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DOI: 10.1055/s-0043-113919
Occupational Science – Betätigung verstehen
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Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
09. Oktober 2017 (online)
Wer sich intensiver mit dem Kern der Ergotherapie beschäftigen will, kommt an der Occupational Science nicht vorbei. Diese interdisziplinäre Wissenschaft beleuchtet Fragen rund um die menschliche Betätigung und liefert Ergotherapeuten damit wichtige Erkenntnisse für ihre praktische Arbeit.
Was heißt eigentlich „bedeutungsvolle Betätigung“? Wie entsteht sie und welche Rolle spielt dabei die Umwelt? Es gibt viele Fragen, die sich Ergotherapeuten nicht direkt aus ihren praktischen Erfahrungen heraus erklären können. Hierfür benötigen sie Hintergrundwissen zu Betätigung – nach aktuellem Berufsverständnis der Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit. Und genau hier setzt die Occupational Science an.
Die interdisziplinäre Wissenschaft hat sich in den späten 80er Jahren mit dem Ziel entwickelt, das menschliche Handeln zu untersuchen und mithilfe von Theorie und Forschung eine wissenschaftliche Basis für die ergotherapeutische Praxis zu bieten [1–3]. Aus Sicht der Ergotherapeutin Florence Clark und ihrer Kollegen besitzt die Occupational Science für die Ergotherapie den gleichen Stellenwert wie Anatomie und Physiologie für die Medizin: eine unentbehrliche Wissensgrundlage [4, 5]. Zudem prägen Erkenntnisse der Occupational Science Werte und Qualität der ergotherapeutischen Ausbildung und Praxis, unterstützen evidenzbasiertes Arbeiten sowie Clinical Reasoning und fördern die (inter-)disziplinäre Zusammenarbeit [1, 2, 5–7]. Und zwar rund um das Handeln oder die Betätigung des Menschen.
Vielfalt ist Programm
Die Occupational Science tritt an, um Wissen zur menschlichen Betätigung zu generieren. Dabei gilt sie nicht nur als strenge Wissenschaft, sondern auch als kreatives Bemühen, sich dem Phänomen der Betätigung auf Grundlage verschiedener Fragen, Theorien und Perspektiven anzunähern [2]. So komplex wie ihr Gegenstandsbereich, so vielfältig sind auch die Wissenschaftler, die sich in der Occupational Science zusammenfinden: Psychologen, Pädagogen, Anthropologen, Soziologen, Architekten, Ergotherapeuten und andere mehr. Sie alle können Erkenntnisse zur Betätigung beisteuern und von diesen profitieren [2, 5, 8]. Dabei nutzen sie eine Vielzahl von Forschungsmethoden, -designs sowie theo- retischen Zugängen [2, 8] und untersuchen klassische Fragen wie [1, 3, 8, 9]:
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Wie hängen Betätigung und menschliche Entwicklung zusammen?
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Welche Form, Funktion und Bedeutung besitzt Betätigung?
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Wie verändert sich Betätigung im Lauf des Lebens?
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Wie organisieren und strukturieren Menschen Betätigungen?
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Welche Betätigungserfahrungen machen Menschen?
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Wie beeinflussen sich Handeln, Gesundheit und Wohlbefinden wechselseitig?
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Inwieweit werden unsere Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungen durch Politik, Wirtschaft und Umwelt beeinflusst?
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Wie wirken sich Occupational (In-)Justice und Occupational Deprivation auf die menschliche Betätigung aus?
Mehr als Grundlagenforschung
„Ich bin beides: Ergotherapeutin und Betätigungswissenschaftlerin. Beide Identitäten vereinen sich in meinem beruflichen Leben und meinen Forschungsbemühungen“, schreibt Dr. Debbie Laliberte Rudman, als sie die Beziehung zwischen Ergotherapie und Occupational Science reflektiert. Dabei nimmt sie in der aktuellen Literatur eine starke Tendenz wahr, potenzielle Synergieeffekte zwischen beiden Disziplinen zu betonen [7]. Frühere Abgrenzungsversuche zwischen einer grundlagenbezogenen Occupational Science und einer anwendungsbezogenen Ergotherapieforschung erscheinen vor diesem Hintergrund nicht mehr zielführend [7, 10, 11]. Stattdessen gilt es vielmehr den gemeinsamen Fokus zu betonen: die Betätigung als wesentlichen Aspekt des menschlichen Seins, Tuns, Werdens und Zugehörens [7].
Der Bundesverband der Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten Österreichs spricht in seinem Positionspapier „Ergotherapie im Kontext der Wissenschaften“ daher auch von Ergotherapie- und Betätigungswissenschaft und fasst deren Gegenstandsbereiche zusammen [6]. Ebenso präsentierte die Konferenz der „Occupational Science Europe“ (OSE), die vom 8.–9. September 2017 unter dem Motto „Meeting in Diversity – Occupation as a Common Ground” an der HAWK Hildesheim stattfand, eine bunte Mischung aus Grundlagenforschung und anwendungsbezogenen Themen. Das Spektrum reichte vom Versuch, Occupational Justice zu konzeptualisieren, bis hin zu ergotherapeutischen Interventionen für geflüchtete und asylsuchende Menschen [12].
Überzeugungen auf dem Prüfstand
Die Erkenntnisse der Occupational Science helfen uns Ergotherapeuten, den Gegenstandsbereich unserer Arbeit zu verdeutlichen. Gleichzeitig bewahren sie uns davor, unseren Blickwinkel zu stark zu begrenzen. So führten Betätigungswissenschaftler eine kritische Debatte darüber, ob sich die Ergotherapie zu sehr auf das „Doing“ beschränke und dabei andere existenzielle Bestandteile menschlicher Erfahrungen wie das „Being“ vernachlässige [13–16]. Dabei gilt Betätigung nach heutigem Verständnis als wesentlicher Aspekt menschlichen Seins, Tuns, Werdens und Zugehörens [7]. Ebenso beleuchtet die Occupational Science eine mögliche kulturelle Beschränktheit ergotherapeutischer Annahmen. Etwa die Vorstellung, der Mensch passe sich durch sein Handeln an seine Umwelt an, von der er getrennt existiere. Damit regt die Occupational Science dazu an, über den kulturellen Tellerrand hinauszuschauen und eine universell gültige Definition von Betätigung und damit verbundenen Konzepten zu entwickeln [2].
Neben inhaltlichen Fragen erörtern Betätigungswissenschaftler auch die wissenschaftlichen Paradigmen und Perspektiven, aus denen heraus Betätigung untersucht werden kann. Geht es zum Beispiel um globale Realitäten wie Armut, Flucht oder Bildungsmangel und deren Wechselbeziehung zu Betätigung, reicht die Sichtweise auf das Individuum nicht aus. Hier müssen andere Zugänge her, wie sie etwa das Transaktionskonzept von Dewey oder die Akteur-Netzwerk-Theorie von Latour zur Verfügung stellen [2, 17].
Indem die Occupational Science Begriffe wie Occupational Justice oder Occupational Deprivation konzeptualisiert, bietet sie Ergotherapeuten zudem eine Sprache, um (globale) Missstände aufzudecken und für ihre professionellen Überzeugungen einzutreten: für bedeutungsvolle Betätigungen in der Therapie und das Recht, sinnvoll tätig zu sein [18].
Florence Kranz
ISOS: Die International Society of Occupational Scientists (ISOS) wurde 1999 von 32 Ergotherapeuten gegründet. Die Gesellschaft verfolgt eine konkrete Mission: ein weltweites Netzwerk von Individuen und Institutionen aufzubauen, welche die Auseinandersetzung mit Betätigung in Forschung und Ausbildung, im Gesundheitsbereich oder der Gemeindearbeit vorantreiben. Weitere Informationen unter www.isoccsci.org.
OSE: Die Occupational Science Europe (OSE) zielt darauf ab, die Entwicklung der Occupational Science in Europa voranzutreiben. Sie bietet Interessierten ein Netzwerk, um das Wissen rund um Betätigung und deren Nutzen für alle Menschen weiterzuentwickeln. Weitere Informationen unter https://occupationalscienceeurope.wordpress.com.
JOS: Seit 1993 veröffentlicht das Journal of Occupational Science (JOS) Forschungsartikel und wissenschaftliche Texte zur menschlichen Betätigung und legt dabei einen besonderen Fokus auf den Zusammenhang zwischen Betätigung, Gesundheit und Wohlbefinden. Weitere Informationen unter www.tandfonline.com/loi/rocc20.