Rofo 1999; 171(10): 334-335
DOI: 10.1055/s-1999-284
DER INTERESSANTE FALL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Pulssynchroner Tinnitus als einziges Symptom einer fibromuskulären Dysplasie der zervikalen Arterien

C. Weihl, A. Dörfler, M. Forsting
  • Neuroradiologie, Universitätsklinik Essen
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Publication Date:
31 December 1999 (online)

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Ohrgeräusche gehören zu den häufigsten Beschwerden, die Patienten zum HNO-Arzt führen. Das pulsatile Ohrgeräusch ist dagegen relativ selten. Es entsteht häufig durch Turbulenzen im normalerweise laminären Blutstrom bei absoluten oder relativen Stenosen im Gefäßlumen. Die Ursachen des pulsatilen Tinnitus sind vielfältig. Häufig ist die Diagnose schwierig und bei vielen Patienten mit zahlreichen frustranen Konsultationen verschiedener Fachärzte verbunden. In Frage kommen vaskuläre Erkrankungen, erhöhtes Herzminutenvolumen bei Hyperthyreose oder Anämie, erhöhter intrakranieller Druck und gefäßreiche Tumoren. Bei den arteriellen Veränderungen kommen als Ursachen Aneurysmen der A.carotis interna (ACI), eine lateropositionierte oder im Mittelohr freiliegende ACI, arterielle Gefäßanomalien im Kleinhirnbrückenwinkel und stenosierende arteriosklerotische Plaques vor. Im venösen Schenkel des Blutkreislaufes ist ein hochstehender Bulbus venae jugularis bei enger Nachbarschaft zum Mittelohr manchmal Ursache des pulssynchronen Ohrgeräusches (Mahlo HW et al., Laryngo-Rhino-Otol 1991, 70: 675 - 677). Selten kann auch die Fibromuskuläre Dysplasie (FMD) der ACI (Waldvogel D et al., J Neurol 1998; 245: 137 - 142) oder der A. vertebralis (AV) als Ursache eines pulssynchronen Tinnitus nachgewiesen werden. Die Diagnose in unserem Fallbeispiel stützt sich auf angiographische Kriterien, eine histologische Klassifizierung liegt bislang nicht vor.

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Fallbericht

Die 52jährige Patientin kam aufgrund eines seit 1¿ Jahren bestehenden pulssynchronen Tinnitus rechts zur stationären Aufnahme in die HNO-Klinik. Bei der klinischen Untersuchung bestand eine etwa 1,5 cm große pulsierende Raumforderung im linken Kieferwinkel. Diese hatte die Patientin erstmalig vor etwa 2 Jahren bemerkt. Darüber hinaus waren die allgemeinmedizinische Untersuchung, die weitere HNO-Diagnostik (Audiogramm, Spiegelbefund) und die neurologische Untersuchung unauffällig. Anamnestisch und aktuell lag keine arterielle Hypertonie vor. In der auswärtigen Computertomographie war eine unklare KM-Anreicherung im Kieferwinkel links beschrieben worden. Zum Ausschluß eines Glomustumors wurde eine i. a. DSA der Karotiden durchgeführt. Statt eines gefäßreichen Tumors fanden sich jedoch beidseitig multiple kurzstreckige, konzentrische Stenosen der distalen extrakraniellen ACI-Segmente bei jeweils unauffälliger Darstellung der proximalen und auch der intrakraniellen Abschnitte (insbesondere ohne Nachweis von intrakraniellen Aneurysmen). Ferner konnten an der linken ACI zwei aneurysmatische Erweiterungen des Lumens und eine langstreckige mäßiggradige Stenose des dazwischenliegenden Gefäßabschnittes (Abb. [1 a] u. [b]), dargestellt werden. Das distale größere Aneurysma im subpetrösen Abschnitt der ACI entsprach der Lokalisation des tastbaren Tumors. Bei der nun geänderten Verdachtsdiagnose wurden eine Untersuchung der AV bds. und eine Übersichtsserie der Nierenarterien im gleichen Untersuchungsgang angeschlossen. Sowohl an den Vertebralarterien (Abb. [2 a] u. [b]) als auch an den Nierenarterien (Abb. [3]) konnten gleichartige Gefäßveränderungen nachgewiesen werden. Nach angiographischen Kriterien (Osborn AG et al., Stroke 1977; 5: 617 - 626) wurde die Diagnose einer FMD der Hals- und Nierenarterien mit Z. n. spontaner, asymptomatischer ACI-Dissektion und Bildung von Pseudoaneurysmen links gestellt. Es wurde eine Antikoagulation der Patientin eingeleitet, um thrombembolische Komplikationen zu verhindern.

Zur weiteren Abklärung der Genese des Tinnitus wurden neben einem Kompressionsversuch an der rechten A.carotis communis auch selektive Kompressionen der AV und der A.occipitalis unter dopplersonographischer Kontrolle durchgeführt. Das Ohrgeräusch sistierte bei Kompression der rechten A. vertebralis.

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Diskussion

Die Fibromuskuläre Dysplasie ist eine seltene, ätiologisch unklare stenosierende Erkrankung der Arterien, die überwiegend Frauen im mittleren Lebensalter befällt. Histologisch ist die FMD charakterisiert durch Proliferation von fibrösem Gewebe, Hyperplasie der glatten Muskelzellen einerseits und alternierend Zerstörung von elastischen Fasern in der arteriellen Gefäßwand mit konsekutiven Wandverdünnungen (Harrison EG et al., Mayo Clin Proc 1971; 46: 161 - 167).

Bei der FMD der zervikokranialen Arterien führen diese hyperplastischen Läsionen angiographisch zu verschiedenen Erscheinungsbildern: Am häufigsten (ca. 85 % der Fälle) finden sich alternierende Stenosen des Gefäßlumens, die ein perlschnurartiges Erscheinungsbild („string of beads”) der betroffenen Gefäße hervorrufen. Weniger häufig und weniger pathognomonisch finden sich langstreckige tubuläre Stenosen. Durch den Abbau von elastischen Fasern kann es zu spontanen Dissektionen und Pseudoaneurysmen der Gefäßwände, zur sogenannten „atypischen” FMD, kommen. Bei einem Befall intrakranieller Gefäße kann es zur Ausbildung von multiplen Aneurysmen kommen (Mettinger KL et al., Stroke 1982; 13: 46 - 52).

An den Halsarterien manifestiert sich die FMD meist an den distalen, aber extrakraniellen Abschnitten der Karotiden und der AV, oft auf Höhe des ersten und zweiten Halswirbels. Die Karotisbifurkation und das proximale AV-Segment bleiben ausgespart.

Klinisch macht sich die FMD der Halsarterien meist durch transitorische ischämische Attacken (TIAs), zerebrale Infarkte oder, bei intrakraniellem Befall, durch eine subarachnoidale Blutung (SAB) bemerkbar. Tinnitus ist mitunter als Begleitsymptom bei rezidivierenden TIAs und Schwindel beschrieben worden. Berichte über Tinnitus als einziges Symptom der FMD (in unserem Fall hervorgerufen durch turbulente Strömungen in der rechten AV) konnten wir in der Literatur nicht finden. Da in unserem Fall alle drei der von Osborn beschriebenen Typen der FMD zu finden sind, kann mit großer diagnostischer Sicherheit auch ohne histologischen Beleg die Diagnose allein angiographisch gestellt werden.

Therapeutisch stehen zur Behandlung der Stenosen und Aneurysmen der zervikalen FMD prinzipiell neben der Operation die endovaskulären Interventionsoptionen Angioplastie, Stenting, Coiling oder die Kombination Stenting und Coiling bei Pseudoaneurysmen der ACI zur Verfügung. Anders als bei traumatischen Pseudoaneurysmen der ACI bleibt aber aufgrund der generellen Pathologie der Gefäßwand bei der FMD die operative oder endovaskuläre Intervention lediglich komplizierten Einzelfällen vorbehalten. Bei asymptomatischen Patienten kann die Therapie auf eine Antikoagulation zur Vorbeugung thrombembolischer Komplikationen beschränkt bleiben, denn bei der FMD besteht im spontanen Verlauf bei ACI-Stenosen durch Dissektionen eine Tendenz zur Normalisierung des Gefäßlumens (Manninen HI et al., AJNR 1997, 18: 1216 - 1220).

Obwohl meist blande verlaufend, können die zerebrovaskulären Komplikationen der Erkrankung in Form von Ruptur intrakranieller Aneurysmen und thrombembolischen Hirninfarkten lebensbedrohend sein. Deshalb ist die Fibromuskuläre Dysplasie der kraniozervikalen Arterien bei der Abklärung von Tinnitus in die Differentialdiagnose einzubeziehen.

C. Weihl, A. Dörfler, M. Forsting, Essen

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Abb. 1Großes, sackförmiges (Pfeil) und kleineres, kaudal gelegenes (Pfeilspitze) Pseudoaneurysma der linken A. carotis intema in AP- (a) und LAO- (b) Projektion. Dazwischenliegend stenosierter Abschnitt nach mutmaßlicher spontaner Dissektion.

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Abb. 2Perlschnurartig aneinandergereihte Stenosen alternierend mit Lumenerweiterungen der distalen extrakraniellen A. vertebralis links (a) und rechts (b) (sog. „string of beads”-Sign).

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Abb. 3FMD-Befall auch der Nierenarterien mit typischem string of beads-sign.

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Abb. 1Großes, sackförmiges (Pfeil) und kleineres, kaudal gelegenes (Pfeilspitze) Pseudoaneurysma der linken A. carotis intema in AP- (a) und LAO- (b) Projektion. Dazwischenliegend stenosierter Abschnitt nach mutmaßlicher spontaner Dissektion.

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Abb. 2Perlschnurartig aneinandergereihte Stenosen alternierend mit Lumenerweiterungen der distalen extrakraniellen A. vertebralis links (a) und rechts (b) (sog. „string of beads”-Sign).

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Abb. 3FMD-Befall auch der Nierenarterien mit typischem string of beads-sign.