebte Zygmunt Bauman 62 Jahre. Er hat das Rauchen nie aufgegeben: In mehr als 75 Jahren konnte ihn der Nikotinkonsum nicht töten. Bis zum Schluss bezeichnete er sich als einen Sozialisten, und seine Liaison mit den polnischen Kommunisten, die 1945 begann, erklärte er oft damit, dass er im Sozialismus die Kontinuation der Ideen der Aufklärung erkannt habe. Und dass er naiv gewesen sei. Seine Tätigkeit in der Uniform des politischen Offiziers während des Stalinismus sowie die jüdische Herkunft brachten 1968 auch ihn in Schwierigkeiten; er musste im Zuge der Säuberung der kommunistischen Reihen und der antisemitischen Welle emigrieren, und es folgten Lehrtätigkeiten in Tel Aviv, Haifa und Leeds. Bis heute ist Bauman in Polen, vor allem in den rechtsnationalen Kreisen, eine umstrittene Persönlichkeit, wenn er auch in den Neunzigern des vorigen Jahrhunderts in seiner Heimat eine beispiellose Erfolgswelle erlebt hatte. Zygmunt Bauman musste jeder kennen, jeder lesen.

Aber erst sein Spätwerk „Modernity and the Holocaust“ von 1989 (dt. 1992) zementierte seinen Ruf als brillanten Kritiker „der Moderne und ihres Abfalls, nämlich der Postmoderne“ (wobei wir diese schöne Definition der Warschauer Philosophin Magdalena Środa zu verdanken haben, die kurz nach Baumans Tod in der „Gazeta Wyborcza“ das Werk ihres Kollegen in wenigen Bonmots charakterisierte). Bei der Lektüre des Essaybandes kommt man jedenfalls aus dem Staunen nicht heraus, [Hannah Arendts (1964)] Entmythologisierung und Dekonstruktion der nationalsozialistischen Ideologie und ihres pseudognostischen Kampfes gegen das Böse (im Judentum und Bolschewismus) werden bei Bauman auf die Spitze getrieben – der Holocaust sei nur deshalb möglich gewesen, weil die moderne und rationale Gesellschaft über bürokratische und technologische Werkzeuge einer hochentwickelten Kultur und Zivilisation verfügt habe, um solch eine Leistung wie die Organisierung eines Genozids durchführen zu können. Mit anderen Worten: Die Aufklärung auf Abwegen habe auch negative Strömungen hervorgebracht, die die Moderne aufgesogen und vervollkommnet habe.

In seinem anderen Spätwerk fällt Bauman noch etwas Bahnbrechendes ein, denn er will der Moderne nicht nur auf den Zahn fühlen – deshalb wohl spricht er in seinen letzten Essays von der „Flüchtigen Moderne“; es ist eine hochsensible Beschreibung unserer Zeit, die – laut dieser Diagnose – kein Interesse an der Vergangenheit oder Zukunft habe, sondern nur daran, den Augenblick möglichst intensiv (wahrhaftiger als beim letzten Mal) zu erleben. Identitäten würden getauscht wie Kleider, und selbst die Freiheit – der Drang nach Freiheit – verliere an Attraktivität, sobald die Sicherheit im Spiel sei, die Gewissheit, dass man noch einen besseren und schnelleren Zugang zum Glück – letztendlich auch zum Orgasmus (!) – finden könne. Das ist Bauman, wie er leibt und lebt. In seiner Essaysammlung „Leben in der Flüchtigen Moderne“ von 2007 (dt.) schreibt er: „Die mit der Individualisierung und Privatisierung des Strebens nach Glück verbundenen Risiken, die aufgrund der graduellen, aber stetigen Demontage der sozialen Strukturen und Netze kollektiver Vorsorge gegen das Unglück noch wuchsen, erwiesen sich als enorm, die damit verbundene Unsicherheit als entmutigend. Ein Leben mit ein bisschen mehr Sicherheit und Gewissheit erscheint uns plötzlich als wesentlich attraktiver, selbst wenn wir dafür Einschnitte im Bereich der persönlichen Freiheit hinnehmen müssten“ (ebd.: 118).

Nun muss man auch loben und hervorheben, was Bauman über die Postmoderne und ihren Umgang mit der Sexualität zu sagen hat. Ähnlich wie Octavio Paz macht der polnische Soziologe aus den drei Geschwistern „Sex, Erotik und Liebe“ ein feuriges Gespann, in dem jedes Zugpferd seine Aufgabe zu erfüllen hat. Die poetisch-literarische Inspiration, die sich Bauman bei Paz und seinem 1971 in Madrid veröffentlichten Text „Sexualität und Erotik“ (dt. 1979) holt, dient dem Soziologen dabei als eine Art Sprungbrett für seine eigenen Analysen dieses Dreiergespanns (nebenbei bemerkt staunt man, wie rational und distanziert der mexikanische Dichter über die Liebe schreiben kann!). Jedenfalls ist in Baumans von Paz inspirierten, vielerorts besprochenen und reflektierten Essay „Über den postmodernen Gebrauch der Sexualität“ von 1998 (dt.) ein Punkt besonders einleuchtend und fesselnd herausgearbeitet worden: der Umgang des heutigen (sprich: postmodernen) Menschen mit dem Orgasmus. Bauman schreibt, nachdem er zuvor in seinem Text die Entwicklung der Sexualität im 19. und 20. Jahrhundert dramatisch beleuchtet hatte: „In ihrer postmodernen Gestalt ist sexuelle Aktivität vor allem orgasmuszentriert; im Grunde genommen dreht sich postmoderner Sex um den Orgasmus. Seine allerwichtigste Aufgabe ist die Bereitstellung von immer intensiveren, unendlich verschiedenen, möglichst neuen und unvorhersehbaren Erlebnissen […]“ (ebd.: 24). Der polnische Soziologe bringt noch in diesem Zusammenhang den Begriff der Unsterblichkeit ins Spiel, denn sobald der Orgasmus ein Komplize und Bruder der Liebe werde, die schließlich in ihrer Zuneigung und Hingabe für ihren Nächsten das höchste geistige Gut im Dienste für die anderen sei, könne das Liebespaar die dunkle Anziehung des Animalischen und damit des Sterblichen überwinden und somit der Ewigkeit ein Stück näher kommen.

Baumans Aufteilung des feurigen Dreiergespanns ist klarsichtig: Sex als Ausdruck der Materie, Erotik als ein Kulturgut und die Liebe als ein Akt des Mitgefühls und der Überwindung des Todes leuchten einem sofort ein und werden thematisch noch für viele Bücher erfolgreich füllend sein, doch im Schatten „der postmodernen Verhältnisse“ ist seine Analyse der Rolle des Orgasmus gar nicht optimistisch bzw. erfreulich. Eher zeichnet er ein düsteres Bild des postmodernen Menschen, da in seinem Text plötzlich die Rede von Verflachung des Zeiterlebens und Konzentrierung auf den flüchtigen Moment ist. Man gewinnt den Eindruck, die postmoderne Erotik werde von uns benutzt, um unsere ontologischen und konsumgebundenen Ängste zu bekämpfen, die jedoch im Zuge dieser Auseinandersetzung gar nicht kleiner würden, sondern noch größer.

Artur Becker (Verden)

 
  • Literatur

  • Arendt H. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper; 1964
  • Bauman Z. Modernity and the Holocaust. Oxford: Polity Press; 1998. Dt. Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, übers. aus dem Engl. von Uwe Ahrend. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992
  • Bauman Z. Über den postmodernen Gebrauch der Sexualität, übers. aus dem Engl. von Arne Dekker und Silja Matthiesen. In: Schmidt G, Strauss B. Hrsg. Sexualität und Spätmoderne. Stuttgart: Enke; 1998: 17-36
  • Bauman Z. Leben in der Flüchtigen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2007
  • Paz O. Essays I. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1979
  • Środa M. Zygmunt Bauman, pielgrzym w świecie turystów. Gazeta Wyborcza, 13.01.2017.