ergopraxis 2017; 10(11/12): 8-11
DOI: 10.1055/s-0043-113940
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ergotherapie im Alltag – Ergotherapie in Praxis oder Hausbesuch – reicht das?

Rainer Schmitt

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Publication Date:
10 November 2017 (online)

 

Reduziert man den Begriff Alltag auf das häusliche Umfeld, verhindert das erfolgversprechende Behandlungsstrategien, findet Ergotherapeut Rainer Schmitt. Er fasst den Begriff weiter und plädiert dafür, Klienten in allen Lebensfeldern behandeln zu dürfen – also beispielsweise auch im Fitnessstudio.


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Rainer Schmitt

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Rainer Schmitt, M.A. Health Administration und Diplom-Ergotherapeut. Seit 2007 leitet er die Abteilung Ergotherapie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel, Bielefeld. In dieser Funktion ist er auch verantwortlich für die zwei ambulanten ergotherapeutischen Praxen der Klinik.

Rechtlich betrachtet darf Ergotherapie gemäß § 11 der Heilmittelrichtlinie (HMR) nur in einer Therapiepraxis oder als Hausbesuch erbracht werden. Aus medizinischen Gründen kann der Arzt auch einen Hausbesuch in einer Tageseinrichtung oder einem Pflegeheim verordnen. Weitere Optionen sieht die HMR nicht vor. Sie folgt damit der klassischen Linie ärztlich-ambulanter Behandlung: Der Patient geht zum Arzt oder dieser kommt zu ihm nach Hause, wenn er wegen gesundheitlichen Einschränkungen dessen Praxis nicht erreichen kann.

Die meisten Therapieziele beziehen sich auf den Alltag

Für die Ergotherapie sind in den Rahmenempfehlungen [1] in § 3 die Ziele wie folgt festgeschrieben:

  • (2) „Den besonderen Belangen psychisch kranker, behinderter oder von Behinderung bedrohter sowie chronisch kranker Menschen ist bei der Versorgung mit Heilmitteln Rechnung zu tragen.“

  • (3) „Die Ergotherapeutin … und die Krankenkassen haben darauf hinzuwirken, dass die Versicherten eigenverantwortlich durch gesundheitsbewusste Lebensführung, Beteiligung an Vorsorge- und aktive Mitwirkung an Therapiemaßnahmen dazu beitragen, Krankheiten zu verhindern und deren Verlauf und Folgen zu mildern.“

Jede Ergotherapeutin weiß: Viele in der Ergotherapie gesteckten Ziele beziehen sich auf den Alltag. Das spiegelt auch die Leistungsbeschreibung der Heilmittelrichtlinie wider. Diese sieht Ergotherapie beispielsweise indiziert bei Störungen der Selbstversorgung und der Alltagsbewältigung, im Verhalten, der Beweglichkeit und Geschicklichkeit sowie im Bereich der interpersonellen Interaktionen und Beziehungen. Daraus leiten sich Maßnahmen ab wie

  • Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) in therapeutischen, alltagsnahen oder Alltagssituationen,

  • Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) in therapeutischen, alltagsnahen oder Alltagssituationen,

  • Training der Alltagskompetenzen unter Berücksichtigung von Hilfsmitteln,

  • handlungsorientiertes Training,

  • Beratung und Schulung zur Durchführung von Aktivitäten individuell wichtiger Lebensbereiche etc.

Die Neufassung der Rahmenempfehlungen von 2016 bezieht sich dabei ausdrücklich auf die ICF und deren Konstrukte.


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Alltag ist umfassender als Kochen, Putzen und Anziehen

Es stellt sich daher die Frage, was mit Alltag gemeint ist. Philosophen und Sozialwissenschaftler beschreiben Alltag als ein sehr viel umfassenderes Konstrukt als das (sich wiederholende) Kochen von Eintopf, Putzen der Badewanne und Anziehen der Hose (S. 10). Sie erkennen Alltag als Gegenwartswirklichkeit, die beeinflussbar ist und einem sozialen Kontext entspringt und nicht zwangsläufig und ausschließlich im häuslichen Umfeld stattfindet. Alltagswelten – oder moderner – Lebenswelten sind überall dort anzutreffen, wo Aufgaben, Bedürfnisse und Rollen gelebt werden. Diesem Verständnis von Alltag kommt die Profession Ergotherapie insgesamt mit ihren oben genannten Handlungskategorien sehr nah. Wenn es allerdings um ambulante Ergotherapie geht, bleibt davon wenig übrig.


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Gesundheit und Alltag sind eng miteinander verwoben

Laut Richtlinien und Rahmenempfehlungen ist es Aufgabe der ambulanten Ergotherapie, die Alltagsbewältigung zu verbessern. Deshalb ist es notwendig, den persönlichen Alltag des Klienten anzuschauen. Und der spielt sich an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten ab, mit unterschiedlichen Aufgaben und Rollen, selbstgewählt oder fremdbestimmt.

Kann der Mensch diese Aufgaben und Rollen ausfüllen, hat er gemäß ICF die Voraussetzung für ein gesundes Leben. Die ICF spricht von „funktionaler Gesundheit“, welche Körperstrukturen und Funktionen umfasst, ebenso wie das Konzept der Aktivitäten und das Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen [7]. Denn spätestens mit der Definition der WHO: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ [8] lässt sich feststellen: Gesundheit ist auch von Faktoren abhängig, die sich der individuellen Lebenswelt bzw. dem Alltag zuordnen lassen.

Wenn Gesundheit und Alltag so eng miteinander verwoben oder sogar abhängig voneinander sind, muss dann nicht jede Form medizinischer Behandlung zwingend auch ein „Funktionieren“ im Alltag anstreben? Umso mehr, da ein Nichtausfüllen dieser Rollen krankheitsstiftende Konsequenzen haben kann, wie Sozialpsychologin Marie Jahoda für das Lebensfeld Arbeit zeigte [9].


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Therapie im echten Leben macht Transfer überflüssig

Doch durch den in der Heilmittelrichtlinie nicht definierten Begriff Alltag sind den Ergotherapeuten die Hände gebunden. In der Praxis oder im Hausbesuch kann lediglich ein eingeschränkter Anteil persönlicher Lebenswelt erfasst und behandelt werden. Unter Umständen lassen sich die Lebensfelder, die dem Klienten für seine Genesung am wichtigsten sind und die auch aus medizinischer Sicht relevant sind, nicht ansprechen. In Behandlungssettings der Produktivität und Freizeit können Ergotherapeuten kaum aktiv werden.

Werden jedoch Alltagstätigkeiten nicht im direkten Lebensfeld trainiert oder adaptiert, braucht es einen Transfer von der Intervention in das normale Leben. Dieser bringt Effizienzverluste mit sich, weil das persönliche, soziale und physikalische Lebensumfeld nur bedingt simulierbar sind. Manche auftretenden Alltagsprobleme sind in der Praxis nicht erkennbar.

Im Unterschied zu ärztlich-ambulanter Behandlung, die zum großen Teil aus Medikation besteht, handelt es sich bei der Ergotherapie um komplexe Handlungsabläufe, die von ihrer Umgebung beeinflusst werden. Ob Arbeitsfähigkeiten in einer simulierten Werkstatt oder im echten Betrieb befundet und trainiert werden, macht einen großen Unterschied.


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Kassen lehnen Therapie im Lebensumfeld ab

Wenn Ergotherapie die persönliche Alltagsfähigkeit wiederherstellen soll, braucht es eine klare Definition von Alltag und davon, in welchen Lebensfeldern Alltag stattfindet. Die Ergotherapie muss sich in Anlehnung an die Definitionen von Thiersch und Schütz fragen:

  • Welche Lebensfelder sind Schauplatz und Zielgebiet des Handelns?

  • Welche motivierenden Anforderungen gibt es für gesundheitsförderliche Betätigungen?

  • Wie kann man diese am effektivsten beeinflussen?

Die Antworten werden nicht immer zu einer Behandlung in der Praxis oder zu Hause passen. Vor allem wenn es um mehr als funktionale Übungen und häusliche Aufgabenbewältigung geht (Fallbeispiel, S. 9).

Doch leider ist eine therapeutische Maßnahme wie im Fallbeispiel beschrieben nicht möglich, da nur eine Behandlung in der Praxis oder zu Hause erlaubt ist. Eine Nachfrage bei mehreren Kassen stieß auf eine durchgehende Ablehnung, obwohl die Maßnahme mit den Zielen und den Leistungsbeschreibungen kongruent wäre. Aus anderen Fachbereichen ist dieses Dilemma ebenfalls bekannt: Klienten und Heilmittelerbringer zielen gemäß den Heilmittelrichtlinien auf eine Alltagshandlung ab, die gesundheitsförderlich ist, doch erlaubt ist die Maßnahme nicht.


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Forderung: Teilhabeorientierte Maßnahmen sind Therapie

Man kann davon ausgehen, dass Therapie im echten Lebensumfeld sehr viel effektiver ist als die Simulation oder ein Rollenspiel. Verhaltenstherapeutische Ansätze wie Konfrontationsübungen machen sich diese Erkenntnisse schon längst zunutze. Das Verweigern der oben beschriebenen Maßnahme erschwert es, die vorgesehenen Ziele zu erreichen. Vor dem Hintergrund des eingeforderten Effektivitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots ist dies umso unverständlicher.

In einem aktuellen Positionspapier der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation [11] wird dieser Konflikt im Hinblick auf die Förderung der Teilhabe diskutiert. Die Organisation empfiehlt, auch im Finanzierungsbereich der GKV die Teilhabeorientierung als therapeutische Leistung der Heilmittelerbringer zu verankern. Diese Anforderung ergäbe sich schon aus den Zielen des § 26 SGB IX, an denen alle kurativen Leistungen auszurichten seien, nämlich „mithin an der Förderung der Teilhabe“. Eine explizite Einschränkung der Heilmittelversorgung auf kurative Behandlung sei deshalb nicht sachgerecht.

Abgesehen von einem wenig verwunderlichen Tauziehen um die leistungsrechtliche Verantwortung zweier Versorgungssysteme ergänzt das Positionspapier die zuvor dargelegte Perspektive über Aufgaben und Ansprüche der künftigen Heilmittelversorgung: der tradierte, kurativ-funktionale Behandlungsraum muss sich öffnen hin zu Support, Therapie und Beratung im wirklichen Alltag und Leben der Klienten. Dies kann das Ziel der Profession Ergotherapie weiter befördern, Betätigung zu ermöglichen. Lassen wir im Heilmittelsektor eine Behandlung zu im Sinne eines Shared Decision Making, in dem die Klienten über ihre Leistungen und wo sie diese erhalten mitbestimmen, hat das weitreichende Folgen: Motivierte und informierte Klienten, die mitbestimmen und den klaren Nutzen für ihr alltägliches Leben erkennen, berichten über eine höhere Lebensqualität und Symptomreduktion [12].

Unsere medizinisch orientierte traditionelle Sichtweise ist überholt. Praxis und Hausbesuch sind nur ein Bruchteil der individuellen Lebenswelt und der dort bestehenden Betätigungsprobleme. Und genau die möchten wir doch verändern.

Fallbeispiel – So kommt die Ergotherapie in den Alltag

Eine Ergotherapiepraxis erfasst bei psychiatrisch erkrankten Klienten das Bedürfnis, sich sportlich zu betätigen. Durch Ärzte, Psychotherapeuten, Freunde und Familie wurden sie immer wieder dazu aufgefordert. Doch ihre Symptome stehen ihnen im Weg: Antriebslosigkeit, mangelndes Selbstvertrauen verbunden mit Scham, sozialen Ängsten, Phobien, Panikattacken, Rückzug bis hin zur Isolation.

Einige schaffen es nur zu den Praxisterminen, ihre Wohnung zu verlassen, lassen sich ansonsten durch Angehörige oder Betreuer versorgen. Manche leiden zudem unter extremer Gewichtszunahme durch die Medikation. Aufgrund ihrer Erkrankung scheitert etwa Nordic Walking oder Joggen in Eigenregie an fehlendem Antrieb. Vereinssport oder Gesundheitskurse erzeugen Ängste, Scham und soziale Phobien. Die Klienten haben ein Betätigungsproblem, dessen Überwindung zur Gesundung beitragen könnte.

Der Behandlungsauftrag auf der Verordnung lautet: „Verbesserung im Verhalten und der zwischenmenschlichen Interaktion/Kommunikation“. Dies können Ergotherapeuten effizienter im direkten Umfeld erreichen und nicht durch Üben körperlicher Aktivitäten. Sport in der Praxis ist also keine Lösung, ebenso wenig zu Hause. Selbstständige Aktivitäten außer Haus schaffen die Klienten aber wegen ihrer Erkrankung nicht.

Als Lösung böte sich an, Klienten im Rahmen der Therapie in ein Fitnessstudio zu begleiten. Dort werden sie von Trainern an Geräten und in Kurse eingewiesen und betreut. Die Ergotherapeuten vermitteln den Klienten Sicherheit, stärken deren Selbstbewusstsein in der Interaktion und üben den Umgang mit evtl. auftretenden Panikattacken. Die ergotherapeutische Intervention besteht also nicht in der Anleitung der sportlichen Aktivität, sondern in der Motivation und Begleitung zu dieser Aktivität hin, damit diese auf Dauer eigenverantwortlich wahrgenommen werden kann, ganz im Sinne der Rahmenempfehlungen [1].

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Abb.: S. Schaaf

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Rainer Schmitt, M.A. Health Administration und Diplom-Ergotherapeut. Seit 2007 leitet er die Abteilung Ergotherapie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel, Bielefeld. In dieser Funktion ist er auch verantwortlich für die zwei ambulanten ergotherapeutischen Praxen der Klinik.
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Abb.: S. Schaaf