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DOI: 10.1055/s-2001-17782
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Hinterbliebene von Suizidopfern auf der Suche nach Antworten und Wegen aus der Krise
Erfahrungen aus der Betreuung Suizidhinterbliebener im Rahmen einer SelbsthilfegruppeSurvivors of Suicide Victims Searching for Answers and Ways out of the CrisisPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
15. Oktober 2001 (online)

Etwa drei Monate nach dem Suizid von Herrn M. saß ich seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern an ihrem Küchentisch gegenüber. Nach einem Telefonat mit seiner Mutter, die nicht in die Selbsthilfegruppe kommen wollte, vereinbarten wir, dass ich die Familie besuchen würde. Fassungslosigkeit und Schmerz zeichneten sich deutlich in ihren Gesichtern ab. Für mich gab es nicht viel zu sagen in dieser Situation, so beschränkte ich mich darauf, ihnen meist schweigend zuzuhören. Nach unserem Gespräch entschlossen sich Herrn M.s Mutter und seine Schwester, in die Selbsthilfegruppe zu kommen. Sein Vater und auch sein Bruder kamen nie in die Gruppe, so wie viele Männer, die einen Angehörigen durch Suizid verloren haben. Die weiblichen Hinterbliebenen von Suizidenten sind viel eher dazu bereit, Hilfsangebote wie das einer Selbsthilfegruppe wahrzunehmen. Über mögliche Gründe für diese Geschlechtsspezifität will ich an dieser Stelle nicht mutmaßen. Tatsache ist, dass im Zeitraum von drei Jahren nur vier männliche Suizidhinterbliebene aus dem Raum Innsbruck und Umgebung die Selbsthilfegruppe in Anspruch genommen haben. Aber auch für Frauen ist der Weg in die Gruppe oft nicht einfach. Während unseres ganzen Telefongespräches hätte ihre Hand gezittert, berichtete eine junge Frau, die lange gebraucht hatte, um überhaupt anzurufen. So wie ihr geht es vielen. Manche rufen an, fragen nach Terminen und finden dann doch nicht den Mut zu kommen. Mit einigen Betroffenen führte ich bereits am Telefon lange Gespräche, sie brauchten offensichtlich für den Moment nur ein Gegenüber, das ihnen zuhörte, nicht mehr und nicht weniger. Andere wiederum nutzen dieses Hilfsangebot von Anfang an sehr entschlossen und aktiv, manchmal in Ergänzung zu einer Psychotherapie. Die meisten Hinterbliebenen wenden sich nach wenigen Wochen oder Monaten bzw. innerhalb der ersten zwei bis drei Jahre nach dem Suizid an die Selbsthilfegruppe.
Als Herrn M.s Mutter und Schwester zum ersten Mal in die Gruppe kamen, stellten sich alle Gruppenmitglieder mit ihrem Namen vor und schilderten mit wenigen Worten, welchen Angehörigen sie wann durch Suizid verloren hatten - wie immer, wenn „Neue” hinzukommen. Dieses Ritual fällt den meisten nicht leicht, manche Hinterbliebene sind dabei schon in Tränen ausgebrochen. Gleichwohl hilft es den Anwesenden, sich zu vergegenwärtigen, was geschehen ist und warum sie in die Gruppe gekommen sind. Frau M. und ihre Tochter begannen nach ihrer Vorstellung die Vorgeschichte und die näheren Umstände des Suizids ihres Angehörigen zu schildern. Deutlich war ihr starkes Bedürfnis zu spüren, über diese Dinge zu sprechen. So wie ihnen geht es den meisten neu hinzugekommenen Gruppenmitgliedern, deren Erzählungen häufig einen ganzen Abend füllen. Herr M. war nach einem Unfall berufsunfähig geworden, und wenige Wochen vor seinem Suizid hatte ihn seine Frau mit den beiden Kindern verlassen. Für die Hinterbliebenen von Herrn M. machte sie das zur Hauptverantwortlichen für seinen Suizid. Diese Ansicht hatte zu einem tiefen Riss innerhalb der Familie geführt und den Kontakt zwischen Herrn M.s Kindern und ihren Großeltern beinahe gänzlich abreißen lassen. Schuldzuweisungen und aus ihnen resultierende familiäre Konflikte sind nach einem Suizid durchaus keine Seltenheit. In dieser Problematik zeichnet sich ein grundsätzliches Dilemma der meisten Suizidhinterbliebenen ab - die Suche nach den Gründen für den Suizid und mit ihr die Frage, ob und wie er zu verhindern gewesen wäre. Auch in der Selbsthilfegruppe nimmt diese Problematik eine zentrale Position ein, vor allem für jene, deren Verlust noch frisch ist. Für sie bedeutet das meist, den oder die vermeintlich Verantwortlichen für den Tod ihres Angehörigen aufzuspüren.
Mag. Regina Seibl
Nageletal 14
6020 Innsbruck
Österreich
eMail: gina_seibl@hotmail.com