Z Geburtshilfe Neonatol 2017; 221(05): 247-248
DOI: 10.1055/s-0043-117233
Geschichte der Perinatalmedizin
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Warum denn immer ziehen und warum nicht auch mitunter drücken?“

Volker Lehmann
1   Hamburg
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Publication Date:
26 October 2017 (online)

Ferdinand von Ritgen, Direktor der Universitätsfrauenklinik Gießen, hatte 1856 in der „Monatsschrift für Geburtskunde“ geschrieben: „Uns ist vielfach der Gedanke gekommen, dass die von selbst erfolgende Ausschließung der Frucht nach dem Prinzip des Druckes geschieht, während bei der künstlichen Zutageförderung fast nur das Prinzip des Zugs angewendet wird. Warum denn immer ziehen und warum nicht auch mitunter drücken?“

Samuel Kristeller (1820–1900, [Abb. 1]) wunderte sich 1867 darüber, dass von Ritgen aus dieser Erkenntnis nicht abgeleitet hatte, einen Druck auf die Bauchdecken der Gebärenden auszuüben, um das Kind zu exprimieren. Zudem hatte Franz Credé (Leipzig) schon 1854 empfohlen, durch Druck von außen auf die Bauchdecken die Plazenta zu exprimieren.

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Abb. 1 Foto von Samuel Kristeller um 1865.

Am 11. Februar 1867, also vor 150 Jahren, hielt Samuel Kristeller einen Vortrag vor der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe mit dem Thema „Neues Entbindungsverfahren unter Anwendung von äußeren Handgriffen.“. Es lag der Gedanke zugrunde, dass „möglichst wenig innerlich operiert wird.“ Für Kristeller drängte sich die Frage auf „den eigentlichen Geburtsverlauf, wenn er abnorm auftritt, durch äußere Handgriffe zu regeln, und ob man nicht das Indicationsgebiet für Manualextraction und Zange einschränken … und durch die Anwendung äußerer Handgriffe ersetzen kann?“

Er schildert dann sein Vorgehen bei der Anwendung von äußeren Handgriffen: „Ich lasse die Frau die Rückenlage einnehmen und rücke ihn (den Uterus) in die Achse des Beckeneingangs. Sodann umfasse ich den Uterus derart, dass ich den Kleinfingerrand der Hände nach dem Becken gerichtet, mit der Hohlhand den Fundus oder die Seiten des Uterus, diese aber nur an der oberen Hälfte des Organs ergreife, den Daumen auf der Vorderfläche lasse und mit den nicht sehr gespreizten Fingern, so tief es angeht, an die Hinterfläche des Uterus zu gelangen suche.“ „Die Compressionen des Fundus müssen die Richtung nach unten haben.“ „Der Druck dauert 5 bis 8 Sekunden … So dann mache ich, je nach Dringlichkeit des Falles und der Empfindlichkeit der Kreissenden eine Pause von 1 bis 3 Minuten … Gegen Ende der Entbindung rücke ich die Compressionen immer näher aneinander.“

Zur Verdeutlichung der Methode führt er zwei Beispiele an: Als ersten Fall schildert er das Vorgehen bei einer Beckenendlage. Als Kreissende wird Frau Mariana Kubiak genannt und als eine kräftige Brünette von 25 Jahren beschrieben mit dicken, fetten Bauchdecken – Verletzung der Persönlichkeitsrechte musste Kristeller damals nicht befürchten. Bei auf 7 cm erweitertem Muttermund benötigt Kristeller insgesamt 29 Kompressionen in einer Zeit von 19 Minuten bis zur Entwicklung des Kindes.

Als zweiter Fall wird die Entbindung von Frau Neumann beschrieben, eine schwächliche 40 Jahre alte Frau mit intrauterin abgestorbenem Kind in der 36. Schwangerschaftswoche. Es wird palpatorisch ein Hydrocephalus diagnostiziert, der Kopf befindet sich noch über dem Beckeneingang. Der Muttermund ist auf 8 cm erweitert. Nach 10 Kompressionen und Dauer von 4 Minuten ist das mazerierte Kind geboren.

Kristeller fügt an, dass seine Erfahrungen mit dieser Art von Expression nicht groß genug sind, um eine exakte Indikationsstellung festzulegen. Am Ende seines Vortrages betont Kristeller, „dass das Verfahren als Expressio vorzüglich mit der Extractio concurriert, dass es gleich dieser eine gewisse Vorbereitung der weichen, eine gewisse Geräumigkeit der harten Geburtswege und die Geradlage der Frucht zur wesentlichen Vorbedingung hat, dass seine dynamische Wirkung eine größere, dass aber seine mechanische Leistungsfähigkeit eine geringere als die der Zange und der Manualextraction ist.“

Es wäre unendlich viel damit gewonnen, „wenn wir die mit den inneren Operationen verbundenen Gefahren, und sei es auch nur in wenigen Fällen, vermeiden können.“

Im gleichen Jahr publiziert Kristeller 8 weitere Kasuistiken, bei denen sein „neues Entbindungsverfahren unter Anwendung von äußeren Handgriffen“ bei ganz unterschiedlichen geburtshilflichen Situationen erfolgreich eingesetzt werden konnte ([Abb. 2]).

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Abb. 2 a Handgriff nach Kristeller bei Schädellage und b Handgriff nach Kristeller bei Beckenendlage (Quelle: Martius H. Geburtshilfliche Operationen. 4. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme; 1943).

Die prominenten Geburtshelfer jener Zeit waren in ihrer Beurteilung zurückhaltend. Noch 30 Jahre später rät P. Müller, Direktor der Universitätsfrauenklinik Bern, die Versuche durch Expression zum Erfolg zu kommen, nach 9 bis 10 Mal einzustellen. Karl Schröder (Berlin) schreibt 1891 in seinem Lehrbuch, dass die Anwendung nur bei unzureichender Bauchpresse und bei der Beckenendlage zur Entwicklung des kindlichen Kopfes in Frage kommt. „An Schnelligkeit kann die Expression mit der Zangenextraktion nicht concurrieren.“

Etwas verächtlich bemerkt von Winckel (München) 1893: „Die Expression des Rumpfes nach geborenem Kopfe und die des Kopfes nach geborenem Rumpfe vom Fundus uteri aus wären längst bekannt.“

Kaltenbach (Halle) äußerte im gleichen Jahr die gleiche Einstellung wie Schröder.

Zweifel (Leipzig) sagte 1895 voraus, dass „diese Methode für Schädellagen niemals in die ärztliche Praxis eintreten wird, weil die Manipulation bei wehenschwachem Uterus nutzlos ist.“

Runge (Göttingen) schränkte 1896 den Erfolg selbst in der Austreibungsperiode ein: „Auch in dieser Geburtsperiode ist die Wirkung unsicher und die Ausführung recht schmerzhaft und langwierig.“

Bumm (Berlin) macht 1902 die Erfahrung, dass es zuweilen gelingt, durch Expression nach Kristeller, „wenn der Kopf schon auf den Damm drückt und die Weichteile keinen besonderen Widerstand bieten, den Schädel zum Durchschneiden zu bringen. Bei straffem Beckenboden und höherem Kopfstand ist das Exprimieren eine unnütze Quälerei.“

Das waren die Einschätzungen der Autoritäten der Geburtshilfe zu Zeiten von Kristeller, dem als Jude eine Universitätslaufbahn verwehrt blieb. Als er seine Methode vor der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe vortrug, war er als Geburtshelfer im Jüdischen Krankenhaus in Berlin tätig.

Der Kristellersche Handgriff ist heute durchaus noch gebräuchlich und jedem Geburtshelfer geläufig, mit vorgegebener geburtshilflicher Situation und eingeschränkter Indikation durchführbar, und hat so immer noch seinen Stellenwert.

Nach 150 Jahren hat man 2016 auf der letzten Tagung der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie über den Kristellerschen Handgriff und dessen Vorteile und Risiken diskutiert.