Zeitschrift für Phytotherapie 2017; 38(05): 197-204
DOI: 10.1055/s-0043-118938
Forschung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Evidenz und Tradition am Beispiel der Phytopharmaka[*]

Robert Jütte
1   Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart
,
Michael Heinrich
2   Centre for Pharmacognosy and Phytotherapy, UCL School of Pharmacy, London
,
Axel Helmstädter
3   Institut für pharmazeutische Chemie, Goethe Universität Frankfurt
,
Jost Langhorst
4   Zentrum für Integrative Gastroenterologie der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte
,
Meng Günter
5   Abteilung Forschung und Entwicklung der Schwabe Gruppe Karlsruhe
,
Wilhelm Niebling
6   Lehrbereich Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Freiburg
,
Tanja Pommerening
7   Institut für Altertumswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
,
Hans J. Trampisch
8   Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie Ruhr-Universität Bochum
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Korrespondenz

Prof. Dr. phil. Robert Jütte
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart

Publication History

Publication Date:
04 December 2017 (online)

 

Zusammenfassung

Hintergrund: Neben voll zugelassenen Phytopharmaka gibt es auch Produkte auf dem europäischen Arzneimittelmarkt, die auf Basis langjähriger Anwendung als traditionelle Arzneimittel registriert sind. Diese fallen durch das Raster des normalen Zulassungsverfahrens, weil sie den Wirksamkeitsnachweis, wie er zur Vollzulassung gesetzlich aufgrund einer EU-Richtlinie vorgeschrieben ist, derzeit nicht erbracht haben. Zur Zulassung ist unter anderem ein Traditionsnachweis erforderlich, der bislang unterschiedlich gehandhabt wird und nicht den erforderlichen Good Practice-Kriterien entspricht.

Methode: Selektive Literaturrecherche in PubMed und medizin- und pharmaziehistorischen Datenbanken, Befragung von mit der Zulassung befassten Experten, Konsensuskonferenz mit Teilnehmern aus Allgemeinmedizin, Phytotherapie, Medizingeschichte, Pharmaziegeschichte, Biometrie, Ethnopharmakologie und Pharmazeutischer Industrie.

Ergebnisse: Die derzeit für die Zulassung traditioneller pflanzlicher Arzneimittel geltende EU-Richtlinie aus dem Jahr 2004, in der ein Traditionsnachweis gefordert wird, ist ein regulatorisches Konstrukt und vor allem das Ergebnis eines politischen Prozesses, der zu einem pragmatischen Kompromiss führte. In dieser Richtlinie wird ein Traditionsbegriff verwendet, der den Bedeutungsumfang dieses Terminus nicht hinreichend reflektiert. Maßstab ist einzig das 30-jährige Vorhandensein eines definierten Handelspräparates auf dem Markt (davon 15 Jahre in der EU). Damit wird der wissenschaftliche Gehalt in Hinblick auf die verfügbare Evidenz nicht ausgeschöpft, da sich aus richtig aufbereiteten Informationen aus historischen Quellen wertvolle Erkenntnisse gewinnen lassen, die bislang ungenutzt bleiben. Dies gilt für Indikationen, Anwendungsmodalitäten und Effektivität ebenso wie für Aspekte der Anwendungssicherheit (‚Unschädlichkeit‘), die vollumfänglich in die Nutzen-Risiko-Bewertung angewandter Präparate im Registrierungsverfahren, aber auch in der therapeutischen Praxis einfließen sollten.

Schlussfolgerung: Um das Kriterium einer evidenzbasierten Medizin zu erfüllen, ist es bei der Zulassung traditioneller pflanzlicher Heilmittel unabdingbar, über die formal-regulatorischen Vorgaben (30 Jahre, Produktbezug) hinaus alle zur Verfügung stehenden Fakten zu erfassen und zu bewerten. Dazu ist die jeweilige anerkannte wissenschaftliche Methodik (aus den Natur-, Lebens- und Geisteswissenschaften) anzuwenden.


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Summary

Herbal medicinal products – Evidence and tradition from a historical perspective

Background: Aside from the fully licensed herbal medicines there are products on the European pharmaceutical market which are registered by virtue of their longstanding traditional use. The normal registration procedure does not apply to them because presently they do not meet the legal requirements for a full license as set out in the relevant European Union Directive. One of these requirements, “proof of tradition”, has so far been dealt with in different ways and fails to meet the criteria of good practice.

Method: This analysis is based on a selective literature search in PubMed and in databases of medical and pharmaceutical history, interviews with licensing experts, a consensus meeting attended by researchers with a background in general medicine, phytotherapy, medical and pharmaceutical history, biometry, ethnopharmacology, pharmacognosy and the pharmaceutical industry.

Results and discussion: The 2004 EU Directive, which governs the registration of Traditional Herbal Medicinal Products and demands proof of tradition, is a regulatory construct and, above all, the outcome of a political process that has ended in a pragmatic compromise. The concept of tradition applied in the Directive does not sufficiently reflect the semantic breadth of the term. The only condition defined is that a specific commercial preparation needs to have been on the market for 30 years (15 of them inside the EU). Such an approach does not make full scientific use of the evidence available because the information excerpted from historical sources, if adequately processed, may yield valuable insights. This applies to indications, modes of application, efficacy and product safety (innocuousness). Such criteria should enter in full into the benefit-risk-analysis of applied preparations, in the registration process as well as in the therapeutic practice.

Conclusion: When registering Traditional Herbal Medicinal Products the criterion of evidence-based medicine will only be met if all the facts available are assessed and evaluated, over and above the formally stipulated regulatory provisions (30 years, product reference). To this end, the scientific methods (from among the natural, life or cultural sciences), which are recognized as authoritative in each case, must be applied.


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Siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung haben mittlerweile eigene Erfahrungen mit Naturheilmitteln [1]. Phytotherapeutika sind die am meisten verbreiteten Naturheilmittel. Allein in Deutschland wurden 2015 im Versandhandel und über Apotheken rezeptfrei Phytopharmaka im Wert von 1,36 Milliarden Marktdaten verkauft [2]. Neben den voll zugelassenen Mitteln gibt es auch Produkte, die auf Basis langjähriger Anwendung als traditionelle Arzneimittel registriert sind.

Regulierungsverfahren und Wirksamkeitsnachweis

Um der wachsenden Nachfrage nach traditionellen pflanzlichen Heilmitteln (traditional herbal medicinal products, THMP), die durch das Raster des normalen Zulassungsverfahrens fallen, weil sie den Wirksamkeitsnachweis wie er zur Vollzulassung gesetzlich vorgeschrieben ist, derzeit nicht erbracht haben, Rechnung zu tragen und gleichzeitig einen „größtmöglichen Schutz der Volksgesundheit zu gewährleisten“ [3], trat 2004 die Richtlinie der Europäischen Union (2004 / 24 / EG) in Kraft [4] ([ Abb. 1 ]). Sie dient heute in den Mitgliedsstaaten als Regelwerk zur Registrierung pflanzlicher Arzneimittel der Selbstmedikation. Diese Phytopharmaka müssen eine ausreichend lange Tradition und genügend Sicherheit aufweisen, um in den Verkehr gebracht zu werden [5]. Es muss dabei konkret nachgewiesen werden, „dass das Produkt unter den angegebenen Anwendungsbedingungen unschädlich ist und dass die pharmakologischen Wirkungen oder die Wirksamkeit des Arzneimittels aufgrund langjähriger Anwendung und Erfahrung plausibel sind.“ Dazu ist u. a. ein sogenannter Traditionsnachweis notwendig. Dieser ist wie folgt nach Artikel 16c (1c) geregelt: Zur Registrierung müssen beigebracht werden „bibliografische Angaben oder Berichte von Sachverständigen, aus denen hervorgeht, dass das betreffende oder ein entsprechendes Arzneimittel zum Zeitpunkt der Antragstellung seit mindestens 30 Jahren, davon mindestens 15 Jahre in der Gemeinschaft, medizinisch verwendet wird.“

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Abb. 1 Es war ein Kompromiss: Der Traditionsbegriff in der EU-Richtlinie 2004 / 24 / EG wird der verfügbaren Evidenz nicht gerecht. © MPD01605

Diese europäische Richtlinie ist seit 2004 in die nationale Gesetzgebung der EU-Mitgliedsstaaten übernommen worden, so auch in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar hier im Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (abgekürzt AMG, in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.12.2005) [6], wo es in § 39b fast in wörtlicher Übertragung heißt: „Dem Antrag auf Registrierung müssen vom Antragsteller folgende Angaben und Unterlagen beigefügt werden; […] 4) bibliografische Angaben über die traditionelle Anwendung oder Berichte von Sachverständigen, aus denen hervorgeht, dass das betreffende oder ein entsprechendes Arzneimittel zum Zeitpunkt der Antragstellung seit mindestens 30 Jahren, davon mindestens 15 Jahre in der Europäischen Union, medizinisch oder tiermedizinisch verwendet wird, das Arzneimittel unter den angegebenen Anwendungsbedingungen unschädlich ist und dass die pharmakologischen Wirkungen oder die Wirksamkeit des Arzneimittels auf Grund langjähriger Anwendung und Erfahrung plausibel sind.“

Dieses regulatorische Konstrukt (einschließlich der Zeitbestimmungen) ist vor allem das Ergebnis eines politischen Prozesses und daher ein pragmatischer Kompromiss. Es spiegeln sich darin auf EU-Ebene die Bemühungen wider, einen harmonisierten Rechtsrahmen auch für diesen Bereich des Arzneimittelmarkts zu schaffen. In dieser Richtlinie wird allerdings ein Traditionsbegriff verwendet, der den komplexen Bedeutungsumfang dieses Terminus nicht reflektiert. Damit wird der wissenschaftliche Gehalt in Hinblick auf die verfügbare Evidenz nicht ausgeschöpft. Im Folgenden soll daher ausgeführt werden, wie dieser Mangel mit angemessenen wissenschaftlichen Methoden beseitigt und damit zusätzliche Evidenz geschaffen werden kann. Das ist zugleich von hoher praktischer Bedeutung, insbesondere in Hinblick auf die Anwender.


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Unscharfer Traditionsbegriff

Der Begriff „traditionelle Anwendung“ wird an keiner Stelle der rechtlichen Bestimmungen reflektiert, sondern das Gesetz definiert lediglich Kriterien, die als THMP zu registrierende Arzneimittel erfüllen müssen, wie eine offenbar willkürlich gesetzte Zeitspanne („mindestens 30 Jahre, davon mindestens 15 Jahre in der Europäischen Union“). Es bestand offenkundig im Wesentlichen die Absicht, die innerhalb Europas unterschiedlichen Anwendungstraditionen für pflanzliche Arzneimittel im Sinne des gemeinsamen Marktes auf der Basis eines langjährigen, vor allem sicheren Gebrauchs zu harmonisieren [7]. Entsprechend unterliegen die erforderliche Art und der Inhalt dieser Dokumentation juristischen Anforderungen, wie die einschlägigen Gesetzeskommentare belegen [8].

Die Vielschichtigkeit eines so schillernden Begriffs wie Tradition wird bislang – wie bereits erwähnt – nicht berücksichtigt. Angesichts der semantischen Probleme, die der Traditionsbegriff gerade im medizinischen Kontext aufwirft, macht es Sinn, kurz auf dessen unterschiedliche Verwendungsweise in anderen Disziplinen (Soziologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie) einzugehen, um den dadurch gewonnenen Erkenntnisgewinn für den Bereich der Medizin zukünftig zu nutzen.

Soziologie

In der Soziologie sind vor allem die Arbeiten von Edward Shils (1910–1995) zu nennen. Er versteht Tradition zunächst in rein formaler Hinsicht als Prozess der Tradierung („anything which is transmitted or handed down from the past to the present“ [9]). Das können beispielsweise materielle Objekte, aber auch z. B. Praktiken sein. Entscheidend ist, dass diese überliefert wurden bzw. werden. So schafft nach Shils ein industrieller Produktionsprozess (das gilt beispielsweise auch für die Herstellung oder Vermarktung eines Arzneimittels zu einem früheren Zeitpunkt) allein noch keine Tradition, erst indem er überliefert und gleichsam ritualisiert wird, entsteht daraus eine Tradition. Tradition setzt also Wiederholung („reenactment“ [10]) zwingend voraus. Eine solche Weitergabe muss mehrere Überlieferungsschritte umfassen, in der Regel zwei bis drei Generationen [11], [12].


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Anthropologie

Unter den zahlreichen ethnologischen Theorien verdient in unserem Zusammenhang der Ansatz von Richard Handler und Jocelyn Linnekin Beachtung. Beide verstehen Tradition als symbolische Konstruktion und Repräsentation. Tradition bedeutet demnach nicht, eine Sache einfach weiterzugeben. Sie ist vielmehr konstruiert und wird fortlaufend durch Interpretation verändert. Handler und Linnekin sprechen daher von einem „Paradox der Tradition“ [13]. Tradition kann nicht zuletzt auch „erfunden“ werden, wie u. a. die ideologiekritischen Studien von Eric Hobsbawm (1917–2012) und Terence Ranger (1929–2015) zeigen [14]. Das eingängigste Beispiel für eine erfundene Tradition ist die Tracht. Diese ist nicht althergebracht, sondern ein Phänomen des 19. Jahrhunderts und spiegelt nicht die Arbeits- oder Festtagskleidung der Bauern, sondern das Interesse der Städter an der ländlichen Bevölkerung und deren Kultur wider.


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Geschichtswissenschaft

In der Geschichtswissenschaft bezeichnet man seit Johann Gustav Droysen (1808–1884) als Tradition die bewusste Überlieferung, z. B. in Form von Memoiren oder anderen Selbstzeugnissen [15]. Davon sind die sogenannten Überreste zu unterscheiden, also unabsichtlich überlieferte Zeugnisse historischen Geschehens, wie z. B. Rechts- und Alltagstexte, Bauwerke, Gegenstände, aber auch abstrakte Dokumente menschlichen Zusammenlebens wie Sprache, Bräuche und Sitten. Diese Unterscheidung ist insbesondere in Hinblick auf die historische Evidenz (Stichwort Quellenkritik) von Bedeutung, wie noch zu zeigen sein wird. Bedeutsamer für unseren regulatorischen Kontext ist aber der Begriff „soziale Validierung“, den der kanadische Medizin- und Pharmaziehistoriker John K. Crellin 2001 eingeführt hat, um die Tradition komplementärmedizinischer Heilverfahren näher zu fassen. Eine Tradition ist danach umso „valider“, je länger sie sich bis in die Gegenwart nachverfolgen und je häufiger sie sich in geographisch getrennten Regionen nachweisen lässt. Auch andere Faktoren, wie z. B. die Nützlichkeit, wie sie von Patienten empfunden wurde und wird, fließen in die Bewertungsmatrix ein [16].


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Philosophie

Philosophen haben ebenfalls über den Traditionsbegriff nachgedacht. Nach Hans Blumenberg (1920–1996) besteht eine Tradition „nicht aus Relikten, sondern aus Testaten und Legaten.“ [17] Das heißt, Tradition verweist nicht auf irgendwelche Überreste vergangener Zeiten, sie entsteht nicht von selbst, sondern durch Vererbung bzw. Bekräftigung [18]. Ein solches kulturelles Erbe, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, kann wissenschaftliche Erkenntnisse und handwerkliches Können, aber auch künstlerische Konzeptionen sowie Verhaltensweisen und Wertorientierungen umfassen. Anders sieht der philosophische Ansatz aus, der sich von der Theorie des kommunikativen Handelns (Jürgen Habermas, *1929) leiten lässt [19] ([ Abb. 2 ]). Um beispielsweise das nicht selten auftretende Problem sich widersprechender Traditionen zu lösen, bieten sich kommunikative Verfahren an, die es erlauben, alle Betroffenen an der Lösung des Konflikts zu beteiligen. Daneben existiert ein Konzept, das ausgehend von Karl Popper (1902–1994) [20] versucht, Tradition rational zu begründen. Es geht von der „lebendigen Tradition“ (living tradition) aus und bietet nicht zuletzt eine Lösung für das Problem der Authentizität [21].

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Abb. 2 Wie lassen sich einander widersprechende Traditionen verstehen? Jürgen Habermas hat sich dazu Gedanken gemacht. Foto: Wolfram Huke

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Gesellschaftliche Dynamik über zwei Generationen

Wenngleich es durchaus unterschiedliche Traditionsbegriffe in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt, so haben sie in der Regel doch eines gemeinsam: Eine Tradition im Sinne eines kulturellen Erbes muss die gesellschaftliche Dynamik berücksichtigen, indem eine Überlieferungskette mindestens zwei Generationen umfasst, sollte der Begriff überhaupt Sinn machen. Bei einem Generationenabstand, der heute mindestens 30 Jahre beträgt, kommt man somit auf eine Zeitspanne von 60 Jahren, was in der fortschrittsorientierten Medizin bereits als ein recht langer Zeitraum gilt und sich daher in der THMP-Richtlinie der EU bzw. dem AMG nicht niedergeschlagen hat. Wie aber die (medizin-)ethnologische und die von ihr inspirierte pharmakologische Forschung zeigt, macht es durchaus Sinn, größere Zeiträume in den Blick zu nehmen, auch wenn es sich dabei nicht um einen Traditionsnachweis im arzneimittelrechtlichen Sinne handelt. Erinnert sei hier an die Verleihung des Medizin-Nobelpreises an die chinesische Wissenschaftlerin Youyou Tu im Jahr 2015 [22], [23]. Sie und ihre Mitarbeiter hatten in den 1960er-Jahren damit begonnen, in der älteren chinesischen Literatur nach Hinweisen auf Substanzen zu suchen, die gegen Malaria wirken. Man wählte zunächst aus zahlreichen historischen Quellen eine Vielzahl von Heilpflanzen, u. a. Artemisia annua L., aus. In der Rezeptsammlung des namhaften chinesischen Gelehrten Ge Hong (284–364) findet der Einjährige Beifuß zur Behandlung des Wechselfiebers erstmals Erwähnung, auch wurde seitdem über einen Zeitraum von fast 1700 Jahren dessen spezifische Anwendung immer wieder dokumentiert. Außerdem entdeckte das chinesische Forscherteam in dieser Quelle wesentliche Hinweise zum Extraktionsverfahren und damit zur Wirkstoffisolierung. Es folgten klinische Studien, die dann den eindeutigen Nachweis der Wirksamkeit erbrachten. Das aus der Pflanze isolierte Artemisinin ist heute ein klinisch essentielles Antimalariamittel.

In unserem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich die in der EU-Richtlinie wie auch im AMG verwandte Terminologie – was ihrem Zweck gemäß auch nicht zwingend ist – als nicht unbedingt kompatibel mit dem Traditionsbegriff zeigt, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet: „Traditional medicine is the sum total of knowledge, skills and practices based on theories, beliefs and experiences indigenous to different cultures that are used to maintain health, as well as to prevent, diagnose, improve or treat physical and mental illnesses.“ [24] Gemeint sind hier also kulturspezifische medizinische Systeme mit zum Teil einer Tradition, die sich über hunderte oder gar tausende von Jahren (z. B. in China oder in Indien) erstreckt. Das entspricht der landläufigen Deutung, dass es sich bei Tradition um ein kulturelles Erbe handelt. Jedoch sind ethnopharmakologische Studien, welche diesen Konzepten zu Grunde liegen, oft nicht auf der Grundlage einer historischen Betrachtung entstanden. Vielmehr werden darin unter ‚traditionaler Medizin‘ in einer einseitigen synchronen Betrachtungsweise die derzeit praktizierten lokalen Therapieformen verstanden [25], [26]. In vielen Fällen beschränkt man sich zudem auf mündlich überlieferte Traditionen, auch wenn diese schon seit Jahrhunderten von schriftlichen Traditionen beeinflusst wurden [27].


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Probleme in der Praxis

Wie sich die Darstellung des Traditionsnachweises im Rahmen der THMP-Registrierungen entwickelt hat, zeigen die entsprechenden Bewertungsberichte (Assessment Reports) des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) [28]. Sie stellen die Basis für die entsprechenden HMPC-Monographien dar und dienen zusammen mit diesen den Mitgliedsstaaten der EU zur Harmonisierung ihrer dann aber eigenständigen Registrierungsentscheidungen. Diese Texte beinhalten auch Referenzlisten und spiegeln so den jeweils zu Grunde gelegten wissenschaftlichen Kenntnisstand wider.

Sieht man solche Bewertungsberichte exemplarisch durch, so fällt eine systematische Vernachlässigung eines Teils der verfügbaren Evidenz auf. Der Einschluss aller potenziell verfügbarer Quellen und deren methodisch und konzeptionell adäquaten Aufarbeitung kann aber neue wichtige Belege zur klinischen Anwendung liefern. Das hat Auswirkungen auf die therapeutische Praxis und die Verwendung von Phytopharmaka. Beispielsweise kann das Konzept der „traditionellen Verwendung“ ansonsten leicht als ein Fehlen von Evidenz interpretiert werden ([ Abb. 3 ]).

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Abb. 3 Grundlagen der Evidenz für traditionelle pflanzliche Arzneimittel.

Wohin beispielsweise eine lückenhafte Verwendung und fehlerbehaftete, unkritische Übernahme von Literaturhinweisen aus älteren Pharmakopöen und anderen pharmazeutischen Standardwerken in Bewertungsberichten über traditionelle pflanzliche Heilmittel führen kann, hat John K. Crellin am Beispiel der Monographien, die das Natural Health Products Directorate (NHPD) in Kanada erstellt hat, eindrucksvoll belegt [29]. In eine ähnliche Richtung weisen die Befunde von Klose et al., die für die Sicherheitsbewertung in medizinischen Leitlinien aufzeigen, wie problematisch es ist, wenn Quellen unterschiedlichen medizinischen und pharmazeutischen Bezugs ohne sorgfältige Differenzierung verwendet werden [30]. An diesem grundsätzlichen Problem historischer Evidenz ändert auch die Tatsache nichts, dass die HMPC-Monographien regelmäßig im Abstand von fünf Jahren überarbeitet und wieder an den neuen wissenschaftlichen Kenntnisstand angepasst werden – es sei denn, man holte das Versäumte in der Zwischenzeit jeweils nach.

Zudem zeigt die bisherige Registrierungspraxis, dass der Traditionsnachweis in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich gehandhabt wird – nicht nur, weil die Bestimmungen recht vage gefasst sind [31]. Ein Problem ist der Plausibilitätsbegriff, der für die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit herangezogen wird, vor allem in Hinblick auf die Kopplung mit dem Begriff „traditionelle“ bzw. „langjährige Anwendung“.

Dass der Zeitraum, der für den Traditionsnachweis festgesetzt wird, insgesamt mindestens 30 Jahre umfasst, ist – wie bereits erwähnt – eine willkürliche Setzung (mit Blick über den europäischen Tellerrand: [32], [33]). Er erweist sich in der Praxis in nicht wenigen Fällen als zu kurz oder auch als zu lang, je nachdem, was man darunter versteht: pflanzliche Arzneimittel, pflanzliche Stoffe oder pflanzliche Zubereitungen. Diese willkürlich gesetzte Zeitangabe (als Mindestanforderung sozusagen) betrifft zudem die medizinische Anwendung des zu registrierenden Arzneimittels. Hinsichtlich des Sicherheitsnachweises ist aber grundsätzlich alles zugängliche Material (das gilt auch für die Vergangenheit) zu sichten und zu bewerten. So ist die Nephrotoxizität derjenigen Aristolochia-Arten, die 1992 zu dem bekannten Zwischenfall mit belgischen Schlankheitskapseln führten, mindestens seit 1815, wenn nicht seit der Antike, bekannt und zweifelsfrei beschrieben [34].


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Unabdingbarkeit historischer Evidenz

Europäisches und deutsches Arzneimittelrecht sehen bei der Zulassung oder Registrierung von Arzneimitteln zwei unterschiedliche Verfahren des evidenzgestützten Nachweises für Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vor. Die Bewertung bei einer Zulassung orientiert sich an den hierarchisierten Evidenz-Typen, wie sie z. B. von der Cochrane Collaboration [35] verwendet werden. Dem gegenüber steht die auf der Basis „traditioneller Anwendung“ belegte und zusätzlich als wissenschaftlich plausibel betrachtete Wirksamkeit und Unschädlichkeit als Kriterium für die Registrierung von traditionellen pflanzlichen Heilmitteln. Dabei legen die Zulassungsbehörden bekanntlich nur die Maßstäbe des Gesetzes zu Grunde. Doch daneben handelt es sich auch hier zweifelsfrei um wissenschaftlich evaluierbare Fakten, die als Beleg im Sinne einer Evidenz für den Nutzen des Arzneimittels dienen. Allerdings muss sich in diesem Fall die Bewertung der Methoden einer anderen Grundlagendisziplin bedienen, nämlich der Geschichtswissenschaft. Das Konzept der evidenzbasierten Medizin ist bekanntlich offen für die Würdigung der unterschiedlichen Arten wissenschaftlicher Erkenntnisse, also z. B. auch solcher aus der Epidemiologie, der Medizinsoziologie oder der Pharmazie- und Medizingeschichte [36], [37]. Für Fragen zur Anwendungssicherheit unter Praxisbedingungen oder zur historischen Entstehungsgeschichte einer Behandlung können Methoden dieser Wissenschaftsgebiete zusätzliche Erkenntnisse liefern.

Gerade bei den traditionellen pflanzlichen Heilmitteln hat für die Registrierung der Aspekt der Anwendungssicherheit (‚Unschädlichkeit‘) entscheidende Bedeutung für die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Deshalb kommt der exakten wissenschaftlichen Aufbereitung der Daten zur „traditionellen“ Anwendung und den dabei möglicherweise gesammelten Erkenntnissen über Anwendungsmodalitäten, Indikationen und mögliche Nebenwirkungen etc. besonders großes Gewicht zu. Falls man also „traditionelle Anwendung“ als Kriterium zu Grunde legt, wie das Gesetz es tut, so ist aus Sicht der Autoren deren wissenschaftliche Erfassung und Bewertung unabdingbar [38], wenngleich die gesetzlichen Kriterien dies bislang nicht ausdrücklich fordern mögen. Damit würde zudem eine der Forderungen im Strategiepapier der WHO für die traditionelle Medizin für die Jahre 2014–2023 erfüllt, nämlich: „[to] identify sources of evidence, whether historical, traditional or scientific, which support or invalidate a particular therapy“ ([24] S. 47).


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Methodologische Handreichungen für den Traditionsnachweis

Wer sich die Frage stellt, wie ein Traditionsnachweis nach § 39a AMG vorzubereiten ist, der findet auf den Seiten der EMA und der nationalen Zulassungsbehörden zahlreiche Vorgaben und Empfehlungen. Daneben findet sich in einer Empfehlung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aber auch folgender Hinweis, der die Forderung des vorliegenden Beitrags unterstreicht: „Es können verschiedenste aussagekräftige Unterlagen zum Beleg der Tradition herangezogen werden; hinsichtlich der Zusammenstellung der Unterlagen ist die Kreativität der Antragsteller gefragt!“ [39]. Kreativität mag in den künstlerischen Disziplinen eine Rolle spielen, in den Geisteswissenschaften, zu denen die Geschichtswissenschaft zählt, kommt es wie in der von den Naturwissenschaften geprägten Medizin und Pharmazie durchaus auf ein methodisches Vorgehen an, das auf Kriterien wie Plausibilität, Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Systematik abhebt.

Zentral für die Geschichtswissenschaft ist hier die Forderung nach einer Quellenkritik. So kann jede Überlieferung eine Quelle für den Historiker sein, ob diese aber für ihn brauchbar ist, hängt von der Fragestellung ab. Dabei ist zu beachten, dass bereits die Auswahl der Quellen eine Interpretation darstellt. Das gilt für die Pharmaziegeschichte wie für die Allgemeine Geschichte.

Die Quellenkritik als Maßstab historischer Evidenz ist bereits seit mehr als 200 Jahren Standard in der Geschichtswissenschaft [40]. Sie besteht aus mehreren Schritten.

Zunächst werden äußere Kriterien angelegt: Ist die Quelle echt, stammt sie vom Verfasser? Ist sie originell, beruht sie auf eigenen Beobachtungen oder Erkenntnissen des Autors? Wie wurde die Quelle überliefert (im Original, sekundär)? Handelt es sich um eine (zuverlässige) Übersetzung [41], [42]?

Wie bedeutsam solche Bewertungskriterien selbst für Pflanzenmonographien sind, die sich auf jüngere Belegtexte der letzten 30 oder 40 Jahre stützen, hat der bereits erwähnte Medizinhistoriker John K. Crellin an einigen nordamerikanischen Beispielen gezeigt. So waren beispielsweise die Belege aus den verschiedenen Auflagen pharmazeutischer Standardwerke willkürlich gewählt worden. Manchmal sollten lediglich zwei Belegstellen aus unterschiedlichen Jahren Kontinuität in der Verwendung beweisen.

Häufig werden die indirekt zitierten Primärquellen, wie z. B. Rezepte oder Formeln, nicht kritisch überprüft, also nicht im wahrsten Sinne des Wortes in Augenschein genommen, wodurch es zu Fehlern oder Fehldeutungen kommt. Wie man zudem am Beispiel von Materia-medica-Editionen sehen kann, sind bei Quellen, die nicht in der Originalsprache zitiert werden, oft auch z. T. gravierende Übersetzungsfehler zu beobachten.

Meist beschränkt sich die Bibliographie auf gedruckte Quellen. Handschriftliche Quellen, wie z. B. die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise erhaltenen Rezeptkopiebücher von Apotheken, in denen neben dem Namen des Patienten auch der Inhalt der Rezeptur sowie der Name des verschreibenden Arztes und der Preis des abgegebenen Arzneimittels registriert werden, bleiben außen vor. Solche nicht gedruckten Quellen wurden bislang nicht zum Traditionsnachweis herangezogen, obwohl sie es ermöglichen, die Abgabe eines bestimmten Arzneimittels über mehrere Jahrzehnte detailliert und kontinuierlich nachzuweisen [43]. Das gleiche gilt für die Praxisdokumentation über Patienten [44].

Auf die „äußere“ folgt die „innere“ Quellenkritik. Zu fragen ist nach der Herkunft der Quelle (wer hat diese, wann, wie, wo und zu welchem Zweck verfasst?), lässt sich etwas über die Intention des Verfassers aussagen? Besteht der Verdacht, dass Sachverhalte verschwiegen werden? Was ist der historische Kontext der Quelle, auch unter Einbeziehung wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Aspekte? Bestehen Unklarheiten hinsichtlich von Begriffen, Ereignissen oder Personen?

Für den Traditionsnachweis heißt das, dass Einzelbelege besonders intensiv geprüft werden müssen, um Idiosynkrasien auszuschließen. Die Verfasser der Literaturstellen müssen ebenfalls mit Blick auf ihre Intention überprüft werden. Weiterhin muss die Zeit- und Standortgebundenheit des Autors der jeweiligen Quelle herausgearbeitet werden. Auch nach dem Auftraggeber wird man forschen müssen. Vor allem ist danach zu streben, eine breite Dokumentationslage („pattern of observation“ [29] S. 38) zu schaffen, die Primärquellen mit einschließt.

Am Ende der Quellenkritik steht die Antwort auf die Frage, welchen Erkenntniswert und welche Aussagekraft der Quelle in Bezug auf die Fragestellung, in diesem Fall dem Traditionsnachweis im Rahmen des Registrierungsverfahrens, zukommt. Dabei ist zu bedenken, dass hinsichtlich der Wirksamkeit deren Vorhandensein im Kontext konkreter Anwendungsmodalitäten belegt werden soll, hinsichtlich der Unschädlichkeit aber das Fehlen schädigender Wirkungen. Dies ergibt einen je verschiedenen Ansatz für die Quellenkritik.

In Bezug auf den Traditionsnachweis muss zudem geprüft werden, ob die vorhandenen Daten insgesamt überhaupt hinreichend Belege für Unschädlichkeit und medizinische Anwendung des zur Registrierung angemeldeten Arzneimittels erbringen können.

Es ist weiterhin sorgfältig zu prüfen, welche Daten valide beitragen können. Das hängt z. B. davon ab, um welche Produktebene es sich handelt: Pflanze, Droge, Extrakt. So kann es z. B. bei der Drogenform durchaus Sinn machen, den Blick weiter zurückzulenken.

Mit pharmazeutischem Sachverstand zu eruieren wäre ebenfalls, ob und wie weit historische Quellen Informationen beinhalten, die Auskunft geben über die verwendeten Pflanzenteile und das Extraktionsverfahren. Beides hat wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Produkte. Eine bloße Anwendungstradition der Pflanze bietet hier z. B. weniger Information.

Die Obergrenze für einen zeitlich erweiterten Traditionsnachweis, wie er hier gefordert wird, dürfte aber üblicherweise mit dem Erscheinen des mehrbändigen Standardwerks Systema Naturae (erste Auflage 1735) des Naturforschers Carl von Linné (1708–1778) anzusetzen sein. Auf dieser Klassifikation, die auch für Pflanzen zweiteilige Namen enthält, beruht die heutige biologische Nomenklatur. Gleichwohl wird man den Wandel langlebiger medizinischer (Körper-)Konzepte (Stichwort Humoralpathologie) im Auge behalten müssen, um nicht falsche Schlüsse hinsichtlich der medizinischen Anwendung zu ziehen.

Im Übrigen gehört zu einer bis in die Gegenwart andauernden Anwendungstradition, wie sie für den THMP-Bereich gefordert ist, auch das Bestimmen dessen, für das gegenwärtig eine Tradition geltend gemacht wird. Hierzu dienen Untersuchungen, die sich epidemiologischer Methodik sowie der wissenschaftlichen Aufbereitung von Daten aus der ärztlichen und apothekerlichen Praxis bedienen. Wie diese auf hohem Qualitätsniveau durchgeführt werden können, ist in der einschlägigen Literatur umfangreich abgehandelt. Wichtige Hinweise gibt auch das Informationsangebot des European Network of Centers for Pharmacoepidemiology and Pharmacovigilance (ENCePP).

Boswellia serrata: belegte Tradition – kein Präparat

Als Beispiel eines Phytopharmakons mit über lange Zeit gut belegter Anwendungstradition kann das Harz des Weihrauchbaumes (Olibanum, Boswellia serrata L.) dienen ([ Abb. 4 ]). Die Tradition des Weihrauchs geht bis in die Antike zurück und erstreckt sich auf europäische und außereuropäische Heilsysteme gleichermaßen [45]. Zu den vielfältigen überlieferten Indikationen zählen äußerliche Anwendungen, etwa in der Wundbehandlung, aber auch entzündliche und rheumatische Erkrankungen, die vor allem aus dem indischen Heilsystem Ayurveda überliefert sind. Diese Berichte gaben Anlass zu ausgedehnten pharmakologischen Untersuchungen, die eine hohe antiinflammatorische Potenz nachweisen konnten und zur Isolierung definierter Wirkstoffe, den Boswellia-Säuren, führten [46], [47]. Trotz der bruchlosen Anwendungstradition und der in diesem Fall im pharmakologischen und klinischen Experiment gezeigten „Plausibilität“ der Wirkung konnte bislang in Deutschland kein Weihrauchpräparat traditionell registriert werden, weil es an einem mehr als 30 Jahre erhältlichen Handelspräparat fehlt.

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Abb. 4 Die Krux mit dem Weihrauch: lange und plausible Anwendungstradition, aber keine 30-jährige Marktpräsenz. Foto: Peter Presslein

Es wird hier bewusst darauf verzichtet, pharmazeutische Sammlungen und Standardwerke aufzulisten, die für einen fundierten Traditionsnachweis auf breiter Quellenbasis hilfreich sind. Inzwischen sind einige dieser Quellen sogar digital erschlossen und leicht über das Internet zugänglich [48]. Als Ausgangspunkt können auch pharmaziehistorische Studien dienen, die chronologisch angelegte Literaturverzeichnisse enthalten [41], [49]. Grundsätzlich aber bedarf die Auswertung der älteren Literatur Erfahrung und Kompetenz, die man in der Regel unter den Vertretern der beiden Disziplinen Medizin- und Pharmaziegeschichte findet [50]. Diese müssen daher in den Traditionsnachweis zwingend einbezogen werden. Hier kann auf entsprechende Initiativen in Nordamerika verwiesen werden. So nimmt beispielsweise der kanadische Medizin- und Pharmaziehistoriker John K. Crellin die dortigen Zulassungsbehörden ausdrücklich in die Pflicht. Sie müssen seiner Meinung nach vor der Registrierung eines pflanzlichen Arzneimittels unbedingt darauf achten, dass der Traditionsnachweis evidenzbasiert („sound scholarship“ [29]) ist. Hier besteht nach Meinung der Autoren dieses Beitrags ein erheblicher Nachholbedarf innerhalb der EU. Daran zu arbeiten liegt nicht zuletzt im ureigenen Interesse der Hersteller. Die Qualität der Anwendung und die Sicherheit der Nutzung von Phytopharmaka kann dadurch zukünftig deutlich verbessert werden.


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Fazit

Wie für andere therapeutische Verfahren gilt auch für die spezielle Gruppe der sogenannten traditionellen pflanzlichen Arzneimittel, dass sie wesentlich auf Basis ihrer langjährigen Anwendungstradition therapeutisch gebraucht bzw. von den Zulassungsbehörden registriert werden. Damit dieser therapeutische Gebrauch im Rahmen einer evidenzbasierten Medizin geschehen kann, ist es unabdingbar, dass alle Fakten über die regulatorischen Vorgaben (30 Jahre, Produktbezug) hinaus wissenschaftlich erfasst und bewertet werden. Dazu ist die jeweilige anerkannte wissenschaftliche Methodik einzusetzen (aus den Natur-, Lebens- und Geisteswissenschaften). Selbst bei der Beschränkung auf die jüngere Vergangenheit (wie etwa die in der EU-Richtlinie genannten 30 Jahre) ist historische Evidenz unverzichtbar und muss methodisch sauber erbracht werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die von der EbM eingeforderte „beste verfügbare Evidenz“ den Patienten zugutekommt.

Danksagung: Die Autoren danken Herrn Prof. Dr. rer. nat. Werner Knöss (BfArM, Bonn) für Kritik und Anregungen.


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Online

https://doi.org/10.1055/s-0043-118938


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Interessenkonflikt

Der Korrespondenzautor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Übersetzung des Artikels Jütte R et al. Herbal medicinal products – Evidence and tradition from a historical perspective. J Ethnopharmacol 2017; 207: 220–225



Korrespondenz

Prof. Dr. phil. Robert Jütte
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Straußweg 17
70184 Stuttgart


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Abb. 1 Es war ein Kompromiss: Der Traditionsbegriff in der EU-Richtlinie 2004 / 24 / EG wird der verfügbaren Evidenz nicht gerecht. © MPD01605
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Abb. 2 Wie lassen sich einander widersprechende Traditionen verstehen? Jürgen Habermas hat sich dazu Gedanken gemacht. Foto: Wolfram Huke
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Abb. 3 Grundlagen der Evidenz für traditionelle pflanzliche Arzneimittel.
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Abb. 4 Die Krux mit dem Weihrauch: lange und plausible Anwendungstradition, aber keine 30-jährige Marktpräsenz. Foto: Peter Presslein