ergopraxis 2018; 11(02): 8-9
DOI: 10.1055/s-0043-120144
Gesprächsstoff
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Schulgeldfreiheit – „Es ist ein Unding, dass eine Ausbildung in Deutschland noch Geld kostet!“


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Publikationsdatum:
02. Februar 2018 (online)

 

    Ohne Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten würde die Patientenversorgung nicht funktionieren. Doch die Zahl der Auszubildenden in der Ergotherapie ist laut des Deutschen Verbandes für Ergotherapeuten in den vergangenen zehn Jahren um circa 30 Prozent gesunken. Das Schulgeld ist einer der Gründe, der auch zum Fachkräftemangel beiträgt. Es muss sich etwas ändern – nur wie? ergopraxis sprach mit Inga Junge, wie eine Reform gelingen kann.


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    Inga Junge ist Referentin für Aus- und Weiterbildung beim DVE.
    Abb.: DVE

    Frau Junge, eine schulgeldfreie Ausbildung für Ergotherapeuten wird stark diskutiert. Wie soll diese finanziert werden?

    Der DVE strebt eine Ausbildungskostenfreiheit an. Es sollen auch die Hochschulen miteinbezogen werden, sodass man beide Ebenen der Bildung in der Ergotherapie berücksichtigt. Wir setzen uns schon sehr lange mit dem Thema auseinander und haben bereits Entwürfe zum Berufsgesetz und zur Ausbildungs- und Prüfungsordnung geschrieben. In denen haben wir pragmatisch festgelegt, dass die Finanzierung der Hoch- und Berufsfachschulen über die Länder geregelt werden sollen, da diese für die Bildung zuständig sind.

    Wessen Aufgabe wäre es, diese Umstellung in den Bundesländern durchzuführen?

    Es kommt in den Bundesländern auf die schulische Regelung an. In vom Kultus geregelten Ländern, also in Sachsen, Niedersachsen und Bayern, liegt die Verantwortung beim Kultusministerium. In anderen Bundesländern ist es das jeweils zuständige Ministerium im Bereich Gesundheit. Letztlich muss die Politik eine Veränderung initiieren – die Durchführungshoheit liegt bei den zuständigen Ministerien.

    Was können Ausbildungsstätten tun?

    Ausbildungsstätten können im Vorfeld sehr viel tun, wie zum Beispiel aktiv darauf hinweisen, dass die Schülerzahlen deutlich zurückgehen, dass sie sich kaum finanzieren können oder dass es ein Unding ist, dass eine Ausbildung in Deutschland noch Geld kostet. Wichtig ist hier, laut zu rufen, damit die Politik einen hört. Wenn die Politik die Durchführung anordnet, wird es sicherlich Arbeitsgruppen auf Länderebene geben, und da werden die Schulen angesprochen, um sich zu beteiligen und zu engagieren.

    Gibt es bereits konkrete Ideen zur Umstellung in den einzelnen Bundesländern?

    Unsere Idee ist es, die Ausbildungskostenfreiheit in einem Bundesgesetz zu verankern – es würde also auf Bundesebene festgesetzt werden. Die Länder sind trotzdem zuständig, da die Ausgestaltung auf Länderebene liegen würde, und hier würde es dann verschiedene Arbeitsgruppen geben.

    Niedersachen prüft aktuell, wie die Finanzierung aussehen und geregelt werden kann. Bislang sind alle schulgeldfreien Schulen in Deutschland über das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) finanziert. Diese sind an ein Krankenhaus angeschlossen, welches die Kosten der Schule trägt.

    Könnte die Schulgeldfreiheit auch negative Folgen haben?

    Ja. Wir kalkulieren derzeit, wie viel Geld eine Hoch- und eine Berufsfachschule brauchen, um finanziert zu sein. Bisher sind die Schulen, die Schulgeld verlangen, mit einem Minimalbetrag finanziert. Aufgrund knapper Schülerzahlen, wollen die Schulen potenzielle Schüler nicht mit zu hohem Schulgeld abschrecken. Viele Schulen signalisieren uns: Sie sind am Limit.
    Bei Schulen, die bereits eine hohe Qualität haben, könnte die Qualität abnehmen, da der Staat Kürzungen vornehmen könnte.

    Welches Feedback bekommen Sie von …

    … den Ausbildungsstätten?

    Ausbildungsstätten signalisieren uns eine Notlage, da es zu wenig Schüler gibt. Lehrer werden gekündigt, weil nicht mehr ausreichend Schüler da sind. Oftmals ist nur noch eine Lehrkraft tätig, die teilweise auch gleichzeitig als Schulleitung dienen muss. Es ist sehr schwierig, eine Schule zu finanzieren.

    … den Auszubildenden?

    Schüler bekommen den Druck auch mit. Die Kurse werden kleiner. Nach anfänglicher Freude stellen die meisten fest, dass die Finanzierung unsicher ist und die Schule Existenzängste hat. Schüler fragen sich: „Können wir unsere Ausbildung dort überhaupt noch beenden?“

    … den Bundespolitikern?

    Die Bundespolitiker sind eher flott in ihren Aussagen. Sie befürworten in ihren Wahlprogrammen eine Schulgeldfreiheit, wohlwissend, dass die Umsetzung auf Landesebene erfolgen muss.

    … den Landespolitikern?

    Die Landespolitiker halten sich aus eben diesem Grund eher verhaltener und bedeckter.

    2014 vollzog die Politik für eine Berufsgruppe den Wandel von der Schulgeldpflicht zur vergüteten Ausbildung. Man wechselte vom Rettungsassistenten zum Notfallsanitäter. Grund hierfür war unter anderem die Versorgungsgefährdung. Diese besteht durch den Fachkräftemangel auch bei den Ergotherapeuten – ist das nicht Grund genug zur Änderung?

    Ja, das wird auch derselbe Grund in der Ergotherapie werden. Der Weg dorthin ist nur sehr lang und mühselig. Die Politik reagiert erst, wenn erste Opfer (z. B. Schulen, die schließen müssen) zu verzeichnen sind und es zu einem Versorgungsengpass kommt. Dass man uns gehört hat, sieht man in den Wahlprogrammen, das ist schon ein Anfang. Bis das komplette System verändert wird, wird es allerdings noch eine Zeit dauern.

    Haben Sie eine Idee, wie lang es noch dauern könnte, bis eine Schulgeldfreiheit umgesetzt wird?

    Das Bundesgesetz muss ein Zeichen setzen – dies wird wahrscheinlich erst mit Auslaufen der Modellklausel 2021 und den Gesprächen hierzu passieren. Dann wird der Bund eine Ausbildungskostenfreiheit fordern, hierfür Übergangszeiträume geben, und erst dann wird sich wirklich jedes Bundesland mit der Thematik einzeln befassen.

    Gibt es noch weitere Aspekte, die bei einer Systemänderung beachtet werden sollten?

    Oft ist nicht nur eine Reform in den Gesetzen von Nöten, sondern auch im Denken. Man muss offener für andere Finanzierungsmodelle und für die Notwendigkeit der Auszubildenden werden. Dieses Umdenken fordert eine Loslösung von alten Gewohnheiten und eigenen Erfahrungen. Nur der Austausch mit allen Beteiligten und ein gemeinsames Wirken können eine Verbesserung der Situation befördern.

    Ausbildungsstätten signalisieren uns eine Notlage.

    Fazit: Das Interview verdeutlicht, was bereits durch Statistiken belegt wurde – es besteht dringender Handlungsbedarf! Der Wechsel hin zu einer Schulgeldfreiheit ist langwierig, aber machbar. Wird sich nicht bald etwas verändern, droht eine noch größere Versorgungsgefährdung, als bereits besteht. Berufsflüchten muss gestoppt und die Ausbildung attraktiver gemacht werden. Die Politik, die Ausbildungsstätten und die Ergotherapeuten selbst müssen hierfür an einem gemeinsamen Strang ziehen, um eine Veränderung zu bewirken.

    Das Gespräch führte Lisa Dörfl.

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    Quelle: Junge I. Zur Situation der Ergotherapie-Ausbildung in Deutschland. Stand 12/2017, Manuskript in Vorbereitung
    Abb.: RedlineVector/stock.adobe.com

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    Inga Junge ist Referentin für Aus- und Weiterbildung beim DVE.
    Abb.: DVE
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    Quelle: Junge I. Zur Situation der Ergotherapie-Ausbildung in Deutschland. Stand 12/2017, Manuskript in Vorbereitung
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