ergopraxis 2018; 11(02): 43-45
DOI: 10.1055/s-0043-120155
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Einarbeitung von Berufsanfängern – Verleihen Sie Flügel!

Barbara Freitag-Herse

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 February 2018 (online)

 

Wenn junge motivierte Mitarbeiter in Ihrer Praxis anfangen zu arbeiten, sind Sie als Praxisinhaber besonders gefordert. Mit Ihrer Hilfe soll der Transfer von der Theorie in die Praxis gelingen und Sie tragen entscheidend dazu bei, dass ein Anfänger sich beflügelt fühlt und sich zum Profi entwickelt. Manchmal überholt er Sie dabei sogar!


#
Zoom Image

Barbara Freitag-Herse ist selbstständige Ergotherapeutin, Coach, Dozentin und Kommunikationstrainerin. Seit vielen Jahren begleitet sie therapeutische und pädagogische Teams in Findungs- und Konfliktsituationen. Hier und auch in den Familiencoachings liegt ihr besonders der wertschätzende und gleichwürdige Umgang miteinander am Herzen. „Gemeinsam zu Begeisterung, Lachen und Entwicklung“ ist ihr Grundthema bei Workshops und Seminaren.

„22 Jahre alt, topfit, belastbar, auf dem neuesten Stand der Forschung, ohne Kinderwunsch, hochmotiviert, ausgestattet mit therapeutischem Standing von zehn Jahren Berufserfahrung.“ Das wäre sicherlich für uns Praxisinhaber der perfekte Mitarbeiter. Selbstverständlich gibt es dieses Exemplar der Wunderschöpfung nicht. Und das ist auch gut so!

Therapeutisches Arbeiten, die Grundhaltung, das klare und verbindliche Standing sind nichts, was man in den Fachausbildungen tatsächlich lernen kann. Ähnlich dem Führerschein lernt man das – im besten Falle fundierte – Fachwissen, die Hintergründe und Zusammenhänge. Wir lernen Abläufe und Prozedere, Regeln und Bedingungen. Die vorausschauende Fahrsicherheit, das Automatisieren der Abläufe und das Selbstverständnis für das Fahren erlernen wir erst im Laufe der Zeit durchs Tun.

Auf dem Weg zu einem souveränen und sicheren Autofahrer kann uns eine Menge Hinderliches passieren. Ebenso ist es, wenn wir mit dem frisch gestempelten Examen in eine therapeutische Zukunft starten, denn genau wie beim Autofahren fängt das Lernen nach der Prüfung eigentlich erst an.

Genau hier kommen dann wir Arbeitgeber, Praxisinhaber etc. ins Spiel und mit uns auch die Frage, was wir wollen! Was wollen wir für die Entwicklung „unseres Ladens“? Was wollen wir für die Entwicklung unseres Berufs?

Ich vermute, dass sich fast alle Praxisinhaber junge Kollegen wünschen, die

  • kreativ und lösungsorientiert denken,

  • verbindlich und souverän das Berufsbild und die Praxis vertreten,

  • fach- und sozialkompetent sind,

  • empathisch und wertschätzend kommunizieren.

In den Seminaren für Führungskräfte begleitet mich hier oft ein zustimmendes Nicken und Lächeln, was ich jedoch mit der folgenden klaren Frage etwas ins Wanken bringe: Wollen Sie das wirklich?

Die Aufzählung der Adjektive kommt so leicht daher und meine Frage wird oft quittiert mit verwundertem oder verwirrtem Blick. Und ich wiederhole die Frage: Wollen Sie das wirklich? Wollen Sie jungen Kollegen ermöglichen kreativ zu denken, souverän die Praxis zu vertreten und wertschätzend zu kommunizieren?

Die Zauberworte heißen inspirieren, ermutigen, begleiten

Ich stelle diese Frage nicht grundlos, denn – ganz klar – einfach ist das nicht! Einfach ist Gehorsam aus Angst vor Kündigung, vor Fehlern und vor Blamage. Die meisten von uns „alten Hasen“ hatten vermutlich nicht das Glück, in Schule und Ausbildung zu erleben, wie Inspirieren, Ermutigen und Begleiten funktioniert. Jedoch zeigt uns auch die Hirnforschung, dass genau so das nachhaltige Lernen und Entwickeln geschieht. Der Prozess des Lernens ist eben nicht mit Erhalt des Examens abgeschlossen, sondern geht dann an den Arbeitgeber als Mitverantwortlichen über. Hier stehen wir dann natürlich etwas auf dem Schlauch, wenn wir es selbst nicht zuvor erlebt haben. Dies lässt sich aber ändern!

Der Lernprozess ist mit dem Examen noch lange nicht abgeschlossen.

Ich möchte Sie inspirieren, ermutigen und ein paar Zeilen lang dabei begleiten zu lernen, wie man junge Mitarbeiter bei der Entwicklung unterstützen kann. Das erfordert von Ihnen ein wenig Mut, denn unter Umständen verlassen Sie das gewohnte Terrain des „das macht man so“. Los geht’s!


#

1. Schaffen Sie eine Basis

Bis Freitagnachmittag waren sie noch in Ausbildung; Montagmorgen sind sie Therapeuten und für den therapeutischen Prozess verantwortlich. Diesen Sprung zu schaffen ist harte Arbeit. Es fühlt sich auf einmal doch ganz anders an, mit „echten“ Patienten in der Behandlung zu arbeiten, als noch kurz zuvor im Praktikum. Dabei können wir Sicherheit geben, um das Gelernte zu verfestigen, und zwar über geschenkte Zeit: Zeit zu hospitieren, zu fragen, sich vorzubereiten, nachzubereiten. Und Zeit, den jungen Therapeuten wahrzunehmen.Gerade junge Kollegen brauchen am Anfang den Überblick über Strukturen und Abläufe. Das können sie natürlich noch nicht so erfassen wie Mitarbeiter, die schon in mehreren Einrichtungen gearbeitet haben und das Wissen übertragen könnten.

Gestalten Sie beispielsweise grafische Workflow-Karten, die darstellen, wie der Weg zu und durch Ihre Praxis für die Patienten oder auch die Verordnungen abläuft.

Ebenso kann ein kleiner und übersichtlicher Ablaufplan etwa zum Thema „So gehen wir mit Verordnungen um“ hilfreich sein. Sie wissen, dass Sie die wichtigen Fakten über verschiedenen Kanäle vermittelt haben, und der junge Therapeut kann sich dort immer wieder rückversichern, ohne sich „irgendwie doof“ vorzukommen, wenn er zum 35. Mal fragen muss.

Genauso wichtig ist es, dass die Werte, für die Sie mit Ihrem Unternehmen stehen, erfahrbar und transparent werden. Machen Sie vor, wie Sie sich die Kommunikation untereinander vorstellen? Nur wenn der Mitarbeiter Ihre Anforderungen kennt, kann er sie auch erfüllen. Hier tragen wir Chefs eine große Verantwortung, um langfristig Konflikte und Missstimmungen zu vermeiden.


#

2. Geben Sie Rückendeckung

Nach der Phase des Einfindens und Ankommens wird es langsam spannend. Der Mitarbeiter kennt sich inzwischen mit den Werten, Gegebenheiten und Abläufen im Großen und Ganzen aus und kann also immer mehr Aufgaben eigenverantwortlich übernehmen und in die Patientenbehandlungen eingebunden werden. Hier braucht es zusätzlich zur Sicherheit in der ersten Phase nun Freiheit und Vertrauen. Den Königsweg zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen können wir nur finden, indem wir weder im Weg herumstehen noch uns aus dem Staub machen. Als Praxisinhaber gehören Sie bildlich gesprochen hinter den Mitarbeiter. Er kann frei voranschreiten, erfährt jedoch stärkenden Rückenwind durch wertschätzendes Feedback und Beobachtungen.

Neue Mitarbeiter gehen auch mal neue Wege – und erweitern so auch Ihren Horizont.

Goldene Regel: Erwischen Sie gerade die jungen Mitarbeiter immer genau dann, wenn sie am besten sind!

Gestalten Sie Ihre Beziehung so, dass es angenehm ist, Sie im Rücken zu haben. Klar, Sie sind der Chef, Sie tragen das unternehmerische Risiko und stehen auch mit Ihrem Namen für die Arbeit, die der Mitarbeiter tut. Und doch muss dieser die Möglichkeit haben, seinen Weg zu finden, der womöglich anders ist als der Ihre, jedoch keineswegs schlechter. Erlauben Sie sich, auch mal erstaunt zu sein über die Begründung, warum ein therapeutischer Weg so eingeschlagen wurde. Es kann sehr bereichernd sein, von den jungen Kollegen zu lernen und den eigenen, eventuell eingefahrenen Horizont zu erweitern.


#

3. „Wurzeln und Flügel“

Schon Goethe schrieb über die enorme Bedeutung von Halt und Freiheit und nannte es in Bezug auf Kinder „Wurzeln und Flügel“. Dies können wir in die dritte Phase für die „Youngsters“ wunderbar übertragen. Idealerweise können Sie die Früchte der gemeinsamen Beziehungsarbeit reifen sehen und werden zur Ernte eingeladen.

Sicherlich ist jedem Therapeuten klar, dass wir, um flexible und starke Flügel zu bekommen, eben auch trainieren müssen. Es darf also auch mal Gegenwind geben, Auftrieb und Strömungen. Nur den Absturz mit Bruchlandung sollten wir vermeiden.

Im Alltag bedeutet dies, dass die Herausforderungen für den Mitarbeiter schwieriger werden dürfen, beispielsweise durch Konflikte mit Patienten oder Angehörigen. Auch das Vertreten seiner Arbeit und seiner Herangehensweise gegenüber einem Arzt ist nun allein möglich, nachdem Sie ihm eine ganze Zeit lang Support gegeben haben und er Sie als loyalen Arbeitgeber hinter sich weiß.

Genaue Zeitangaben zu machen, wann welche Phase eintritt, ist nicht möglich, hängt es doch von den individuellen Fähigkeiten des Mitarbeiters und Ihrer Fähigkeit des Lehrens ab. Erproben Sie sich im Loslassen immer wieder und finden Sie das Maß, mit dem es beiden gutgeht und das für den Mitarbeiter hilfreich sein kann.


#

Und jetzt: Laufen lassen und genießen!

Bleiben Sie im gleichwürdigen Beziehungskontakt und hinterfragen Sie die Art der Kommunikation, das Therapiemittel, die Zielstellung etc. Sie sind nicht gleichberechtigt, tragen Sie doch Verantwortung unter anderem für Kassenzulassung und Löhne. Jedoch begegnen Sie sich nun als zwei Therapeuten auf der gleichen Augenhöhe, lediglich hat der eine – nämlich Sie – schon einen Erfahrungsvorsprung.

Trauen Sie dem Mitarbeiter zu, Verantwortung zu übernehmen, etwa über die Anzahl seiner Therapieeinheiten oder die Gestaltung der Teamsitzung. Geben Sie dem Mitarbeiter die Möglichkeit selbstwirksam zu werden, indem Sie ihn zum Beispiel fragen, in welchem Bereich er sich fortbilden will. Er kann recherchieren und darstellen, warum er genau dies tun möchte und wie er dies in Ihrer Einrichtung einsetzen kann. Ermöglichen Sie Veränderung: Unsere Einrichtungen, Praxen und Abteilungen befinden sich in stetigem Wandel. Durch junge Kollegen geschieht ein generativer Übergang, eine Anpassung an die demografische Entwicklung, die in unserer Gesellschaft ohnehin stattfindet. Nur noch wenige der „neuen Alten“ können wir mit Volksliedern, Sprichwörtern und der guten alten Zeit zur Aktivität motivieren. Genauso bei den jüngeren Patienten. Ich hatte mich gerade einigermaßen in die Welt der Pokemons eingefunden und diese utilisiert, da waren sie auch schon wieder abgemeldet und out.

Freuen Sie sich darauf zu erleben, wie sich Selbstvertrauen und Professionalität entwickeln. Ein wundervoller Moment, wenn das ehemalige „Küken“ mit großer Sicherheit und Souveränität wertschätzend einen Konflikt am Telefon löst, im Anschluss tief durchschnauft und sortiert in die nächste Behandlung geht.


#

Das wohl Wichtigste zu Schluss

Erlauben Sie sich und ihm, dass ein junger Mitarbeiter in manchem Bereich im Laufe der Zeit „besser“ wird als Sie. Das ist das Beste, was Ihnen passieren kann, zeigt es doch, dass Sie inspirieren und ermutigen können. Abgesehen davon ist es für die Entwicklung unseres Berufs großartig, denn wir selbst kennen immer nur den Stand, bis zu dem wir gegangen sind. Weiter gehen die nächsten!


#
#
Zoom Image