Psychiatr Prax 2001; 28(7): 353-356
DOI: 10.1055/s-2001-17781
ERFAHRUNGSBERICHT
Erfahrungsbericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erfahrungen und Überlegungen eines hinterbliebenen Psychiaters

Zum Suizid in PsychiaterfamilienExperiences and Deliberations of a Dependant Psychiatrist Anonym
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. Oktober 2001 (online)

Für professionelle Helfer in der Psychiatrie, zu deren Aufgabe und Alltag das Erkennen von Suizidgefährdung wie die Suizidverhinderung gehören und die zudem gewohnt sind, Prozesse des Trauerns unterstützend und klärend zu begleiten, ergibt sich durch den Suizid eines nahen Menschen (Kind, Partner u. a.) eine Situation, die spezifisch erschüttert, Herz und Hirn konfusioniert. Dies öffentlich zu reflektieren, fällt Betroffenen verständlicherweise sehr schwer. Auch dieser Bericht ist mit entsprechenden Zweifeln verbunden. Ich glaube aber, dass die öffentliche Thematisierung und ein spezieller Austausch hilfreich sein können, letztlich für alle von Suizid und Suizidgefährdung betroffenen Familien/Angehörigen. Dabei sind Familien mit psychiatrischen/psychotherapeutischen Profis zuallererst einmal ganz normale Familien; sie können ebenso von Krankheit einschließlich sämtlicher psychiatrischer Erkrankungen betroffen sein wie andere Familien auch. Hinweise oder gar Untersuchungen, dass ihre Familienmitglieder weniger häufig psychisch erkranken, sind mir nicht bekannt.

Die eigene Situation will ich kurz skizzieren: Vor knapp vier Jahren hat sich unser 26-jähriger Sohn drei Tage nach seinerseits anfänglich gut vorbereitetem Umzug in eine sonnige, für ihren zum Leben einladenden Charakter bekannte Universitätsstadt das Leben genommen. Niemandem gegenüber hatte er ihn angedeutet oder gar angekündigt und doch schon über Jahre erwogen wie aus seinen Aufzeichnungen, Bildern u. a. klar ersichtlich. Ich selbst bin langjährig in einer Großstadt tätig als Nervenarzt und Psychotherapeut mit einem Behandlungsschwerpunkt für chronisch psychiatrisch/neurologisch Kranke; meine Ehefrau arbeitet langjährig als Sozialpädagogin in der kinder- und jugendpsychiatrischen Beratung. Gemeinsam mit uns haben unser seinerzeit 21-jähriger Sohn wie die 16-jährige Tochter die Familienkatastrophe erleben müssen. Die Situation „nach dem Suizid” beginnt natürlich viel früher, im Grunde natürlich schon vor der Geburt. Diese Vorgeschichte hier angemessen darzulegen ist aus mehreren Gründen nicht möglich, nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl der bedeutsamen Faktoren und ihrer komplexen inneren Verwobenheit. Soviel ist zu sagen, dass mein Sohn als Trennungskind einige Jahre bei seiner leiblichen Mutter in einer anderen Stadt lebte, im 10. Lebensjahr zu uns in die neu gebildete Familie kam und dann bis zum Abitur im 20. Lebensjahr bei uns lebte. Früher „witzigster Schüler”, extrovertiert und expansiv zog er sich in den Folgejahren zunehmend zurück. Parallel schloss er sich unabwendbar der (Osho-)Bagwhan-Sekte an. Ab 1992 Medizinstudium. Im 2. klinischen Semester kam es im Frühjahr 1996 während eines „Marathon”-Seminars seiner Sekte zu einer paranoiden Symptomatik mit Angstzuständen und Erleuchtungs- und Erlösergedanken. Retrospektiv (u. a. unter Einbezug seines Tagebuchs der Vorjahre) liegen erste, wenngleich leichtere manifest psychotische Symptome jedoch eindeutig mehrere Jahre zurück. Die intensive Unterstützung durch unsere Familie (viel Alltagspraktisches, Bahnung einer psychiatrischen Behandlung, gemeinsame Radtour etc.) war ihm 1996 offenkundig eine Hilfe und trug zum Abklingen seiner akuten Symptome ohne Medikation innerhalb einiger Wochen bei. Unsere Gespräche waren über längere Zeit wieder offen und bezogen, manchmal tief bewegend; seine zunehmende Klarheit, auch sein zurückkommender Humor taten gut. Paradoxerweise hat dies bei mir dazu geführt, die durchstandene Krise nicht in voller diagnostischer Konsequenz zu beachten. Sein erneuter innerer Rückzug schlich sich dann erst langsam wieder in unseren Kontakt ein.