Einleitung
Einleitung
Die Erforschung des Phänomens Bilingualität1 hat eine lange Tradition. Die ersten Überlegungen zur Frage der neuronalen und funktionellen
Repräsentation der Sprachen bei Polyglotten reichen bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts
zurück. Kurze Zeit nach den Entdeckungen Brocas [1 ] und Wernickes [2 ] zur Lokalisation der wichtigsten Sprachzentren publizierte Jean-Albert Pitres [3 ] seine Beobachtungen über die unterschiedlichen Beeinträchtigungs- und Restitutionsmuster
der Aphasien bei mehrsprachigen Personen. Die Variabilität der Symptomatik und Erholungsdynamik
wies auf mögliche Unterschiede in der Organisation und Repräsentation der verschiedenen
Sprachen hin. Die Annahme Pitres, dass die vertrautere bzw. vor der Hirnschädigung
mehr in Anspruch genommene Sprache weniger beeinträchtigt sei und sich schneller erhole,
impliziert bereits den Einfluss mehrerer unterschiedlicher Variablen, die aber nicht
nur eine mögliche Restitutionssituation, sondern auch die grundlegende Strukturierung
und funktionelle Organisation der beiden Sprachen determinieren können. Die Frage
nach der funktionalen und anatomischen Repräsentation der Sprachen bei Bilingualen
dürfte, wie es die weitere Forschung normaler und gestörter Sprachprozesse gezeigt
hat, nicht ohne Einbeziehung paralinguistischer Faktoren sinnvoll beantwortet werden.
Der am meisten kontrovers diskutierte Gesichtspunkt betraf die Lateralisation der
Zweitsprache. Während zahlreiche Autoren wiederholt auf eine größere Involvierung
der rechten Hemisphäre oder gar auf eine rechtshemisphärische Dominanz bei der Zweitsprache
hinwiesen [4 ], fanden sich weder in den seit den 60-er Jahren intensiv durchgeführten tachistoskopischen
und dichotischen Darbietungsexperimenten wirklich konsistente Bestätigungen dieser
Annahme, noch haben Evidenzen aus klinischen Beobachtungen bei gekreuzten Aphasien
oder bei Untersuchungen im Rahmen von sogenannten WADA-Testungen entsprechend eindeutige
Bestätigungen erbracht [4 ]
[5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ]. Eine Analyse diesbezüglicher kontroverser Ergebnisse führte Paradis [8 ]
[9 ] zu der Schlussfolgerung, dass bei ansonsten gesicherter Repräsentation in homologen
Spracharealen für beide Sprachen - im Standardfall links - auf die Beteiligung der
rechten Hemisphäre in unterschiedlichem Grade und in Abhängigkeit von verschiedenen
Faktoren zurückgegriffen werden kann. Diese Faktoren betreffen sowohl die Aspekte
des Spracherwerbs, wie z. B. das jeweilige Alter und die Umstände, unter denen die
Zweitsprache erworben wurde, aber auch die aktuelle Sprachkompetenz, den kognitiven
Stil und die Bedingungen der jeweiligen sprachlichen Aufgabe in der Untersuchungssituation.
Hierzu gehört u. a. auch die Realisation von Kompensationsstrategien in Bezug auf
sprachpragmatische Aspekte. Ferner wurde zum einen auf die methodischen Limitierungen
der bisherigen diagnostischen und experimentellen Ansätze hingewiesen [10 ], zum anderen wurde im Hinblick auf die nicht unerhebliche individuelle Variabilität
die Notwendigkeit der Einzelfallanalyse hinsichtlich der verschiedenen Einflussfaktoren
betont [11 ].
Vor diesem Hintergrund eröffnet die Entwicklung moderner funktionell-bildgebender
Verfahren auch in der Bilingualitätsforschung eine qualitativ neue Dimension für die
weitere Vertiefung derartiger Fragestellungen. Die neuartigen Möglichkeiten der In-vivo-Registrierung
neuronaler Aktivitätsmuster normal ablaufender kognitiver Prozesse erlauben es, die
bislang erarbeiteten Vorstellungen zur neuronalen Repräsentation ggf. zu modifizieren
und die gewonnenen Erkenntnisse zur Verifizierung neuer theoretischer Modelle über
den Aufbau kognitiver Systeme heranzuziehen. So zeichnen sich auch in der Bilingualitätsforschung
Tendenzen ab, verschiedene Variablen aufzudecken, die die neuronale Repräsentation
der Zweitsprache determinieren [12 ]
[13 ]
[14 ].
Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen und im Hinblick auf den in der vorliegenden
Arbeit verfolgten experimentellen Ansatz erscheint die Frage nach dem Einfluss mnestischer
Prozesse von nicht unerheblicher Bedeutung. Die moderne Gedächtnisforschung geht von
der Existenz einer Reihe verschiedener, z. T. unterschiedlich lokalisierter expliziter
und impliziter Gedächtnissysteme aus, die sowohl bei dem Erwerb als auch bei der Realisierung
der Zweitsprache unterschiedliche Beteiligungen aufweisen und sich somit in verschiedenen
neuronalen Aktivierungsmustern widerspiegeln können. Wir präsentieren hier die Ergebnisse
einer fMRT-Aktivierungsstudie bei einer Gruppe Bilingualer unter Anwendung eines Wortflüssigkeitsparadigmas,
das sowohl als Sprachproduktions- wie auch als Abrufaufgabe des semantischen Gedächtnisses
verstanden werden kann.
Probanden und Methode
Probanden und Methode
Probanden
Insgesamt wurde eine Gruppe von vier männlichen und drei weiblichen gesunden Probanden
untersucht. Das Probandenkollektiv setzte sich aus russischen Gastwissenschaftlern
(RG, Tab. [1 ]), die bis zum Zeitpunkt der Untersuchung im Durchschnitt ca. 3 - 4 Jahre in Deutschland
verbracht haben sowie russlanddeutschen Aussiedlern (RA) mit etwa der gleichen Aufenthaltsdauer,
bis auf einen Probanden, der seit der Einreise im Alter von 10 Jahren bisher insgesamt
11 Jahre in Deutschland lebte, zusammen. Das Alter der Teilnehmer lag zwischen 19
und 32 Jahren (Median = 27), die Dauer des aktiven Zweitsprachgebrauchs betrug zwischen
2 und 11 Jahren (Median = 4, vgl. Tab. [1 ]). Alle Probanden wurden zumindest partiell in der deutschen Sprache im Herkunftsland
unterrichtet, bei den Aussiedlern wurde in der Regel ein basaler Gebrauch der deutschen
Sprache in der Familie angegeben. Alle Personen bezeichneten die russische Sprache
als Erst- (L1), die deutsche als Zweitsprache (L2), bei dem Probanden mit 11-jährigem
Aufenthalt wurde zusätzlich unabhängig von der Reihenfolge des Erwerbs die Zweitsprache
(deutsch) als aktuell vertrautere Sprache angegeben. Eine Untersuchung mittels der
modifizierten Form des Oldfield-Händigkeitsfragebogens [15 ] ergab für alle Personen eine eindeutige Zuordnung als Rechtshänder.
Aufgabendesign
Bei dem Wortflüssigkeitsparadigma (verbal-fluency) handelt es sich um eine Wortgenerierungsaufgabe,
bei der die Probanden in einer vorgegebenen Zeit möglichst viele Substantive produzieren
müssen. Die Aufgabe wird dabei entweder nach Vorgabe eines bestimmten Anfangsbuchstabens
(phonematische Bedingung, z. B. - A: Apfel, Ampel, Arbeit ...), oder nach Vorgabe
eines Oberbegriffs, zu dem die zu generierenden Wörter zugeordnet werden müssen (kategoriale
Bedingung, z. B. - Tiere: Elefant, Tiger, Hund ...), durchgeführt. Die Probanden hatten
vor Beginn der fMRT-Aktivierung die verbalen Instruktionen sowohl in russischer als
auch in deutscher Sprache erhalten. Die Untersuchung wurde in zwei für die jeweilige
Sprache separaten Durchgängen durchgeführt. Die Vorgabe des Buchstaben oder einer
Kategorie erfolgte in alternierender Reihenfolge innerhalb des jeweiligen Durchgangs
und in der entsprechenden Sprache. Als Baseline wurde die entspannte Ruhebedingung
zwischen den Generierungsaufgaben registriert. Die Probanden sollten die während der
Aktivierung zu generierenden Wörter leise vorsprechen (inner speech), ohne laut zu
artikulieren, um artifizielle Kontaminierungen der fMRT-Aufzeichnung zu vermeiden.
fMRT-Untersuchung
Die Datenakquisition erfolgte mit einem konventionellen Kernspintomographen (SIEMENS
Magnetom Vision, Erlangen, 1,5 Tesla, 25 mT/m) in Echo-Planar-Imaging (EPI)-Technik
(TR 0,96 ms, TE 59 ms, FOV 220 mm, Matrix 114 × 128, 16 Schichten, Ortsauflösung 1,45
mm*1,72 mm). Es wurden 80 Messungen mit 16 Schichten mit Angulation entlang der Temporallappenebene
(axial) akquiriert. Den Aktivierungsphasen (phonematisches/semantisches Paradigma)
folgten alternierend sog. Ruhephasen (jeweils 10 Messungen). Die Daten wurden auf
eine separate Workstation (Ultra, Sun, Microsystems, CA, USA) transferiert und mittels
SPM- (statistical parametric mapping) Softwaretools getrennt nach vier Kriterien jeweils
für die Sprache und die Aufgabenbedingung versus Ruhezustand ausgewertet.
Die Daten wurden zunächst auf den ersten EPI-Datensatz bewegungskorrigiert angepasst
(realigned). Die Parameter der Bewegungskorrektur wurden für alle drei Raumdimensionen
über einen einfachen Least-Mean-Squares-Ansatz berechnet. Nach Durchführung einer
t-Statistik mit Schwellenwertfestlegung wird mit Mehrfachtestung die statistische
Relevanz überprüft. Die Art der Vergleiche (z. B. Aktivierung 1 mit Ruhe, Aktivierung
2 mit Ruhe etc.) wird hierbei über Kontraste festgelegt, das Ergebnis dieser Tests
nachfolgend in Parameterdateien abgespeichert. Dabei ergänzen sich der Test auf Höhe
der Aktivierung und jener auf Ausdehnung der aktivierten Region gegenseitig, wenn
sowohl Regionen mit scharfer und hoher Aktivierung als auch solche mit größerer Ausdehnung
aber geringeren z-Werten auftreten. Anschließend wurden die signifikant aktivierten
Regionen (Cluster auf Aktivierungsebene) auf anatomische Bilder überlagert.
Tab. 1 Darstellung des Probandenkollektivs
n
Kode
Geschlecht
Händigkeit
Alter
Dauer des Zweitsprachgebrauchs (in Jahren)
1
RG
m
rechts
29
2
2
RA
w
rechts
19
3,5
3
RG
w
rechts
27
4
4
RG
m
rechts
31
4
5
RA
m
rechts
32
4
6
RG
w
rechts
26
5
7
RA
m
rechts
21
11
(RA = russlanddeutsche Aussiedler; RG = russische Gastwissenschaftler,m = männlich,
w = weiblich)
Ergebnisse
Ergebnisse
In Übereinstimmung mit vergleichbaren Untersuchungen bei Monolingualen [16 ]
[17 ] kam es bei der Untersuchung der Erstsprache zur Aktivierung eines breit angelegten
Netzwerks verschiedener Strukturen, einschließlich präfrontaler, supplementär-motorischer,
temporo-parietaler und zerebellärer Areale. Eine erhöhte Signalintensität des linken
präfrontalen Kortex (LPFK) und des rechten Zerebellums zeigte sich konstant bei allen
Probanden, während die Aktivierung anderer Areale mit hoher Intersubjekt-Variabilität
einherging.
Eine Übersicht über die Hemisphären mit signifikanter Erhöhung der Signalintensitäten
im präfrontalen Kortex während der Wortflüssigkeitsaufgabe unter den entsprechenden
Bedingungen findet sich in Tab. [2 ]. Bei der Wortgenerierung in der Zweitsprache ergab sich hingegen eine auffällige
Tendenz zu einer geänderten Verteilung der Aktivierungen. Die Aktivierung posteriorer
Sprachareale zeigte kein konsistentes Beteiligungsmuster. Anterior kam es bei der
überwiegenden Zahl der Probanden neben der nach wie vor ausgeprägten links-frontalen
Aktivität zu einer deutlichen Mitaktivierung der rechten präfrontalen Region. Dieser
Befund trat unter der kategorialen Bedingung am häufigsten auf. Bei einem Probanden
(RA-5) zeigte sich für die kategoriale Bedingung in der Zweitsprache fast ausschließlich
eine rechtsfrontale Aktivierung, während unter der phonematischen Bedingung überwiegend
eine linksfrontale Beteiligung zu registrieren war. Die Analyse der Aktivitätsverteilungen
desjenigen Probanden (RA-7), der in einem verhältnismäßig jungen Alter (im 10. Lebensjahr)
nach Deutschland gekommen war und einen wesentlich längeren Gebrauch der Zweitsprache
(11 Jahre) als die anderen Mitglieder der Probandengruppe (Median = 4) aufwies, ließ
in der Tat invertierte Verhältnisse in den Aktivierungsmustern deutlich werden. Bei
der Ausführung der Wortflüssigkeitsaufgabe in der eigentlichen Erstsprache (russisch)
kam es zu einer Mitaktivierung der rechten präfrontalen Region in der kategorialen
Bedingung, während in seiner Zweitsprache (deutsch), die der Proband aktuell als die
wesentlich vertrautere bezeichnete, ausschließlich die Aktivierung des linken präfrontalen
Hirnareals zu registrieren war. Abb. [1 ] zeigt neben einem charakteristischen Muster (RG-1) die ausgewählten Darstellungen
der Aktivitäten für die genannten Beispiele (RA-5, RA-7) bezüglich aller Aufgabenbedingungen
(Abb. [1a ] - c ).
Abb. 1a Darstellung der fMRT-Aktivierungen eines repräsentativen Probanden (RG-1). In der
kategorialen Bedingung der Zweitsprache zeigt sich eine zusätzliche Aktivierung der
rechten präfrontalen Region.
Abb. 1b Atypisches Aktivierungsmuster beim Probanden (RA-5) mit einem kompletten Wechsel nach
rechts bei der kategorialen Bedingung der Zweitsprache.
Abb. 1c Atypisches Aktivierungsmuster des Probanden (RA-7), der die längste Dauer des Zweitsprachgebrauchs
aufweist. Hier zeigen sich rechthemisphärische Aktivierungen in der kategorialen Bedingung
der Erstsprache.
Tab. 2 Darstellung der Ergebnisse der fMRT-Aktivierung der präfrontalen Regionen nach Sprachen
(L1 - Erstsprache, L2 - Zweitsprache) und Aufgabenbedingungen
n
Kode
Dauer des Zweitsprachgebrauchs
L1
L2
(in Jahren)
phonematisch
kategorial
phonematisch
kategorial
1
RG
2
links
links
links
links/rechts
2
RA
3,5
links
links
links/rechts
links
3
RG
4
links
links
links
links/rechts
4
RG
4
links
links
links
links/rechts
5
RA
4
links
links
links
rechts
6
RG
5
links
links
links
links
7
RA
11
links
rechts/links
links
links
Diskussion
Diskussion
Die Rolle des präfrontalen Kortex bei der Sprachverarbeitung
Die auch im Rahmen der vorliegenden Studie belegte Evidenz einer führenden Rolle der
linken präfrontalen Region innerhalb des gewählten Paradigmas ist nicht überraschend.
In der klinischen Forschung ist seit langem bekannt, dass nach frontalen Hirnläsionen
deutliche Leistungsminderungen bei Wortflüssigkeitsaufgaben auch in Abwesenheit einer
Sprachstörung auftreten. Die besondere Bedeutung des linken präfrontalen Kortex (LPFK)
für mehrere, zur erfolgreichen Ausführung dieser Aufgabe notwendigen Funktionsschritte
wie Initiation und Selektion, kognitive Flexibilität, verbales Arbeitsgedächtnis und
Kategorisierung, wurde durch zahlreiche Läsionsstudien belegt [18 ]. Von Seiten der funktionellen Bildgebung haben inzwischen zahlreiche PET und fMRT
Studien nach den ersten Evidenzen für eine besondere Bedeutung des LPFK für die semantische
Wortanalyse [19 ] Hinweise auf eine Beteiligung dieser Struktur bei semantischen Aufgaben erbracht.
Diese Beteiligung scheint unabhängig von der Modalität und dem Aufgabenmodus zu sein
[20 ]. Sie betrifft sowohl Prozesse auf Wortbedeutungsebene (semantische Analyse), als
auch auf der Wortformebene (lexikalische oder phonologische Analyse) [20 ]
[21 ] wobei sowohl die genauere aufgabenspezifische Verteilung innerhalb des LPFK für
Analyse und Selektion als auch das Zusammenspiel mit den posterioren temporoparietalen
Strukturen, die neben der akustischen Analyse den Puffer zu den abgespeicherten semantischen
Informationen darstellen, aufgedeckt werden konnte [22 ]. Eine inkonsistente Beteiligung posteriorer Strukturen in unserem Experiment mag
einerseits an dem gewählten „stummen” Paradigma liegen, andererseits wird hiermit
eine führende Rolle des LPFK beim Abruf von Informationen aus dem semantischen Gedächtnis
belegt.
Neuronale Korrelate domänenspezifischer Abrufstrategien
In der gegenwärtigen Gedächtnisforschung wird von einer Unterteilung der Gedächtnisfunktion
im Hinblick auf inhaltliche Aspekte der Informationsverarbeitung in verschiedene Komponenten
ausgegangen [23 ], die für die Ebene der Enkodierung, der Abspeicherung bzw. des Abrufs jeweils unterschiedliche
Beteiligungen neuronaler Strukturen aufweisen [24 ]. Es werden das episodische Gedächtnis (zeitlich und örtlich bezogene Einzelereignisse
der persönlichen Vergangenheit), das semantische Gedächtnis (vom Kontext des Erwerbs
abstrahierte Inhalte des allgemeinen Weltwissens), das prozedurale Gedächtnis (automatisiert
abrufbare Fertigkeiten) und das Priming (ereigniskorrelierte Veränderungen im perzeptiven
oder konzeptuellen Repräsentationssystem, die ohne bewussten Zugang die wiederholte
Verarbeitung von Information erleichtern) unterschieden.
Der wesentliche Unterschied zwischen den ersten beiden als deklarativ geltenden Inhaltskomponenten
des Gedächtnisses lässt sich folgendermaßen erklären. Die Erinnerung an Inhalte des
episodischen Gedächtnisses erfordert in der Regel eine aktive, bewusste Rekonstruktion
einer Reihe von Merkmalen, die mit dem Kontext der Erwerbssituation in einem engen
Zusammenhang stehen wie z. B. dessen zeitliche und räumliche Charakteristika.
Beim semantischen Gedächtnis hingegen handelt es sich um ein Wissen i. S. einer immanenten
Verfügung über eine Reihe von Inhalten wie Fakten oder Regeln, die beim Abruf keine
aktive kontextuelle Rekonstruktion der Erwerbssituation verlangen. Traditionsgemäß
wird angenommen, dass für diese beiden Gedächtniskomponenten bei Abspeicherung und
Abruf Strukturen des limbischen Systems und des Frontalhirns von Bedeutung sind. Das
prozedurale Gedächtnis und Priming gelten dagegen als implizit und greifen auf domänenspezifische
kortikale bzw. subkortikale Areale zurück. Wie bereits in der Einführung erwähnt,
erfordert das von uns gewählte Paradigma einen Abruf aus dem semantischen Gedächtnis.
Aus den Ergebnissen der funktionellen Bildgebungsforschung lassen sich insbesondere
über die Bedeutung der präfrontalen Regionen für den Abruf aus dem episodischen und
semantischen Gedächtnis neue Erkenntnisse ableiten.
Lateralisierte Abruf- und Enkodierungsfunktion
Eine zusammenfassende Analyse diesbezüglicher Ergebnisse führte Tulving u. Mitarb.
[25 ] zur Annahme eines so genannten HERA-Modells der Gedächtnisverarbeitung (H emispheric E ncoding/R etrieval A symmetry). Nach den hypothetischen Vorstellungen dieses Konzepts sind die präfrontalen
Regionen des Gehirns in asymmetrischer Weise an den unterschiedlichen Prozessen des
Gedächtnisses beteiligt. Demnach soll der LPFK mehr in den Abruf aus dem semantischen
Gedächtnis und in die parallele Enkodierung von neuen Informationen in das episodische
Gedächtnis involviert sein als dies für den rechten präfrontalen Kortex (RPFK) zutrifft,
während der RPFK mehr als der linke für den Abruf aus dem episodischen Gedächtnis
zuständig sein soll. Bezogen auf die hier zur Diskussion stehende Befundlage könnte
das Modell dergestalt zur Interpretation herangezogen werden, dass bei Bilingualen
der Abruf von verbalen Informationen innerhalb der Zweitsprache in der Regel das episodische
Gedächtnis zusätzlich beansprucht, während gleichartige Leistungen in der Erstsprache
ausschließlich über das semantische Gedächtnis realisiert werden. Dies mag damit zusammenhängen,
dass der Zugang zu den hochüberlernten Inhalten des semantischen Gedächtnisses der
Erstsprache alleine nur über die semantische Abrufroute erfolgt, während die vergleichbare
Beanspruchung des Gedächtnisses in der Zweitsprache nicht auf einen ähnlichen Grad
der „Semantisierung” zurückgreifen kann und deswegen kontextual bezogene Abrufstrategien
aktiviert werden müssen, wie sie über das episodische Gedächtnis möglich sind. Denkbar
ist ferner, dass solche Strategien gerade bei der kategorialen Bedingung des Wortabrufs
eine wesentlich bedeutendere Rolle spielen können als bei der wortformbezogenen Strategie
(phonematische Bedingung), was die Ergebnisse unserer Studie ebenfalls nahe legen.
Um diese Annahme weiter zu untermauern, wurden alle untersuchten Probanden zu ihren
Generierungsstrategien im Nachhinein befragt. Die meisten gaben tatsächlich an, dass
innerhalb des muttersprachlichen Paradigmas die Wörter viel leichter abgerufen werden
konnten, während man sich in der Zweitsprache öfters an bestimmte Situationen erinnerte,
wobei die zu generierenden Begriffe mit Hilfe kontextueller Information erinnert und
benannt werden konnten. Ein Beispiel dafür wäre, dass man sich zu einer Kategorie
wie „Tiere” an einen Zoobesuch erinnert, bzw. sich bei „Lebensmittel” einen Supermarkt
vorstellt, um die Ausführung der Aufgabe in der Zweitsprache zu erleichtern. Diese
„episodische” Strategie war eher bei der kategorialen Bedingung behilflich, während
man für die phonematische Bedingung meistens eine Wortanfangsergänzungs-Strategie
in beiden Sprachen angab.
Die Ergebnisse desjenigen Probanden (RA-7, Tab. [2 ]), dessen Aktivierungsmuster invertierte Verhältnisse gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern
aufwies, bedürfen einer besonderen Betrachtung. Entsprechend der oben vorgeschlagenen
Interpretationslogik benutzt dieser Proband bei der Zweitsprache ausschließlich die
semantische Erinnerungsroute, während er bei der (inzwischen weniger vertrauten, russischen)
Erstsprache auf die Kompensation durch die kontextbezogene Strategie und somit auf
die episodische Erinnerungsroute zurückgreift. Tatsächlich berichtete dieser Proband
über Abrufschwierigkeiten in der Erstsprache sowie über kontextbezogene Strategien
bei der kategorialen Bedingung in dieser Sprache.
Eine weitere aus der Analyse der Daten abzuleitende Überlegung, die allerdings noch
zusätzlicher experimenteller Überprüfung bedarf, wäre, dass mit zunehmender Dauer
des aktiven Sprachgebrauchs die rechtshemisphärische Beteiligung möglicherweise abnimmt
(RG-6). Eine einfache Erklärung dafür wäre die Zunahme des Automatisierungsgrades
und somit die Abnahme einer bewussten, episodischen Komponenten beim Abruf mit entsprechender
„Semantisierung” und Verlagerung der Aktivierung nach links. Der Status des semantischen
Gedächtnisses i. S. der Zuordnung zu expliziten oder impliziten Prozessen ist noch
nicht eindeutig geklärt [26 ]. Selbiges würde auch das Lexikon als einen wichtigen Bestandteil dieses Gedächtnissystems
betreffen. Paradis [8 ] unterscheidet implizite linguistische Kompetenzen wie Phonologie und Morphosyntax,
die auf prozedurale Gedächtnismechanismen basieren sollen, vom Lexikon, für das zumindest
zum Teil das deklarative Gedächtnis verantwortlich gemacht wird. Hierbei wäre zu klären,
auf welchem Wege sowohl der Erwerb als auch die spätere Verfügbarkeit des Lexikons
realisiert werden. Die Enkodierung und Abspeicherung von neuen Informationen im episodischen
Gedächtnis erfolgt unter Beteiligung des limbischen Systems. Hinsichtlich des Erwerbs
des semantischen Gedächtnisses besteht noch keine Einigkeit über die Rolle der hippokampal-dienzephalen
Strukturen. Squire u. Mitarb. [27 ] ordnen sowohl das episodische als auch das semantische Gedächtnis dem deklarativen
Bereich zu, wobei der Erwerb des Zweiten als Überlernen der notwendigerweise über
das Erste erworbenen Teile der Information betrachtet und somit die unbedingte Beteiligung
der limbischen Strukturen für beide Gedächtnissysteme postuliert wird. Tulving und
Markowitsch [28 ] gehen von einer Möglichkeit der doppelten Dissoziation für beide Systeme sowohl
bei Einspeicherung als auch beim Abruf aus, wobei das hippokampale System nicht als
entscheidend für die Einträge in das semantische Gedächtnis betrachtet wird. Die letztere
Hypothese wurde neuerdings durch ein Bericht über drei Amnesiefälle im Kindesalter
unterstützt [29 ]. Trotz verbleibender erheblicher Defizite des episodischen Gedächtnisses haben diese
Patienten eine annähernd normale allgemeine Intelligenz einschließlich Wortschatz
entwickeln können. Eine weitere Bestätigung findet sich in einer Publikation über
einen erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache bei einer Patientin mit anterograder Amnesie
[30 ]. Andererseits gibt es mehrere Hinweise auf Schwierigkeiten des Wortschatzerwerbs
bei Amnestikern sowohl in der Nativ- als auch in der Zweitsprache [31 ].
In der kognitiven Neuropsychologie gibt es seit langem Hinweise darauf, dass eine
tiefere semantische Verarbeitung im Rahmen von Wortassoziationsaufgaben zu einer besseren
Erinnerungsleistung für diese Wörter führt, als dies bei der perzeptuellen Enkodierung
der Fall ist [32 ]. Die semantische Wortanalyse ist daher mit amnestischen Prozessen eng verknüpft.
Bei dieser Verknüpfung scheint der LPFK eine besondere Rolle zu spielen [20 ]. Es kann demnach angenommen werden, dass bestimmte Informationen direkt über das
Kurz- bzw. Arbeitsgedächtnis im Wissenssystem unter Mediierung des LPFK gespeichert
und abgerufen werden können. Erhebliche Abrufdefizite i. S. etwa einer retrograden
Amnesie scheinen, wie aus der Läsionsforschung deutlich wird, nur bei kombinierten
Schädigungen der frontalen und ipsilateralen temporopolaren Strukturen aufzutreten,
also nur dann, wenn auch die wichtigen Verbindungen zu den posterioren Strukturen
unterbrochen werden [24 ]
[33 ]
[34 ]
[35 ].
Ausblick
Ausblick
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Ergebnisse unserer Studie die in der Einführung
erwähnte Auffassung Paradis' [8 ]
[9 ] über die primär linksseitige Repräsentation mehrerer Sprachen bei Bilingualen unter
Annahme einer Reihe metalinguistischer Faktoren, die unter bestimmten Bedingungen
eine rechtshemisphärische Beteiligung erklären können, unterstützen. So konnten wir
eine primär führende Rolle des linken präfrontalen Kortex für die Ausführung der Wortflüssigkeitsaufgaben
sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache belegen. Für die unter bestimmten
Aufgabenbedingungen registrierte zusätzliche rechtshemisphärische Aktivierung, konnte
die Beteiligung mnestischer Prozesse im Rahmen der Sprachgenerierung verantwortlich
gemacht werden. Vergleichbare Studien von Klein u. Mitarb. [13 ]
[36 ] konnten bei unterschiedlichen Gruppen von Bilingualen eine ausschließlich linkshemisphärische
präfrontale Aktivierung im Rahmen von Wortgenerierungsaufgaben feststellen. Hierbei
haben die Autoren Synonym-, Reim- und Verbgenerierungsaufgaben verwendet. Der entscheidende
Unterschied zwischen diesen Paradigmen und der Wortflüssigkeitsaufgabe besteht darin,
dass es sich bei ersteren ausschließlich um so genannte Single-word- Aufgaben handelt, d. h. die Probanden haben auf ein jeweils dargebotenes Wort mit
nur einem Wort zu antworten. Eine solche Bedingung lässt nicht die von uns vorgeschlagene
Interpretation über die Beteiligung des episodischen Gedächtnisses zu, so dass man
hier von ausschließlich semantischen Abrufprozessen ausgehen sollte, was das Ausbleiben
der rechts präfrontalen Aktivierungen erklären mag. Ferner lässt sich bei der Wortflüssigkeit
im Unterschied zu den Single-Word-Aufgaben eine wesentlich größere Bedeutung der exekutiven
Komponente für die Ausführung der Aufgabe annehmen, was nun innerhalb der Zweitsprache
zu unterschiedlichen Aktivierungsmustern führen kann. Wir hoffen, dass den in dieser
Arbeit aufgeworfenen Fragen im Rahmen der weiteren Forschung zur Bilingualität besondere
Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dies ist nicht nur für die theoretische Modellbildung
zum Verständnis der Funktionsweise unseres Gehirns von Bedeutung, sondern mit Rücksicht
auf eine nicht unerhebliche Anzahl bilingualer Mitbürger hinsichtlich z. B. der präoperativen
Sprachdiagnostik auch von klinischer Relevanz.
Schließlich sind derartige Forschungsansätze und Erkenntnisse auch für eine Reihe
von praxisbezogenen Problemen beim Zweitspracherwerb und insbesondere in der Rehabilitation
von amnestischen und aphasischen Patienten von großer Bedeutung.