Gestiegene Ansprüche
Der Anspruch an die tierärztliche Leistung und an die Personen, die hinter der Profession
des Tierarztes stecken, ist durch vielfältige Veränderungen in der „Tierhalterwelt“
so hoch wie nie zuvor. Neue Unternehmen sprießen sprichwörtlich aus dem Boden, um
dem modernen Tierhalter einen noch ausgefalleneren oder individuelleren Service für
das eigene Haustier bieten zu können – ob in der Gesundheitsüberwachung, der bedarfsgerechten
Ernährung oder dem gemeinsamen Urlaub [3]. Auch die Auseinandersetzung mit Konkurrenzmärkten, die keine tierärztliche Approbation
erfordern, oder gängige „Kosten-Diskussionen“ mit Patientenbesitzern [5] nehmen immer größeren Raum ein. Dass all diese Faktoren neben dem ohnehin stressigen
Arbeitsalltag eine deutliche Belastung darstellen können, liegt vermutlich auf der
Hand.
Stressige Fragen
Wie kann man Stress „managen“, wenn man keinen Einfluss auf externe Gegebenheiten
hat? Zum Beispiel darauf, wie viele Patientenbesitzer die Praxis betreten oder nachts
anrufen? Oder man wieder mit Patientenbesitzern über die Tabletteneingabe für den
Hund oder die Abrechnung von Leistungen diskutieren muss? Oder sich der Pferdebesitzer
beschwert, dass er 30 Minuten im Stall warten musste?
Wie kann man mit Stressgefühlen umgehen, die entstehen, wenn die Wut nach schlechten
Bewertungen in Onlineportalen, spontaner Kündigung von Mitarbeitern oder sonstigen
Ausfällen abgeklungen ist? Wenn man plötzlich vor einem Berg voller Gefühle der Frustration,
Angst und Verzweiflung steht?
Um eines vorweg zu nehmen: Es gibt kein „Patentrezept“ gegen Stress. Jeder muss selbst
Wege finden, die funktionieren. Und dies erfährt man nur nach dem Trial-and-Error-Prinzip.
Das eine hat super geholfen, das andere überhaupt nicht. Nur eines sollten Sie nie:
stehen bleiben.
Folgen
Die Reaktionen auf stressige Situationen fallen nicht nur individuell, sondern auch
situationsbedingt unterschiedlich aus. Der Eine behauptet, er könne unter „Stress“
effektiver arbeiten, der Nächste sitzt nach einem 12-Stunden-Dienst erschöpft in der
Ecke und fragt sich, wie er noch so einen Tag überstehen soll. Auch Dauerstress führt
zu unterschiedlichen Reaktionen: Der Eine fällt in eine Lethargie, der Andere in ungerichteten
Aktionismus. Der Eine gesteht sich ein, dass es so nicht weitergehen kann, der Andere
rennt blind weiter bis zum Umfallen.
Fakt ist: Man könnte viele krankheitsbedingte Ausfälle verhindern, würde man mehr
präventive Maßnahmen einführen. Dazu gehört nicht nur das Einhalten von (gesetzlich)
geregelten Arbeits- und Ruhezeiten, sondern auch Aspekte wie Wertschätzung, eine gute
Kommunikation und das Zugestehen von Pausen (die leider oft noch immer als „Schwäche“
bewertet werden) [2], [4].
Wer effektiv, erfolgreich, motiviert und langfristig diesen Beruf ausüben möchte,
sollte den Blick einmal von seinen Patientenbesitzern abwenden und auf sich selbst
schauen. Denn diese „Ich-bezogene-Aufmerksamkeit“ und das Nehmen von Auszeiten sind
die Basis für eine gute tierärztliche Arbeit. Wer gestresst und übellaunig ist, kann
weder gute Diagnosen stellen, noch eine dauerhafte Kundenzufriedenheit aufbauen.
„Externer“ Stress
Sowohl im beruflichen, als auch im privaten Leben können Dinge passieren, die man
nicht beeinflussen kann. Was Sie aber beeinflussen können, ist, wie Sie darauf reagieren.
Und darum geht es unter anderem beim Stressmanagement: um die persönliche Einstellung
zu Dingen, die man nicht ändern kann.
Eine Akzeptanz dieser unveränderlichen Situationen hat nichts mit Resignation zu tun.
Sondern eher mit Resilienz: mit Zuversicht, mit Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeit sowie natürlich Selbstvertrauen.
Es geht darum, seine persönliche Energie in Aufgaben und Gedanken zu investieren,
die lösungsorientiert sind, anstelle sich seinem Ärger, seinem Frust und damit einer
Opferrolle hinzugeben. Denn dies ist pure Zeit- und Ressourcenverschwendung. Und von
Zeit haben wir ja bekanntlich nicht sehr viel – im Gegensatz zu den Ressourcen. Aber
diese muss man manchmal erst „aufspüren“. Dazu später mehr.
Der Umgang mit „externen Stressfaktoren“ hängt hauptsächlich mit der inneren Haltung
zusammen. Alles Weitere ist ein Managementproblem, denn natürlich kann ich meine Termine
im 10-Minuten-Takt ohne Puffer oder Pause vergeben. Dann muss ich mich allerdings
nicht wundern, wenn der Tag am Ende in Stress ausartet.
Resilienz
Wie kann man Resilienz entwickeln und was bedeutet dies überhaupt? In der Definition
nach Brockhaus bezeichnet Resilienz „die psychische Widerstandsfähigkeit von Menschen,
die es ermöglicht, selbst widrigste Lebenssituationen und hohe Belastungen ohne nachhaltige
psychische Schäden zu bewältigen“ [1]. In der Literatur (oder bei „Dr. Google“) werden Sie einige Versionen und „Bausteine“
der Resilienz finden. Ich beziehe mich hier auf sieben Resilienzfaktoren, angelehnt
an Reivich u. Shatté [7]. Diese wären Optimismus, Selbstwirksamkeit, Kausalanalyse, Empathie, Emotionssteuerung, Impulskontrolle
und Zielorientierung.
Resilienz ist also der Aufbau einer inneren Stärke und hat viel mit Wertschätzung
zu tun, dem verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst und anderen sowie dem Vermeiden
einer lähmenden „Opferrolle“. Es geht um lösungsorientiertes Arbeiten, Flexibilität
und den Mut, vielleicht auch etwas unkonventioneller zu denken, anstelle sich hinter
seinen Scheuklappen zu verstecken und nur einen einzigen richtigen Weg zu sehen, der
vielleicht nie funktionieren wird.
Optimismus
Vermutlich ein Begriff für jeden. Hier geht es aber um realistischen Optimismus und
nicht um das Tragen einer „rosa Brille“. Leben wir im Dauerstress, so fällt es uns
irgendwann sehr schwer, die guten und positiven Seiten in Situationen zu erkennen.
Wir nehmen eher Kritik wahr als Lob. In diesen Situationen hilft es explizit sich
klar zu machen, welche guten Seiten vielleicht auch negative Erlebnisse haben oder
haben könnten. Dies ist die Art des Optimismus, der hier gemeint ist.
Selbstwirksamkeit
Ja! Ich schaffe das! Ob es der Anfangsassistent ist, der seine erste Hündin alleine
kastriert, die ersten schweren Wochen und Monate nach einer Praxiseröffnung oder das
Überstehen schwieriger Phasen in der Selbstständigkeit. Mit jeder Situation, welche
Sie erfolgreich meistern, trainieren Sie Ihre Selbstwirksamkeit, denn dann wissen
Sie: Das habe ich schon einmal geschafft, das schaffe ich wieder!
Kausalanalyse
Ein gern vernachlässigter Punkt. Auch kein einfacher Faktor, denn er erfordert ein
gewisses Maß an Objektivität. Er beinhaltet, dass man sich ganz konkret mit dem „Warum“
beschäftigt: Welche ursächlichen Zusammenhänge haben zu dieser oder jener Situation
geführt? Warum ist etwas passiert, das mir oder vielleicht auch anderen geschadet
hat? Wie kann ich das nächstes Mal vermeiden?
Empathie
Was denken oder fühlen meine Patientenbesitzer? Warum gibt es „Zickereien“ im Team?
Weswegen hat mich mein Chef gerade so angebrüllt? Lag es an mir, oder steckt hinter
dieser Emotionalität vielleicht mehr? Die Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt anderer
Menschen hineinzuversetzen, ist ein wesentlicher Aspekt der tierärztlichen Tätigkeit.
Dies gilt nicht nur im Rahmen der Kundenbindung, sondern auch für den Zusammenhalt
im Team.
Emotionssteuerung
Es klingt etwas abwegig: Die „Steuerung“ von Emotionen. Man könnte vielleicht auch
von einem „Umlenken“ sprechen. Dem Umlenken von negativen Gefühlen in Gefühle, die
angenehmer, wenn nicht gar positiv sind. Das bedeutet nicht, dass Menschen, die ihre
Emotionen gut steuern können, keine negativen Gefühle mehr haben oder sich nicht über
andere Menschen ärgern. Aber man lernt, diesen Ärger schneller „abzuschütteln“. Es
geht eher darum, sich selbst zu sagen: „Ich möchte glücklich sein. Ich möchte mich
wohlfühlen.“
Impulskontrolle
Dieser Begriff ist vielleicht leichter zu verstehen, wenn man den Begriff der „Impulskontrollstörung“
beschreibt: Nägel kauen, Frust-Shopping, Spielsucht bis hin zur Selbstverletzung oder
Bulimia nervosa. Es geht um Ungeduld, um ein Handeln ohne Überlegung. Im Umkehrschluss
geht es bei der Impulskontrolle darum, Affekte zu kontrollieren oder umzulenken. Statt
einem Wutanfall wird eine Atemübung trainiert – überspitzt gesagt.
Zielorientierung
Wer nicht weiß, wofür er das tut, was er tut, kann auch nicht auf das Getane mit Stolz
zurückblicken und sagen: Ich habe es geschafft! Ist es das „Große Ganze“, was Sie
erreichen wollen? Wie hoch sind Ihre Erwartungen an sich selbst? Mit welchem Gefühl
möchten Sie abends ins Bett gehen? Dass Sie wieder einen „kleinen Schritt“ in die
richtige Richtung gelaufen sind? Auch kleine Schritte können sehr befriedigend sein
– wenn man sie wahrnimmt und wertschätzt.
Aufbauarbeit
Seine persönliche „innere Stärke“ zu finden ist nicht unbedingt einfach. Bei manchen
wird tatsächlich ein „Schalter umgelegt“ und plötzlich ist alles „klar“. Andere kämpfen
lange Jahre damit, eine Resilienz aufzubauen und müssen mit vielen Rückschlägen zurechtkommen.
Eine „Schritt-für-Schritt-Anleitung“ für Anfänger gibt es leider nicht. Also, wo fängt
man an? Jeder empfindet Stress anders, jeder reagiert anders, jeder ist anders. Was
kann man also raten, wenn es so viele individuelle Unterschiede gibt? Im Grunde nur
eines: Packen Sie das Problem an der Basis. Und das bedeutet: manchmal intensives Schaufeln und Graben, manchmal mit Splittern
in den Händen, aber am Ende ist dieser Aufwand eine langfristige und positive Investition
in die eigene Zukunft und Gesundheit. Und hier kommen Ressourcen ins Spiel.
Ressourcen
Ressourcen sind Hilfsmittel, die dazu dienen, unangenehme Emotionen wieder in angenehme
zu wandeln. Hierbei unterscheidet man innere Ressourcen, wie Erinnerungen an schöne
oder erfolgreiche Momente im Leben, die ohne äußere Einflüsse zu positiven Gefühlen
führen. Sowie äußere Ressourcen, wie Familienmitglieder, Freunde oder andere soziale
Kontakte sowie Orte, an denen man sich wohl fühlt. Jeder kann dabei auf eigene Ressourcen
zurückgreifen, die individuell, vielfältig und in unterschiedlichen Situationen zum
Einsatz kommen. Ob es sich um persönliche Krisen handelt, um Auseinandersetzungen
mit Mitmenschen oder Belastungen bei der Arbeit. Auch körperliche Fitness und das
Aufrechterhalten von geistigen Fähigkeiten stellen Ressourcen dar.
Vielleicht fallen Ihnen beim Lesen dieser Zeilen erste Ressourcen ein, unterstützend
hilft auch immer eine „Positivliste“, mit Dingen, die positive Gefühle bei Ihnen auslösen. Wenn der Alltag dann mal wieder
zu schwer war und Ihr Kopf mit Denken aufgehört hat, können Sie sich diese Liste vornehmen
und einfach mal durchgehen, was Ihnen dann akut helfen könnte.
Rituale
Auch Rituale können eine stetige Ressource darstellen. Verbinden Sie eine Gewohnheit
mit einer gewählten Aktion – und konditionieren Sie so Ihren Kopf und Körper Schritt
für Schritt um. Und wenn es nur ein erstes kleines Ritual ist, z. B.: Jeden Morgen,
wenn ich meine heiße Kaffeetasse in der Hand halte, schließe ich die Augen, fühle
die Wärme in den Händen und sage mir: „Das wird heute ein guter Tag.“ Dann lächele
ich und atme fünfmal tief durch. Sie werden sehen, am Ende ist es die Summe der kleinen
Glücksmomente, die Ihnen helfen werden, über den Tag zu kommen [4].
Abb. 1 Eine gute und offene Kommunikationskultur ist die beste Stressprävention für das
ganze Team!(© L. Leiner)
Prävention
Neu gewonnene Rituale und Ressourcen helfen womöglich über berufliche und persönliche
Unzufriedenheit sowie manche externe Stressoren hinweg. Trotz aller „guten Vorsätze“
kann jedoch eine „gescheiterte“ Kommunikation mit Mitmenschen zu einer erhöhten Cortisol-Ausschüttung
mit nachfolgender Explosionsgefahr führen. Ob es sich dabei um Patientenbesitzer oder
Mitarbeiter handelt, spielt kaum eine Rolle. In manchen Situationen wird man schlicht
„auf dem falschen Fuß“ erwischt.
Die Kommunikation per se beinhaltet bereits ein hohes Maß an Interpretationsmöglichkeit.
Eine falsche Interpretation von Aussagen führt zu Missverständnissen und damit verbunden
durchaus auch zu falschen Reaktionen oder Handlungen. Diese Irrtümer können, in einer
Kette von weiteren Missverständnissen, bis hin zum Mobbing am Arbeitsplatz führen.
Die Folgen davon sind neben psychischen Auswirkungen meist auch ein Ausscheiden des
Betroffenen aus dem Arbeitsverhältnis [6].
Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sind Kompetenzen, die nicht nur dann trainiert
werden sollten, wenn man bereits Probleme mit anderen Menschen hat. Es sollte als
eine grundsätzliche Kompetenz angesehen werden, die es zu fördern gilt.
Gute Kommunikation
Was ist das Geheimnis einer guten Kommunikation? Eigentlich recht einfach: Lassen
Sie keine Interpretationsmöglichkeiten zu und bleiben Sie auf Augenhöhe. Jedoch ist
dies leichter gesagt als getan. Nicht von ungefähr bevölkern Kommunikationsseminare
die Listen der Fortbildungsanbieter. Nicht umsonst werden Coaches klinik- und praxisintern
gebucht, um die Kommunikationsfähigkeit von Mitarbeitern (und Führungskräften) zu
schulen.
Interessanterweise spielt dabei die Ebene Tierarzt-Patientenbesitzer eine eher untergeordnete
Rolle. Zwar muss man auch hier lernen, sich nicht von „Dr. Google“ das Zepter aus
der Hand nehmen zu lassen und seine Leistung entsprechend darzustellen, aber um vor
allem in größeren Teams diese Ebene der Kommunikation erfolgreich (und umsatzstark)
umzusetzen, bedarf es erst einer „internen Arbeit“.
Gute Führung
Das Team hinter dem Tierarzt und vor allem die Führungsebene nehmen ständig Einfluss
darauf, wie in der Sprechstunde am Ende kommuniziert wird. Gibt es Querelen und Streitereien
im Team, gibt es immer Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen (notfalls den Dienstplan
dementsprechend ändern). Aber die Führungsebene, die ist omnipräsent.
Ob es um Dienstpläne geht oder um das korrekte Abrechnen von Leistungen. In den allermeisten
Fällen würde man sehr viel Stresspotenzial aus dem tierärztlichen Alltag abziehen
können, wenn die Führungsebene eine gute Kommunikation mit der Mitarbeiterebene pflegen
würde. Was aber bremst? Harmoniebedürftigkeit, Zeitmangel, Angst vor Entlassung, unangenehme
Konfliktgespräche oder gar Mobbing. Wer es allerdings schafft, über Hierarchieebenen
hinweg eine gute Kommunikationskultur zu etablieren, kann neben dem Aufbau einer persönlichen Resilienz auf einer weiteren
Ebene aktiv etwas gegen ein drohendes Stressempfinden tun.