Einleitung
Der Pädiater sieht sich in seiner täglichen Arbeit mit einem sehr breiten Spektrum
verschiedenster Erkrankungen und Beschwerden seiner jungen Patienten konfrontiert.
Auch die vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen verlangen Fachwissen aus vielen Bereichen
der Medizin, um dem Anspruch gerecht zu werden, Entwicklungsstörungen
Zwei aktuelle Themen der Kinderophthalmologie stehen daher im Fokus, die vermutlich
auch immer wieder in der kinder- und jugendärztlichen Praxis relevant sein werden:
Weltweit nimmt die Häufigkeit der Myopie zu, sodass Eltern myoper Kinder immer öfter
nach Möglichkeiten fragen
zu mindern.
Amblyopie
Epidemiologie und aktuelle Vorsorge
Die Amblyopie bezeichnet eine entwicklungsbedingte Verminderung der Sehkraft. Diese
Sehschwächen werden zu 90% durch
verursacht [1]. Seltener liegt die Ursache der Amblyopie in einer optischen Deprivation, wie sie
z. B. bei einer kongenitalen Katarakt oder Ptosis auftreten kann.
Die Amblyopie-Prävalenz betrug in einer großen Kohortenstudie in Deutschland 5,6%
(Gutenberg Gesundheitsstudie). Sie ist damit deutlich höher als in anderen entwickelten
Ländern, in denen vergleichbare Studien zum Vorkommen der Amblyopie durchgeführt wurden
[2]. Kritisch anzumerken ist, dass die Prävalenzzahlen in einer Population Erwachsener
erhoben wurden und somit die Situation vor einigen Dekaden beleuchtet. Dennoch erscheint
es zumindest fraglich, ob das derzeitige System der Früherkennungs-Untersuchungen
den Erwartungen an ein Amblyopie-Screening hinreichend gerecht wird. Aktuell erfolgen
die U-Untersuchungen bevorzugt über den Pädiater oder Hausarzt. Die Kinder werden
dabei auf unterschiedliche Erkrankungen und Entwicklungsstörungen untersucht. Erst
bei der U7a – zwischen dem 34. und 36. Lebensmonat – ist es vorgesehen, die Sehschärfe
zu prüfen. Zwar wird bereits für die U5 die Prüfung von
vorgeschrieben, die Ärzte sind jedoch nicht immer für deren Untersuchung geschult.
Dies trifft insbesondere auf die Durchführung des – in den neuen Kinderrichtlinien
verankerten – Brückner-Tests zu. Hinzu kommt, dass die genannten Untersuchungen enorm
zeitaufwendig sind und nicht kostendeckend vergütet werden. Das System der gesetzlichen
Krankenkassen geht sogar so weit, dass eine weiterführende augenärztliche Untersuchung
nur dann abgerechnet wird, wenn dabei auch eine Störung gefunden wird.
Merke
In Deutschland liegt die Prävalenz der Amblyopie mit etwa 5,6% höher als in Ländern,
in denen vergleichbare Studien durchgeführt wurden.
Es stellt sich die Frage, ob diese – auf gesundheitsökonomische Aspekte reduzierte
– Sichtweise dieser Vorsorgeuntersuchung gerechtfertigt ist. Der eigentliche Nutzwert
eines Amblyopie-Screenings liegt langfristig darin, eine beidseitige Sehbehinderung
im weiteren Lebensverlauf zu vermeiden. Das Risiko, durch den Verlust des funktionell
besseren Auges eine Sehbehinderung zu entwickeln, ist bei Patienten mit einer einseitigen
Amblyopie erhöht, da nur ein Auge eine normale Sehschärfe hat. In der Rotterdam Eye
Study wurde aus einer 5520 Personen umfassenden Subkohorte das Lebenszeitrisiko berechnet,
eine beidseitige Sehbehinderung (Visus < 0,5) zu erleiden. Es betrug für Nichtamblyope
10% und für Betroffene 18% [3]. Stellt man die Kosten der Amblyopie-Vermeidung den jährlichen Kosten einer Sehbehinderung
gegenüber, lässt sich – vereinfacht betrachtet – folgender Schluss ziehen: Ein Seh-Screening
ist in der Kindheit dann kostendeckend, wenn die betroffene Person zum Zeitpunkt des
Eintritts einer beidseitigen Sehbehinderung eine Restlebenserwartung von mindestens
5 Jahren hat [4]. Davon ist aus heutiger Sicht – bei einer stetig steigenden Lebenserwartung – auszugehen.
In einer von der Bertelsmann-Stiftung geförderter Studie waren 28% von 665 augenärztlich
und orthoptisch untersuchten Kindergartenkindern – im Alter von 3,5 – 4,5 Jahren –
auffällig. Allerdings wurden 70% dieser Kinder zuvor bei den U-Untersuchungen als
unauffällig eingestuft [5]. Auf diese Mängel des bestehenden Früherkennungssystems haben die zuständigen Berufsverbände
bereits mehrfach hingewiesen. Umso wichtiger erscheint es, Untersuchungsmethoden in
den klinischen Alltag der Kinderärzte zu integrieren, die einerseits eine hohe Sensitivität
bei der Erkennung amblyogener Faktoren besitzen, um entsprechend gefährdete Kinder
frühzeitig einer augenärztlich-orthoptischen Untersuchung zuzuführen, andererseits
müssen sie hinreichend spezifisch sein, um Gesunde korrekt zu identifizieren. Als
Grenzwerte für amblyogene Refraktionsfehler sind aktuell folgende Werte etabliert:
Merke
Bezogen auf die jährlichen Kosten einer vermeidbaren Sehbehinderung im Erwachsenenalter
ist ein Seh-Screening in der Kindheit vermutlich kostendeckend.
Brückner-Test
Ein einfacher und sehr wertvoller Test für ein Screening von Kindern auf amblyogene
Faktoren ist der Brückner-Test. Der Arzt beobachtet bei dieser – ab der U2 vorgeschriebenen
– Untersuchung den roten Fundusreflex des Patienten durch ein direktes Ophthalmoskop
([Abb. 1]). Trübungen der optischen Medien können am besten aus einer Entfernung von 0,3 m
erkannt werden, ein Strabismus aus 1 m und Refraktionsanomalien aus 4 m ([Abb. 2] – [4]). Über den Seitenvergleich des Fundusreflexes und Beurteilung auf dessen Helligkeit
und Homogenität kann der Untersucher auf amblyogene Faktoren rückschließen.
Abb. 1 Durchführung des Brückner-Tests.
Abb. 2 Anisometropie aus (a) 4 m und (b) 0,3 m Entfernung.
Abb. 3 Medientrübung aus (a) 4 m und (b) 0,3 m Entfernung.
Abb. 4 Leukokorie aus (a) 4 m und (b) 0,3 m Entfernung.
In einer kleinen Fallserie optisch simulierter Fehlsichtigkeit verglichen Gräf und
Jung Brückner-Test-Messungen aus einer Distanz von 1 m mit denen aus 4 m [6]. Bei einer Entfernung von 1 m lag die Erkennungsrate einer Weitsichtigkeit > 1 dpt
bei 71%, wenn ein Erfahrener die Messung durchführte. Nahm ein Student die Messung
vor, verringerte sich die Erkennungsrate auf 53%. Bei einer Distanz von 4 m stiegen
die Prozentsätze auf fast 100% an. Eine sehr gute, praktische Erläuterung des Tests
findet sich in einer weiteren Arbeit von Gräf im Deutschen Ärzteblatt [7]. In der Untersuchung 1- bis 2-jähriger Kinder wird dem Brückner-Test in der Literatur
ein sehr guter, positiver Vorhersagewert – Zahl Erkrankter mit Testergebnis krank/Anzahl
aller mit Testergebnis krank – von 86% in der Früherkennung amblyogener Faktoren zugeschrieben
[8]. Wird die Messdistanz angepasst, so kann die Genauigkeit – wie bereits erwähnt –
erhöht werden. Dies ist besonders vorteilhaft, wenn Kinder untersucht werden.
Merke
Der Brückner-Test kann beim Screening auf Refraktionsanomalien eine Erkennungsrate
von 96% erreichen.
Nachteilig wirkt sich aus, dass der Brückner-Test keine quantitativen Werte liefert.
Zudem ist er sehr sensitiv: Eine geringe Hyperopie oder leichte Myopie wird bereits
bei Werten, die noch kein Amblyopierisiko darstellen, auffällig. Ohne eine zusätzliche
Untersuchung würden daher die Augenärzte mit einer hohen Zahl von Kindern konfrontiert,
deren Brechkraftabweichung der Augen jedoch nicht therapiebedürftig ist. Aus diesem
Grund ist für die Früherkennung die Videorefraktometrie besonders bedeutend.
Videorefraktometrie
Gerätebasierte Videorefraktometer stellen einen technischen Ansatz dar, welcher einerseits
quantitative Werte liefert, und dessen Sensitivität und Spezifität andererseits durch
Modifikation der Überweisungskriterien angepasst werden kann. Diesbezüglich sind die
Grundeinstellungen nicht immer optimal und die Empfehlungen international recht heterogen.
Dennoch ist dem ophthalmologisch-orthoptischen Laien mit dieser Technik ein ausreichend
empfindliches Screening möglich, um nur wenig relevante Befunde zu übersehen. Zudem
lässt sich die Zahl der falsch positiven Ergebnisse und damit unnötigen Folgeuntersuchungen
niedrig halten. In einigen kinder- und jugendärztlichen Praxen werden bereits routinemäßig
solche Geräte eingesetzt. Aber auch dem orthoptisch versierten Fachpersonal – z. B.
in einer Augenarztpraxis – bietet sich damit eine objektive Messmethode, die zur orientierenden
Voruntersuchung oder Ausbildungszwecken eingesetzt werden kann. Kontrovers wird beim
Screening jedoch die Einstellung der Parameter diskutiert, welche zur Bewertung „auffällig“
oder „unauffällig“ führen. Diese hängen davon ab, ob beim Kinder- oder Augenarzt untersucht
wird.
Nathan und Donahue haben gezeigt, dass sich die Spezifität des PlusoptiX® von 37% bei Werkseinstellung auf 76% steigern lässt [9], wenn die Kriterien entsprechend der Empfehlung des Vision-Screening-Komitees der
American Association of Pediatric Ophthalmology and Strabismus (AAPOS) [10] verwendet werden. Eine geringe Minderung der Sensitivität von 100 auf 89% musste
dabei hingenommen werden. Trotz aller technischen Fortschritte in diesem Bereich bleiben
nach wie vor die Skiaskopie in Zykloplegie und eine orthoptische Untersuchung der
Goldstandard, um auf amblyogene Faktoren zu untersuchen. An dieser Stelle ist anzumerken,
dass Screening nicht mit Diagnostik verwechselt werden darf. Bei Screening-Untersuchungen
kommt es darauf an, eine Population – möglichst wenig aufwendig – der notwendigen
Diagnostik zuzuführen. Oftmals ist die Geräteeinstellung zu sehr auf die Sensitivität
und zu wenig auf die Spezifität fokussiert bzw. sind beide Parameter nicht optimiert.
Daher kommt es nicht nur zu vielen unnötigen Überweisungen zur orthoptischen Diagnostik,
sondern es werden auch nicht alle Kinder erkannt, die weiter fachspezifisch diagnostiziert
werden müssen. Im Jahr 2017 will der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
– nach Abstimmung mit ophthalmologischen Experten – konkrete Überweisungskriterien
veröffentlichen, um für die Erkennung amblyogener Refraktionsfehler eine möglichst
ideale Kombination von Sensitivität und Spezifität zu erzielen. Bei 4 Jahre alten
Kindern hat die Videorefraktometrie nur noch einen bedingten Stellenwert. In diesem
Alter hat ein einfacher Visustest bereits einen positiven Vorhersagewert von 80% –
im Gegensatz von nur 22% bei 3-Jährigen [11].
Refraktionsfehler
Aus aktuellem Anlass wird an dieser Stelle die Myopie in den Vordergrund gestellt.
Sie bezeichnet den Zustand des Auges, bei dem es – bezogen auf die Brechkraft seiner
optisch wirksamen Bestandteile – zu lang ist. Der Brennpunkt liegt somit vor der Netzhaut
und muss z. B. durch geeignete Streuungslinsen auf die Netzhaut projiziert werden.
Die Kurzsichtigkeit ist die häufigste Entwicklungsanomalie der Augen. Weltweit sind
knapp 1,5 Mrd. Menschen aktuell betroffen: 50 Mio. davon sind mit mehr als − 6 dpt
hochmyop. Man geht davon aus, dass diese Zahlen bis 2050 auf 5 Mrd. respektive 1 Mrd.
ansteigen werden [12]. Bereits heute sind in einigen asiatischen Ländern bis zu 96% der 20-Jährigen myop
[13]. In Europa betrifft es aktuell knapp die Hälfte der 25-Jährigen [14]. Aufgrund der starken Zunahme der Myopie wurde sie von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) zu einem weltweiten Gesundheitsproblem erklärt und unter den 5 Augenerkrankungen
gelistet, deren Eindämmung hohe Priorität hat. Neben hohem Lebensalter ist die hohe
Myopie der Hauptrisikofaktor für schwerwiegende Augenerkrankungen, wie:
-
Makuladegeneration
-
Netzhautablösung
-
Katarakt
-
Glaukom
Meist beginnt die Myopie im Grundschulalter und schreitet bis zum frühen Erwachsenenalter
fort [15]. Daher ist sie kinderophthalmologisch relevant. Bisher fehlen jedoch aktuelle Prävalenzdaten
aus dem Kindesalter.
Merke
Die WHO hat die Myopie zu einem globalen Gesundheitsproblem erklärt. Ihre Eindämmung
hat weltweit hohe Priorität.
In den vergangenen Jahren ist einerseits vermehrt nach den Ursachen der Myopie und
andererseits nach den Gründen ihrer zunehmenden Häufigkeit geforscht worden. Zunächst
spielen genetische Faktoren eine Rolle. Wenn auch die molekularen Mechanismen nicht
vollständig geklärt sind, konnte das Consortium for Refractive Error and Myopia (CREAM)
in der bislang umfassendsten genomweiten Metaanalyse mit insgesamt fast 50 000 Individuen
24 Genloci identifizieren [16]. Bei entsprechender genetischer Prädisposition lässt sich ein ca. 10-fach erhöhtes
Myopierisiko berechnen. Liegt eine Myopie beider Eltern vor, besteht das Risiko, dass
ihre Kinder ebenfalls eine Myopie entwickeln [17]. Dabei muss bedacht werden, dass bei sehr hohen Myopien differenzialdiagnostisch
Systemerkrankungen in Betracht gezogen werden, die zu einer linsenbedingten Myopie
führen, wie z. B.:
-
Marfan-Syndrom
-
Weill-Marchesani-Syndrom
-
Ehlers-Danlos-Syndrom
-
Homozystinurie
Die in den letzten Jahrzehnten beobachtete rasche, pandemische Zunahme der Myopie
kann jedoch nur durch Umweltfaktoren und Verhalten erklärt werden. Inzwischen gilt
als gesichert, dass die Myopie mit dem Bildungsgrad und dem Ausmaß an Naharbeit korreliert
[18]. Kinder, die nur wenig dem Tageslicht ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko,
myop zu werden [19]. Die Myopieprogression bereits im Grundschulalter zu verlangsamen, muss eine hohe
Priorität haben. Allerdings ist diesbezüglich die Resonanz seitens der Schulämter
bisher verhalten. In der augenärztlichen Sprechstunde fragen Eltern immer häufiger
nach Maßnahmen, ein Fortschreiten der Myopie zu verlangsamen [20]. Gelingt es, die Myopieprogression um nur 33% zu mindern, ist zu erwarten, dass
der Anteil hoch myoper Menschen (> − 6 dpt) um 73% sinkt [21]. Damit würde auch das Risiko für sekundäre Augenerkrankungen abnehmen [22]. Anhand der Studienlage können betroffenen Kindern und ihren Eltern nachfolgende
therapeutische Maßnahmen empfohlen werden.
Tageslicht
Seit Langem ist bekannt, dass sich eine hohe Beleuchtungsstärke positiv und Naharbeit
negativ auf die Entwicklung und das Fortschreiten einer Myopie auswirken. Im Jahr
2013 publizierten French et al. eine sehr detaillierte Übersichtsarbeit über den Zusammenhang
von Tageslichtmenge und Myopierisiko [23]. Die in der Publikation erfasste Orinda-Studie verdeutlicht, dass Drittklässler
– in einem Beobachtungszeitraum von 5 Jahren – mit jeder Stunde, die sie wöchentlich
bei Tageslicht draußen verbrachten, ihr Myopierisiko um 10% senken konnten (Odds Ratio
0,91 für 1 h „outdoor“/Sport) [24]. Gemäß einer weiteren Metaanalyse von Sherwin et al. sinkt die Wahrscheinlichkeit,
eine Myopie zu entwickeln, mit jeder Stunde Tageslichtexposition pro Woche um 2% bzw.
pro Tag um 15% [25]. Die größten Studien zu dieser Thematik stammen aktuell aus dem asiatischen Raum.
Eine prospektive, zweiarmige Studie mit einjähriger Nachbeobachtungszeit aus Taiwan
mit 571 Kindern im Alter von 7 – 11 Jahren ergibt folgendes Bild: Verbringen die Kinder
ihre Schulpausen im Freien und nicht im Schulgebäude – d. h. sind sie im Mittel täglich
80 min länger draußen – so halbiert sich das Risiko einer Myopie [26]. In einer ähnlichen Studie aus China mit insgesamt 1903 Schülern und einem Nachbeobachtungszeitraum
von 3 Jahren verringerte sich das Myopierisiko von 40 auf 30% (p < 0,001), wenn sich
die Kinder täglich 40 min länger im Freien aufhielten. Interessanterweise wiesen diejenigen
Kinder, die bereits eine Myopie hatten, eine Myopieprogression über 3 Jahre in der
Interventionsgruppe von 1,4 dpt und in der Kontrollgruppe von 1,6 dpt auf [27]. Auch der Effekt von jahreszeitlichen Schwankungen der Lichtexposition lässt sich
in klinischen Studien belegen. In den USA fand sich unter 358 Kindern im Winterhalbjahr
(Oktober bis März) eine Progression von 0,35 dpt und im Sommerhalbjahr (April bis
September) von 0,14 dpt [28]. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass sich Tageslicht protektiv auf die Entwicklung
und das Fortschreiten der Myopie auswirkt. Allerdings basiert dies größtenteils auf
Daten aus Asien.
Merke
Tageslichtexposition kann das Risiko für das Auftreten und Fortschreiten einer Myopie
signifikant senken.
Atropin-Augentropfen
Seit weit über 100 Jahren ist bekannt, dass topisch applizierte Atropin-Augentropfen
eine Myopieprogression mindern [29]. Der genaue Wirkmechanismus ist bis heute jedoch nicht geklärt. Die offensichtlichen
Nebenwirkungen ließen einen therapeutischen Einsatz bisher nicht zu. Erst neuere Studienergebnisse
mit niedrig konzentriertem Atropin lassen diesen Ansatz als ernsthafte therapeutische
Option erscheinen. Eine im Jahr 2016 publizierte Netzwerk-Metaanalyse identifizierte
30 randomisierte klinische Studien zum Thema Minderung von Myopieprogression [30]. Dabei sind pharmakologische Therapieansätze mit Atropin im Vergleich zu anderen
Methoden – wie den im folgenden Abschnitt aufgeführten multifokalen Kontaktlinsen
– am effektivsten. Die Differenz der Myopieprogression – im Vergleich zu Placebo –
beträgt bei 0,01% dosiertem Atropin 0,53 dpt/Jahr (p < 0,0001). Die klinischen Nebenwirkungen
auf
sind dabei sehr gering. Eine Anwendungsbeobachtung aus den Niederlanden, die nach
dieser Metaanalyse publiziert wurde, untersuchte 77 myope Kinder mit hauptsächlich
europäischer Abstammung und einem mittleren Alter von 10 Jahren, die mit 0,5% Atropin
behandelt wurden [31]. Zu Beginn der Therapie lag die mittlere Refraktion bei − 6,6 dpt bei einer jährlichen
Progression von 1,0 dpt/Jahr. Danach verminderte sie sich auf 0,1 dpt/Jahr. Aufgrund
der hohen Dosis berichteten die Kinder über folgende Nebenwirkungen:
Somit ist diese Atropin-Konzentration zwar sehr effektiv, jedoch aufgrund der Nebenwirkungen
nicht zu empfehlen – zumal es niedriger dosierte Augentropfen gibt, deren messbare
Nebenwirkungen klinisch kaum relevant sind.
In der ATOM2-Studie ließ sich das Fortschreiten der Myopie unter 0,01% Atropin nach
5 Jahren um 1,38 dpt reduzieren. Die Kinder hatten unter dieser Therapie eine Mydriasis
von 1 mm und eine Hypoakkommodation von 2 dpt [32]. Loughman und Flitcroft berichteten über ähnliche Ergebnisse bei 14 irischen Studenten
zwischen 18 und 27 Jahren [33]. Unter einer Konzentration von 0,01% Atropin kam es zu einer Mydriasis von 1,2 mm
(p = 0,04) und führte zu einer Hypoakkommodation von 1,1 dpt (p = 0,08). Die Lesegeschwindigkeit
war nicht beeinträchtigt. Cooper et al. ermittelten an 12 amerikanischen Kindern im
Alter von 8 – 16 Jahren eine Grenzdosis, bei der es noch nicht zu klinisch relevanten
Nebenwirkungen des Atropins auf Pupillenweite oder Lesefähigkeit kommt [34]: Diese liegt bei 0,02%. Eigene Untersuchungen an 22 Kindern im Alter von 4 – 16
Jahren mit progredienter Myopie zeigen am ersten Tag – nach Beginn einer abendlichen
Tropftherapie mit 0,01% Atropin – um 08:00 Uhr eine induzierte Mydriasis von 1,1 mm
und eine Hypoakkommodation von 1,5 dpt. Störende Nebenwirkungen oder Sehstörungen
traten nicht auf [20].
Merke
Atropin-0,01%-Augentropfen mindern effektiv die Myopieprogression – bei relativ geringen
Nebenwirkungen. Weitere klinische Studien sind diesbezüglich im europäischen Raum
dringend notwendig.
Bifokalbrillen und multifokale Kontaktlinsen
Wie bereits oben angeführt, kann eine Myopieprogression durch folgende optische Mittel
gemindert werden:
Das zugrunde liegende Wirkungsprinzip beruht auf der optischen Korrektur der sogenannten
relativen Hyperopie der peripheren Netzhaut, welche häufig bei Myopen zu finden ist.
Durch die Form des myopen Auges bündeln sich die Lichtstrahlen in der optischen Achse
vor der Netzhaut, in der Peripherie jedoch hinter der Netzhaut [35]. Somit liegt in der Peripherie eine relative Hyperopie vor. Durch diesen peripheren,
hyperopen Defokus wird die Myopieprogression gefördert und unterhalten. Multifokale
Kontaktlinsen können diesen peripheren Defokus korrigieren. Ihr Nutzen liegt also
nicht primär in der Multifokalität und Akkommodationsentlastung. Der Vorteil gegenüber
Brillengläsern liegt darin, dass sich die Kontaktlinsen bei Blickbewegung mitbewegen.
Somit sind sie im Vergleich zu Brillengläsern wirksamer [36].
Verschiedene randomisierte, kontrollierte Studien verglichen multifokale Linsensysteme
mit monofokalen Kontaktlinsen. So untersuchten Anstice et al. 40 Kinder mit einer
mittleren Myopie von 2,7 dpt [37]. Mit Standardlinsen liegt die Progression bei 0,7 dpt/Jahr, mit multifokalen bei
0,4 dpt/Jahr. Die Progression wurde also um 26% gemindert. Eine weitere, doppelt verblindete,
kontrollierte Studie von Lam et al. mit 221 Kindern ergab eine Myopieprogression mit
monofokalen Linsen von 0,4 dpt/Jahr, mit multifokalen Linsen von 0,3 dpt/Jahr [38]. Bei den bisher geprüften multifokalen Linsen handelt es sich immer um Weichlinsen.
Aufgrund eines geringeren Infektionsrisikos und der Möglichkeit, auch einen kornealen
Astigmatismus ausgleichen zu können, wären zukünftig formstabile Alternativen wünschenswert.
Merke
Formstabile, multifokale Kontaktlinsen stellen eine ergänzende Therapiemöglichkeit
zur Progressionsminderung der Myopie dar.
Eine weitere Möglichkeit, durch spezielle Kontaktlinsen das Fortschreiten der Myopie
einzudämmen, bietet die Orthokeratologie. Hierbei wird die Hornhaut durch das Tragen
formstabiler Kontaktlinsen über Nacht in die gewünschte Form gebracht. Da orthokeratologische
Linsen jedoch nicht sehr weit verbreitet sind und ihr Einsatz im Kindesalter noch
schwieriger erscheint, werden Studien zu diesem optischen Prinzip an dieser Stelle
nicht vertiefend dargestellt. Erwähnenswert ist, dass monofokale Kontaktlinsen – im
Vergleich zur Brillenkorrektion – keinen progressionsmindernden Effekt haben [39].
Die aktuelle Studienlage ermöglicht es heute, jungen Patienten und ihren Eltern Optionen
aufzuzeigen, die das Auftreten einer Myopie bzw. ihr Fortschreiten positiv beeinflussen
können. Abschließend lassen sich die therapeutischen Ansätze – geordnet nach ihrer
Wirksamkeit, die Myopieprogression zu mindern – aufführen ([Tab. 1]).
Tab. 1 Therapeutische Ansätze mit fallender Wirksamkeit – bezogen auf die Minderung einer
Myopieprogression in dpt/Jahr [30].
Therapieansatz
|
Minderung Myopieprogression (dpt/Jahr)
|
Atropin hoch dosiert
|
0,68
|
Atropin niedrig dosiert
|
0,53
|
Cyclopentolat
|
0,33
|
Pirenzepin
|
0,29
|
Bifokalprismenbrillen
|
0,25
|
peripheren Defokus korrigierende Kontaktlinsen
|
0,21
|
Tageslicht 2 h täglich
|
0,14
|
Gleitsichtbrillen
|
0,14
|
peripheren Defokus korrigierende Brillengläser
|
0,12
|
bifokale Brillengläser
|
0,09
|