Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(09): 513
DOI: 10.1055/s-0043-113258
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Handbuch der Antisozialen Persönlichkeitsstörung

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Publication Date:
07 September 2017 (online)

Ausgewiesene Fachleute legen einen umfassenden, aktuellen Überblick über die Vielschichtigkeit und Heterogenität der Antisozialen Persönlichkeitsstörung – auch als Psychopathie, Soziopathie oder Dissoziale PST benannt – als diagnostischer Einheit vor. Kennzeichnend ist nach DSM-5 ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das in Kindheit oder frühen Adoleszenz beginnt und bis in das Erwachsenenalter fortdauert; das ICD-10 führt unter den diagnostischen Merkmalen ein „herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer“ an. Die vier Herausgeber heben einleitend hervor, dass diese Patienten in der stationären und ambulanten Versorgung immer häufiger anzutreffen sind und zugleich unter den Behandlern eine Unsicherheit hinsichtlich Diagnostik und Behandlung verbreitet sei. Da bislang Wirksamkeitsnachweise spezifischer Psychotherapien anders als z. B. für die Borderline-Persönlichkeitsstörung noch unzureichend sind, fordern sie intensive Anstrengungen in der Therapieforschung. Konsequent widmen sich ein Drittel der 47 Kapitel dem Schwerpunkt Behandlung.

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Der erste Teil fasst komprimiert (Wissenschafts) Geschichte und epidemiologisches Wissen zusammen, gefolgt von grundlegenden Ausführungen zu u. a. genetischen Erkenntnissen (unbefriedigend), Schuldfähigkeit (in der Regel gegeben) und kriminalprognostischer Relevanz (hoch). Vor dem Hintergrund der unabgeschlossenen Kontroverse um die allzu häufigen Überschneidungen zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen vereinigt der dritte Teil „Klassifikation und Diagnostik“ erwartungsgemäß divergierende, differenzialdiagnostische Perspektiven. Ein vierter Teil resümiert empirische Evidenz (schmal) und Versorgungsüberlegungen zu unterschiedlichen Themen wie Impulsivität, selbstverletzendem Verhalten, psychotischem Erleben, Inhaftierung und Sexualität. Souverän wird z. B. professionelle Differenziertheit angemahnt, „innerhalb unserer durch Pathologien vorgeprägten Sicht zu vermuten, dass alle Personen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung gleichzeitig auch sexuell gestört sind“ (S. 380).

Weitgehend übereinstimmend werden diese Menschen als therapeutisch vergleichsweise schwer zugänglich gesehen und hierfür z. B. ihr ausgeprägter Empathiemangel oder ihre Tendenz, Probleme zu externalisieren, verantwortlich gemacht. In der Regel fremdmotiviert für psychotherapeutische Interventionen, überraschen einerseits hohe Abbruchraten nicht, lassen andererseits Eigenmotivation erst zu einem Behandlungsziel werden. In den zahlreichen Kapiteln zur Behandlung teilt dennoch die Mehrzahl der Autoren die Hoffnung, sie durch menschliche Zuwendung schließlich zu erreichen – unter der Voraussetzung, besonders sorgfältig die eigene Gegenübertragung zu reflektieren. Verschiedene psychodynamisch fundierte Verfahren wie die Übertragungsfokussierte Psychotherapie, integrative Ansätze, die Mentalisierungsbasierte Therapie, Dialektisch-Behaviorale Therapie, Schematherapie, Klärungsorientierte Therapie finden sich kritisch, auch auf spezielle Settings (z. B. Forensik, Gruppe) und komorbiden Substanzenkonsum bezogen diskutiert. Wie hilfreich die solide Praxiserfahrung der zahlreichen Co-Autoren ist, zeigt sich z. B. in Ausführungen über die Wechselbeziehung von Angst und aggressivem Verhalten (Birger/Raub): In ängstigenden Situationen können aggressive Gereiztheit und Gespanntheit, psychodynamisch verstanden, als Bewältigungsstrategien und somit sinnvolle „Abwehroperationen“ gelten. Ausgehend von einem Cochrane Review kommt eine differenzierte Sichtung randomisiert kontrollierter Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Ansätze zu dem Schluss: Wirksame Behandlungen der antisozialen Persönlichkeitsstörung orientieren sich an kognitivverhaltenstherapeutischen Prinzipien und bieten strukturierte, belohnungsorientierte Interventionen an. Einschränkend wird ergänzt, dass sich zu wenige Untersuchungen auf die Kernsymptomatik Empathiemangel und Impulsivität konzentrieren und mehrheitlich ambulante Patienten rekrutieren; wegen der Heterogenität des Störungsbildes fehlen aber Langzeitstudien mit größeren Stichproben, die z. B. auch Jugendliche einbeziehen und Grundlage für spezifische präventive Maßnahmen sein können.

Ein Handbuch soll zu einer Fülle von Aspekten kompetent und kompakt informieren – diese Monografie ist als richtungsweisendes Nachschlagewerk für jede Klinikbibliothek anzuschaffen! Hilfreich und zur ersten Orientierung zu empfehlen ist das abschließende Fazit am jeweiligen Kapitelende: Es bündelt prägnant Ergebnisse und offene Fragen. Eindrucksvoll illustrieren Fallbeispiele, wie vielfältig sich diese Persönlichkeitsstörung manifestieren kann. Das Sachverzeichnis erleichtert zwar das Nachschlagen, ist aber in seinen Textzuordnungen nicht immer nachvollziehbar.