Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(06): 328-329
DOI: 10.1055/s-0044-101587
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Taube Kinder lernen Wörter schneller als hörende Kinder

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Publication Date:
28 June 2018 (online)

In Deutschland kommen jedes Jahr nach Schätzungen des Robert Koch-Institutes bis zu 2000 schwerhörige Kinder zur Welt. Seit vielen Jahrzehnten tüfteln Forscher an einem perfekten Ersatz für das Innenohr, das bei tauben Kindern mit sensorischer Hörstörung beschädigt oder fehlgebildet ist. Diese sog. Cochlea-Implantate (CIs) nehmen den Schall auf, wandeln ihn in elektrische Reize um und geben diese Impulse direkt an den Hörnerv weiter. Meist werden den betroffenen Kindern die Implantate im Alter zwischen 1–4 Jahren eingesetzt.

Frühere Studien haben gezeigt, dass Kinder ab dem Moment, ab dem sie das Gerät tragen, länger brauchen, um wichtige Stufen beim Lernen der eigenen Muttersprache zu erklimmen. So können sie bspw. erst mit 6–8 Monaten Hörerfahrung – statt mit spätestens 4 Monaten – den Rhythmus der eigenen Muttersprache von dem anderer Sprachen unterscheiden. Das könnte wiederum bedeuten, dass bei ihnen auch andere Entwicklungsschritte beim Spracherlernen bis hin zur Schulreife verzögert sind — obwohl sie alle anderen Voraussetzungen dafür mitbringen.

Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und des Universitätsklinikums Dresden scheint nun jedoch anderes zu offenbaren: Sie beobachteten, dass taube Kinder, sobald sie das CI eingesetzt bekommen hatten, schneller Wörter lernten als normalhörende Kinder. Sie bauten sich so schneller den entsprechenden Wortschatz auf. Normalerweise bräuchten Kinder etwa 14 Monate Hörerfahrung, um verlässlich zu bemerken, dass bekannte Objekte falsch benannt wurden. Kindern mit CI waren dazu bereits nach 12 Monaten Lernzeit in der Lage.

Als Ursache dafür vermuten die Wissenschaftler das höhere Alter der Kinder mit CI, in dem sie das erste Mal mit gesprochener Sprache in Berührung kommen: Normalhörende beginnen direkt nach der Geburt oder gar im Mutterleib damit, sprachliche Aspekte wie die typische Melodie oder den Rhythmus der Muttersprache zu lernen. Bei taub geborenen Kindern beginnt das hingegen erst nachdem das Implantat aktiviert wurde, also etwa im Alter von 1–4 Jahren. Dann sind gewisse Strukturen im Gehirn bereits stärker entwickelt, an die sie beim Spracherwerb anknüpfen können. Sie wissen z. B., dass Objekte wie Tassen oder Essen manchmal heiß sind und Hitze bei Berührung weh tun kann, auch wenn sie das Wort „heiß“ nicht kennen.

Untersucht haben die Neurowissenschaftler diese Zusammenhänge mithilfe von 32 Kindern, die auf beiden Seiten ein CI trugen. Mit ihnen führten die Forscher 12, 18 und 24 Monate nachdem die Kinder die CIs eingesetzt bekommen hatten, einen Test durch, in dem sie Wörter aus dem Basiswortschatz von Kleinkindern erkennen sollten: Dazu zeigten sie den jungen Studienteilnehmern Bilder von Objekten und benannten diese entweder richtig oder falsch. Gleichzeitig erfassten sie mithilfe von EEG-Messungen, die Hirnströme der Kinder. Zeigte sich hier im Verlauf der sog. N400-Effekt, signalisierte das den Forschern, dass die Kinder die Falschbenennung registrierten. Bei ihnen hatte sich also eine feste Verknüpfung zwischen Objekt und Bezeichnung gebildet, sie hatten das Wort gelernt.

Nach einer Mitteilung des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig (MPI CBS)