Einleitung
Pockenartige Krankheiten sind in den antiken Hochkulturen beschrieben und glaubhaft
dokumentiert. Durch Wanderungen und Feldzüge sind sie im frühen Mittelalter nach Europa
eingeschleppt und von hier aus im 16. Jahrhundert nach Amerika weitergetragen worden.
Und im 18. Jahrhundert werden die Pocken in Europa, nach der Pest, als die schrecklichste
der Seuchen bezeichnet. Die Ansteckung erfolgt über Tröpfchen und durch Kontakte,
wodurch endemische Herde immer wieder und neu auftreten. 1796 gelang dem Arzt Edward
Jenner in England eine Impfung mit Kuhpocken-Exsudat, durch Einritzen in die Haut.
Die Klärung der Virusgenese durch ein großes DNA-Virus erfolgte schon 1906, die Typisierung
erfolgte später. Das Virus kann im Elektronenmikroskop identifiziert werden. Die Infektion
betrifft den ganzen Körper, alle wichtigen Organe sind befallen, und führt zu einem
generalisierten Exanthem mit entzündlichen Papeln, die sich synchron pustulös wandeln.
Dies steht im Gegensatz zu Windpocken (Varizellen), deren Exanthem polymorph ist;
Erytheme, Papeln, Pusteln und Krusten erscheinen neben- und durcheinander, wie die
„Sterne am Himmel“. Daraus resultieren bei Überlebenden die sog. „Pockennarben“. Die
Pocken-Infektion (Variola) hat eine hohe Sterblichkeit. Jede Behandlung mag lindern,
effektiv zur Verhinderung der Ausbreitung wirken aber nur die Quarantäne der Betroffenen
und deren Kontaktpersonen sowie die Massenimpfung der noch gesunden Bevölkerung. Die
Dauer der Quarantäne hat sich nach der Inkubationszeit von 8 – 16 Tagen zu richten.
In Europa und insbesondere in Deutschland sind die Pocken seit dem 2. Weltkrieg praktisch
verschwunden. Dennoch sind einzelne Kleinepidemien aufgetreten, jeweils und ausschließlich
durch Bewohner, die sich in Endemie-Ländern angesteckt haben, oder durch Immigranten,
die nicht mehr krank, aber noch Virusträger waren. Die letzten Pockenepidemien in
Deutschland zeigt [Tab. 1]. Von besonderem Interesse sind die Epidemien in Hamburg 1957 und diejenige von 1958/59
in Heidelberg. Sie werden genauer betrachtet.
Tab. 1
Die letzten Pockenepidemien in Deutschland.
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Anzahl
|
davon verstorben
|
Hamburg 1957
|
1
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–
|
Heidelberg 1958/59
|
20
|
2
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Ansbach 1961
|
4
|
1
|
Düsseldorf 1961
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5
|
2
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Lammersdorf 1961/62
|
33
|
1
|
Meschede 1961/62
|
20
|
4
|
Hannover 1972
|
1
|
–
|
Der Hamburger Pockenfall 1957
Der Hamburger Pockenfall 1957
Im Frühsommer 1957 kehrte ein Hamburger von Ingenieursarbeiten in Indien und Pakistan
nach Hause zurück. Mit Pockenverdacht wurde er erkannt, gemeldet, isoliert und betreut.
Die 8 Kontaktpersonen wurden ebenfalls isoliert, geimpft und beobachtet, wodurch Sekundärfälle
und damit eine Ausbreitung zur Epidemie verhindert werden konnten. Der Vorfall wurde
noch ein ganzes Jahr geheimgehalten, wodurch ein Medienrummel verhindert werden konnte.
Die Mediziner der Hansestadt und deren Behörden ernteten reichlich Lob für dieses
bedachtsame und mutige Vorgehen. Ganz anders ist leider die Epidemie in Heidelberg
abgelaufen.
Die Heidelberger Pockenepidemie im Winter 1958/59
Die Heidelberger Pockenepidemie im Winter 1958/59
Der Assistenzarzt der Inneren Medizin und Habilitand J. K. begab sich im Spätherbst
1958 auf eine Indienreise. Obschon er als Kind zweimal gegen Pocken geimpft worden
war, verweigerte er, entgegen kollegialem Rat, die Auffrisch-Impfung. Dies obschon
damals bekannt war, dass Indien und Pakistan von einer Pockenepidemie gezeichnet waren
[1].
Obwohl er sich bei der Rückkehr kränklich fühlte, hat er am 5. Dezember 1958 seinen
Dienst in der Ludolf-Krehl-Klinik wieder aufgenommen und Kontakt mit Kollegen, Patienten
und Bediensteten gehabt. Er fühlte sich fiebrig, unwohl und suchte kollegiale Hilfe
in der Ludolf-Krehl-Klinik für Innere Medizin in Heidelberg. Er wurde untersucht und
wegen unklaren Hauterscheinungen auch in der Hautklinik vorgestellt, wo ein Pockenverdacht
nicht ausgeschlossen werden konnte. Die elektronenmikroskopische Diagnostik wurde
eingeleitet. Am 7. Dezember wird er als Pockenverdachtsfall in der Isolierstation
aufgenommen. Ab dem 15. Dezember treten in einer ersten Welle 9 Sekundärfälle auf,
die auf der Isolierstation konzentriert werden. Ein Fall der Kinderklinik wird ebenfalls
dahin verlegt und die ganze Krehlklinik wird Quarantänestation mit polizeilicher Bewachung.
Die leitende Schwester Ernestine Thren, ausreichend geimpft, meldet sich freiwillig,
um in der Quarantäne Dienst zu tun, und bleibt gesund. Im Jahre 1963 erhält sie für
ihren selbstlosen Einsatz die Florence-Nightingale-Medaille zuerkannt.
Ab Beginn des Januar 1959 erkrankten in einer zweiten Welle nochmal 11 Personen, eingeschlossen
der Klinikdirektor Prof. Dr. med. Karl Matthes (1905 – 1962). Er nennt es eine besondere
Bewährungsprobe seiner Klinik und auch von sich selbst [2]. Dank der Sofortimpfung erkrankten die meisten Patienten der zweiten Welle weniger
schwer als diejenigen der ersten Welle.
Insgesamt wurden 20 Menschen pockeninfiziert: Ärzte, Schwestern, Sekretärinnen, der
Klinikseelsorger, ein Friseur, ein Kind, eine Putzfrau und mehrere Patienten. Zwei
sind leider verstorben, eine Ärztin und eine Patientin.
Im Januar 1959 sind über 25 000 Heidelberger frisch gegen Pocken geimpft worden. Das
Echo in den Medien und die Kommentare waren enorm, vielfältig und oft kritisch. Fachleute
berichten von einem beträchtlichen Rückgang des Tourismus in Heidelberg, wenigstens
vorübergehend.
Gerügt wurden die schleppende Diagnostik, die verzögerte Isolation und die späte Meldung
an die Gesundheitsbehörde. Aufgezeigt wurden die Schwächen der Quarantäne einer ganzen
Klinik über Feiertage, die trotz geschicktem Einsatz der Polizei oft und phantasiereich
durchlöchert wurde [3].
Die Pockengefahr war weiter gefürchtet, wie der Verdachtsfall von Bruchsal vom 11. Januar
1962 zeigt [4]. Ein Fernfahrer hatte eine Panne, übernachtete in Bruchsal und fuhr am nächsten
Tag mit einem Mietauto weiter nach Schaffhausen in der Schweiz. Dort wurde wegen Hautveränderungen
Pockenverdacht geäußert, worauf in Bruchsal 8 Kontaktpersonen in Quarantäne versetzt
und 15 000 Leute geimpft wurden. Ein Medienrummel begann, bis nach 3 Tagen der Alarm
durch die Diagnose Varizelle (Windpocken) aus Schaffhausen abgebrochen werden konnte.
Die Pockenkommission Heidelberg
Die Pockenkommission Heidelberg
Zum 1. Oktober 1965 trat Prof. Dr. med. Urs W. Schnyder, mein Oberarzt in Zürich,
seinen Dienst auf dem Lehrstuhl Dermatologie an der Universität Heidelberg an. Er
hatte mich als seinen leitenden Oberarzt mit nach Heidelberg genommen. Im Rahmen dieser
Position wurde ich sehr bald in die „Pockenkommission“ zugewählt. Der „Pockenschreck
von 1958/59“ saß den Medizinern und den Behörden in Heidelberg immer noch tief „in
den Knochen“. Ich sollte, obschon mir keine direkte Pockenerfahrung zukam, unbefangen
mitwirken. Es stellte sich alsbald heraus, dass diese Kommission aus nur 2 Personen
bestand, neben mir, als erfahrenem Internisten und Infektiologen, der leitende Oberarzt
der Krehlklinik, PD Dr. med. Hans Dengler, der die Heidelberger Pockenepidemie als
Assistenzarzt der Krehlklinik mitgemacht hatte (später Lehrstuhlinhaber der Inneren
Medizin in Gießen, dann Bonn). Ich holte mir Rat und Unterstützung beim leitenden
Oberarzt der Frankfurter Dermatologie, PD Dr. Günther Stüttgen (später Lehrstuhlinhaber
in Berlin), der v. a. am Flughafen Frankfurt schon reichlich praktische Erfahrung
gesammelt hatte.
Hans Dengler und ich, wir bemühten uns, den eigenen Impfschutz durch jährliche Auffrischimpfungen
möglichst hoch zu halten. Dann übten wir den praktischen Gebrauch der Ganzkörper-Schutzanzüge
mit Helm und Stiefeln, die in den Kliniken gelagert wurden. Wir einigten uns darauf,
im Verdachtsfall zusammen aufzutreten mit folgenden Zielen:
-
Materialentnahme von Haut, Nase und Rachen zur virologischen Pocken-Untersuchung
-
Stellen einer zuverlässigen klinisch-morphologischen Diagnose als Alternative zum
Pocken-Verdacht, also ein Ausschluss von Pocken
-
Information der Verdachtsträger und der zuständigen Amtsstellen mit Vorschlägen zum
weiteren Vorgehen
So gerüstet mussten wir mehrfach „notfallmäßig“ Arztpraxen besuchen, welche dem Gesundheitsamt
mögliche Pocken-Verdachtsfälle meldeten. Zumeist waren es Fehlalarme, die wir vor
Ort aufklären konnten. Weitere Maßnahmen erübrigten sich. In zwei Fällen war es anders.
Pockenalarm in Pforzheim
Ein Kollege kehrte aus Indien zurück mit grippalem Infekt und aufkommendem Hautausschlag.
Er war besorgt und äußerte Pockenverdacht. Wir wurden vom Gesundheitsamt informiert
und riefen beim Kollegen an, er und seine Frau mögen im Haus bleiben, niemanden außer
uns einlassen und die Garage leeren, damit wir uns umkleiden können. So geschehen,
fanden wir einen grippalen Infekt mit einer typischen Pityriasis rosea, Plaque mère
und Sekundärelementen, also keine Pocken.
Wir lösten den Alarm auf, entwanden uns der Schutzanzüge und tranken mit den Gastgebern
noch einen Kaffee. Der Einsatz war erfolgreich und der Alam gelöst, wenn nicht der
überbesorgte Patient selber Abstriche gemacht und diese nach München in die Bayrische
Landesimpfanstalt geschickt hätte. Dort war vorerst kein Negativbescheid erlassen
worden, worauf das Gesundheitsamt Heidelberg uns Kommissionsmitgliedern eine Quarantäne
androhte und die Vorbereitung dazu veranlasste. Glücklicherweise wurde deren Realisierung
durch den endgültigen Negativbescheid aus München verhindert.
Pockenverdacht in Heidelberg
Pockenverdacht in Heidelberg
Das Klinikum Heidelberg hatte aus Kerala in Indien einen Schwarm Krankenpflegerinnen
und Hilfskräfte angeworben und im damals leerstehenden Schlosshotel untergebracht.
Eine dieser Schwestern tat auch auf der Infektionsabteilung der Hautklinik Dienst
und hatte dabei während 4 Stunden möglichen Kontakt mit einer Patientin mit Gürtelrose
(Herpes Zoster). Eine gute Woche später erkrankte sie mit Hautausschlag und blieb
im Schlosshotel, betreut durch ihre Kolleginnen. Eine weitere Woche danach erkrankten
12 Kolleginnen, worauf Pockenalarm ausgelöst wurde, Hautveränderungen auf pigmentierter
Haut waren alarmierend. Die Kommission ging hin und klärte die Diagnose Varizellen.
Da in Kerala Varizellen nicht epidemisch verbreitet sind, waren die Inderinnen nicht
durch den Befall als Kinder geschützt, wie bei uns die meisten, sondern äußerst anfällig.
So hatten nach einer weiteren Woche nochmals 10 Inderinnen Varizellen durchzumachen.
Wir richteten das Schlosshotel vorübergehend als Quarantänestation ein und ließen
so die Seuche sich austoben. Dann war Ruhe.
Noch immer aber war die Pockenimpfung hilfreich, dringend empfohlen und bei einigen
Reisedestinationen sogar Pflicht. Bei den offiziellen Impfstellen aber waren die Impfkomplikationen
gefürchtet, die bei erkrankter Haut stark und besonders häufig auftreten. Es sind
dies die überstarken lokalen Impfpusteln mit Ablegern um die Impfstelle herum, Variola
inoculata ([Abb. 1]), und die generalisierte makulo-papulöse Impfreaktion ([Abb. 2]). Solches tritt gehäuft bei der Neurodermitis atopica und auch bei der den Atopikern
eigenen, besonders trockenen Haut auf. Meist wurde die Impfung verweigert und die
Patienten wurden an uns Hautärzte verwiesen. Dieses Dilemma erkennend, entwickelte
die Bayrische Landesimpfanstalt in München (Prof. Dr. Albert Herrlich) einen oralen
Pockenimpfstoff, den ich im Rahmen einer Anwendungsprüfung mitverwenden durfte. So
habe ich sehr viele Atopiker oral gegen Pocken geimpft, ohne Komplikationen und mit
gutem Impfschutz [5].
Abb. 1 Variola inoculata mit starker pustulöser Reaktion auf Pockenimpfung mit Satellitenpusteln
bei Neurodermitis atopica.
Abb. 2 Makulo-papulöses, generalisiertes Exanthem infolge einer Pockenimpfung bei einer
46 Jahre alten Neurodermitikerin.
Was geschah weiter? Der letzte Pockenfall in Deutschland war ein Solitärbefall in
Hannover 1972. Die WHO lancierte ein Pocken-Ausrottungsprogramm, das effektiv war.
1977 wurde der letzte Pocken-Patient beschrieben, ein Somalier, und 1980 wurde die
Welt „pockenfrei“ erklärt. Nur in zwei Laboren werden Pockenviren im Hochsicherheitsbereich
gehalten, in Atlanta und in Novosibirsk.
Unsere Pockenkommission war damit hinfällig geworden, und die Pockenimpfung ebenfalls.