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DOI: 10.1055/s-2001-17785
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Nach dem Suizid
After Suicide- Suizid im Roman
- Entwicklungen im Fachgebiet
- Die öffentliche Diskussion
- Techniken der Todesbewältigung
- Moralisierung
- Forschungsfragen und methodische Ansätze
- Literatur
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere … kommt später [1].
Können wir Camus' einleitenden Sätzen zum Mythos des Sisyphos noch zustimmen? Oder sind sie veraltet? Die Frage, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden, kann kaum veralten. Aber ist sie eine philosophische Frage?
#Suizid im Roman
Gleich mehrere Romane, die in diesem Jahr erschienen sind, kreisen um die Selbsttötung eines Protagonisten. Für nächstes Jahr sind einige Titel angekündigt, die darauf hindeuten, dass weitere folgen. Don DeLillo beschreibt in der „Körperzeit” die Situation einer Frau, die ihren Mann durch Suizid verloren hat. Er beginnt mit einer scheinbar belanglosen Alltagsszene, die sich später als das letzte gemeinsame Frühstück des Ehepaars erweist. Über die Alltäglichkeiten, die eingespielten Rituale wird die innere Verbundenheit spürbar, aber auch Momente der Isolierung in der Ehe. Es sind die grundlegenden Dinge, über die die Hinterbliebene versucht, den Tod des Partners zu bewältigen: Die Veränderung ihrer Körperwahrnehmung, seine Stimme, ihre Dialoge, der Tagesrhythmus, das Wetter [2]. In „Sutters Glück” geht Adolf Muschg den Reflexionen des hinterbliebenen Mannes nach dem Suizid seiner Frau nach, die an einem Karzinom schwer erkrankt war. Auch hier geht es um das Zurückwandern zu dem, was dem Paar möglich war an Liebe, an Gemeinsamkeiten zu leben gegenüber dem, was ihnen nicht gelungen ist [3]. Zuerst einmal sind beide Bücher Literatur. Aber als zeitgenössische Romane enthalten sie auch Hinweise auf unser Lebensgefühl. Sie beschäftigen sich mit aktuellen Fragen an das Leben: Wie gehe ich als liebender Partner mit dem Suizidwunsch meiner Partnerin um, die an einem unheilbaren Karzinom leidet? Müsste ich sie vom Suizid abhalten? Oder will sie sterben, weil ich nicht in der Lage war, intensiver an ihrem Leben teilzuhaben? Wo beginnt die Mitverantwortung; wo endet die Autonomie? Kann es sein, dass ich meinen Partner geliebt habe und mir seine Beschäftigung mit dem Suizid trotzdem verborgen blieb? Wie sehr durchzog die Vereinzelung das gemeinsame Leben, und wie kann es sein, dass mit seinem Tod mir selbst als Individuum und als Körperwesen der Boden unter den Füßen abhanden gekommen ist? Wie präsent ist die Möglichkeit des Suizids in unserem Alltag?
Aber sind die Fragen nach Autonomie und Verantwortung; nach gemeinsamem und eigenem (einsamem) Leben; nach der Beurteilung der Lebensqualität - des Lebenswerts mit Karzinom und Schmerzen philosophische Fragen? Sind sie Fragen an unsere Lebensweise und unsere Moral? Romane haben den Vorteil, dass wir uns in die Geschichte hineindenken können, ohne zu einer Beurteilung kommen zu müssen, die das reale Leben betrifft: Wie hat sich dieser Mensch verhalten? Was hätte er m. E. tun sollen? Denn die Reflexion solcher Fragen fordert die Entfaltung höchst intimer Details und privater Innenansichten.
Eine andere Quelle, aus der wir uns ihnen annähern können, sind Briefe, Tagebücher und Prosa von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die sich das Leben genommen haben (oder einen Suizidversuch unternommen). Ich halte es nicht für Zufall, dass auch dazu gleich mehrere Bücher angekündigt oder erschienen sind [4] [5]. Was allerdings die Kernfragen dabei sind, wo genau unsere Fragen an das Leben berührt werden, ist für mich noch nicht klar erkennbar. Verstanden habe ich Folgendes: Die Publikationen konzentrieren sich auf schreibende Frauen. Interessierende Schriftstellerinnen sind Janet Frame, Sylvia Plath, Anne Sexton,Viginia Woolf, Unica Zürn, Marina Zwetajewa. Es geht in diesen Darstellungen um nicht gelebtes Leben; verhinderte Lebensentwürfe, Leiden an der Familie, am Partner, an der Situation als Frau. Gibt es Persönlichkeitszüge, die es den einzelnen Frauen verunmöglichten, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten? Oder haben die nächsten Anghörigen, haben die gesellschaftlichen Vorstellungen den wesentlichen Ausschlag gegeben? Ist es gerechtfertigt, das eigene Leben zu beenden, wenn die Selbstentfaltung fehlt? Die Autorinnen der Bücher sind überwiegend Literaturwissenschaftlerinnen. Sie setzen sich mit Leben und Werk auseinander. Vereinzelt wird ein psychoanalytischer Blick auf die Geschehnisse geworfen. Dem Suizid verausgegangen ist aber bei einigen eine schwere psychische Erkrankung, z. B. eine Schizophrenie. Diese Krankheit wird kaum je als „Krankheit zum Tode” erkannt.
#Entwicklungen im Fachgebiet
Für Psychiaterinnen und Psychiater ist der Suizid kein philosophisches Problem. Er ist ein handfestes psychiatrisches Problem: Er ist ein allgegenwärtiges Symptom psychischer Erkrankungen. Er ist die häufigste Ursache dafür, dass psychisch Kranke an den Folgen ihrer Depression, Schizophrenie, Abhängigkeit oder anderen schweren psychischen Erkrankung versterben.
So sehr wir uns dessen bewusst sind, dass der Suizid als solcher kein Symptom, keine psychische Erkrankung ist; so sehr ist er in unserer klinischen Arbeit eine alltägliche Bedrohung im Hintergrund. Als Psychiaterinnen und Psychiater sind wir in den vergangenen Jahrzehnten zu den Spezialisten für Suizidgefährdung und Bewältigung eines vollendeten Suizides geworden. Nach Innen und Außen stellt jeder vollendete Suizid die berufliche Kompetenz infrage [6]. Dies hat in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, dass juristische Fragen wesentliches Leitmotiv für die epidemiologische Erforschung des Krankenhaussuizides und des Suizides während psychiatrischer Behandlung allgemein geworden sind. Fragen von mangelnder ärztlicher Hilfeleistung, Behandlungsfehlern oder Organisationsversagen wurden im Wesentlichen mit Methoden der Epidemiologie beantwortet. Eine Fülle von Publikationen gab Auskunft über die Inzidenz des Suizids in den einzelnen Ländern und die Erhöhung des Suizidrisikos durch psychische Erkrankung. Wann eine psychiatrische Institution, wann einzelne Psychiaterinnen und Psychiater haftbar gemacht werden können, wurde von den obersten nationalen Gerichten geklärt. Die Thematik erscheint abgeschlossen [7].
Demgegenüber haben spezifischere Fragestellungen in den vergangenen Jahren gezeigt, dass wir über das Suizidrisiko nur sehr allgemeine Aussagen machen können, wenig jedoch über die Gefährdung bei einer einzelnen Erkrankung, in einem bestimmten Zeitraum der Biografie und der Behandlung [8]. Diesen Fragen sind in den letzten fünf bis zehn Jahren einige Studien nachgegangen. Sie weisen methodische Probleme der älteren Studien nach und zeigen, dass für Detailfragen - für die einzelnen psychischen Erkrankungen, für die unterschiedlichen psychosozialen Situationen - erheblicher Forschungsbedarf besteht.
Die Publikationen sind jedoch nicht sehr zahlreich. Es entsteht der Eindruck, dass mit der Klärung der juristischen Fragen auch das Leitmotiv der weiteren Forschung verloren gegangen ist. Ein neues hat sich innerhalb des Fachgebietes bisher nicht durchgesetzt. Verfolgt man die Literatur, haben in den vergangenen Jahren Arbeiten zur Analyse bis hin zum Entschluss, sich zu Suizidieren mit Hilfe der psychologischen Autopsie zwar zugenommen. Vereinzelt beschäftigen sich Publikationen mit dem Prozess des Sterbewunsches bis hin zum Suizidentschluss. Befragungen von Suizidenten nach Suizidversuch wollen in Erfahrung bringen, wann und auf welche Weise Suizidgedanken zum konkreten Suizidentschluss werden und welche Interventionsmöglichkeiten sich bieten. Die Situation der Hinterbliebenen nach dem Suizid ist ein wissenschaftliches Thema geworden. Die Publikationen beschäftigen sich jedoch vor allem mit klinischen Fragen. Haben wir den Suizid also doch auf die Phänomenologie - auf die Kategorisierung als Krankheitssymptom reduziert? Haben wir das Nachdenken über Lebensfragen und über philosophische Fragen aus unserer Fachdiskussion entfernt?
Hinterbliebene haben sich seit geraumer Zeit selbst zu Wort gemeldet. Sie geben Aufschluss über Probleme der Verarbeitung wie Möglichkeiten der Bewältigung und Notwendigkeit fachärztlicher Interventionen. Nicht nur Verwandte, sondern auch Behandelnde berichten, wie sie den Suizid eines Patienten oder einer Patientin erlebt haben, welcher Selbstkritik sie sich unterziehen und wie sie den Suizid verarbeiten. Die Angehörigen gemahnen uns daran, dass wir die alltäglichen Gegebenheiten, mit denen wir alle - Gesunde, Kranke, Suizidenten; Fachleute wie Betroffene - leben, nicht außer Acht lassen können. Fragen an das Leben stellen sich jedem. Und genau hier könnten uns die Texte der Schrifstellerinnen und Schrifsteller weiterhelfen. Prosa, Lyrik wie Briefe und Tagebücher geben uns Einsicht in subtile Reflexionen, in intime Befindlichkeiten, die wir sonst kaum je zu hören bekommen. Wie sehr öffnen sich unsere Liebsten in existenziellen Fragen? Wie weit geben wir Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, sich zu öffnen? Dies ist m. E. die erste und nicht die unwichtigste Mitteilung aus den zu schnell analysierten und interpretierten Texten. Dass sie im Kontext des Suizides hervorgeholt werden; dass Romane sich mit dem Suizid befassen deutet darauf hin, dass es möglich geworden ist, über heikle Fragen konflikthafter Beziehungen, von Versäumnissen, Missverständnissen oder Fehlern zu sprechen und in Austausch zu treten.
Das sollte uns auch als Fachleute interessieren. Von wissenschaftlicher Seite wird diese (verhaltene) Entwicklung jedoch kritisiert: Betroffenheit, subjektive Darstellungen könnten einer wissenschaftlichen Analyse nicht dienlich sein. Vielmehr verhinderten sie die Erforschung des Problems, wenn sich eine „Betroffenheitskultur” breit mache. Selbst wenn wir uns als klinisch Tätige Lebensfragen nicht verschließen - müssen und sollen sie uns als wissenschaftlich Denkende und/oder Arbeitende beschäftigen? Können wir so genau trennen zwischen (psychischer) Krankheit, Lebenssituation und Haltung zu Leben und körperlich-medizinischen Gegebenheiten? Und wenn nein, müssen wir nicht hier mit unseren Forschungsfragen ansetzen?
#Die öffentliche Diskussion
Die öffentliche Diskussion erweckt den Eindruck, dass der Suizid aus der Psychiatrie in die (somatische) Medizin gewandert ist: Wenn der Suizid in den Massenmedien Thema wird, geht es zumeist um die Beihilfe zum Suizid, um passive und aktive Euthanasie. Beihilfe zum Suizid und organisierte Möglichkeiten der Lebensbeendigung übertönen die bedrückenden Fragen, wann, wie und warum ein Mensch sein Leben nicht mehr fortsetzen wollte und was dies für die Hinterbliebenen bedeutet. Die Darstellungen in den Massenmedien; die Berichte in Feuilletonartikeln und Journalbeiträgen; die Themen von Fernsehdiskussionen und Filmen haben ein neues Zeitalter eingeläutet - das der Sterbehilfe; der Propagierung von Straffreiheit der Beihilfe zum Suizid und passiver Euthanasie mit der definitiven Regelung in den Niederlanden. In der Schweiz steht eine ähnliche Entscheidung kurz vor der Abstimmung im Parlament. Ist es im Zeitalter der Rationierung im Gesundheitswesen, des organisierten Todes im Spital überhaupt noch zeitgemäß, über den Suizid nachzudenken? Welche Relevanz kann die Beschäftigung mit dem Suizid noch haben? Aber - bin ich jetzt nicht vom Thema abgeschweift? Geht es hier nicht um etwas ganz Anderes?
Es trifft nämlich zu, dass die Folgen eines Suizids für die Angehörigen, die Probleme der Bewältigung des Suizids eines nahe stehenden Menschen Eingang in die Massenmedien gefunden haben. Sie lassen Hinterbliebene zu Wort kommen und bemühen sich um Enttabuisierung. Dabei ist die Gratwanderung zwischen dem öffentlichen Gespräch über schwierige Lebensverläufe, psychische Krankheit, Konflikte, Wut, Trauer und Enttäuschung auf der einen Seite und Bloßstellung wie neuer Stigmatisierung auf der anderen nicht immer erfolgreich. So einfach ist es heute nicht, über die Entwicklung zum Suizid und über seine Folgen nachzudenken. Auch wenn auf den ersten Blick Suizidforschung und Suizidprävention auf der einen und Fragen der Beihilfe zum Suizid und der Lebensbeendigung auf der anderen wenig gemein haben, zeigen sie beide Tendenzen, die auf eine Veränderung unserer Haltung zum Leben hindeuten. Meines Erachtens lohnt die Bemühung, sie zu verstehen.
#Techniken der Todesbewältigung
Ariès' Geschichte des Todes endet 1978 [9]. Er zeigt darin, in welchem Ausmaß die bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts den Tod tabuisiert und aus dem öffentlichen Leben verbannt hat. Sein Ausblick auf die weitere Entwicklung klingt höchst aktuell:
Sehr bemerkenswert ist, dass die Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit dem Tod durchaus nicht die Entschlossenheit der Gesellschaft erschüttert hat, sein reales Bild zu verdrängen … Dennoch gibt es eine Bresche im dichtgeschlossenen medikalisierten Gehege, durch die Leben und Tod, so sorgsam getrennt, wie sie heute sind, sich wieder in einer Flut polemisch-populärer Literatur zusammenfinden können: ich meine das Problem der Euthanasie und der Macht, das Leben zu verlängern oder abzukürzen … Es könnte der Fall eintreten, dass die Öffentlichkeit in Aufruhr gerät und sich dieses Themas mit der gleichen Leidenschaftlichkeit annimmt, wie sie es bei zahlreichen anderen lebenswichtigen Fragen getan hat, etwa bei der Abtreibungsfrage … Wir wissen heute, dass in manchen Fällen Menschen sterben, weil man entschieden hat, dass ihre Zeit abgelaufen sei. Wird es dazu kommen, dass sie ihren Tod fordern, wenn sie selbst ihn wirklich wollen? … Das neueste Todesbild ist mit der Medikalisierung der Gesellschaft verknüpft, d. h. mit einem Sektor der Industriegesellschaft, in dem die Macht der Technik am freudigsten begrüßt worden und am wenigsten umstritten ist. Zum ersten Mal stellen sich Zweifel an der bedingungslosen Wohltätigkeit dieser Macht ein. Und gerade in dieser Zone des kollektiven Gewissens könnte ein Wandel der zeitgenössischen Einstellungen durchaus einen Ansatzpunkt finden (S. 759 - 760).
Demgegenüber beschreiben Historiker und Soziologen wie Reemtsma oder Toulmin [10] [11] den ersten und zweiten Weltkrieg als massive Demonstration von Endlichkeit, die die Gesellschaft zwinge, sich mit dem Tod auseinander zu setzen. Die Anerkennung des Traumas als Krankheitsursache ist jedoch janusgesichtig: Anerkennung ist nur eine Seite, der der Anspruch auf Therapierbarkeit - und das heißt Beherrschbarkeit - auf der anderen Seite gegenübersteht. Die Bedeutung des Gesundheitswesens für unsere Gesellschaft, die Entwicklung der Kostenexplosion und der Trend zur Materialisierung dürften in den letzten Jahrzehnten eine gewichtige Rolle dabei gespielt haben, dass Fragen der Behandlungsindikation und Unterlassung von Behandlung, Fragen um das Sterben im Krankenhaus und der Lebensbeendigung öffentlich diskutiert werden. Die Massenmedien interessieren sich kaum mehr für Rechtsfragen der unterlassenen Hilfeleistung, sondern vielmehr wann eine Behandlung beendet werden darf, wenn ein Mensch schwerst krank und komatös über lange Zeit intensiv medizinisch behandelt wird. Rechts- und Finanzierungsfragen auf dem Hintergrund des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts der Medizin scheinen natürlicherweise zur Folge zu haben, dass der Tod organisiert werden muss. Die Lösung aus den Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen ist gekippt. Es geht nicht mehr um die Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern um die möglichst standardisierbare Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen. Nicht der Mensch in seinem Ringen um das Sterben steht im Vordergrund, sondern die Verfügbarkeit und der Gebrauch der technischen Geräte, die für Sterbende noch herangezogen werden. - Und Finanzierungsfragen. Der Intensivmediziner Murray [12] beschreibt eine fast heile Welt der internistischen Intensivstation, die lediglich dadurch getrübt wird, dass manche Menschen dort gar nicht mehr hinkommen sollten oder rechtzeitig von der Behandlung befreit. Demgegenüber stehen Berichte von Angehörigen, die verzweifelt um die Begleitung ihrer nahe stehenden (Ehe-)Gefährten während der Zeit auf der Intensivstation ringen müssen: Individuelle Reaktionen, individuelle Begleitung, selbst Pflege durch die Angehörigen, wenn sie dabei den Kontakt zum komatösen Partner aufrecht erhalten können, sind im System der Intensivstation nicht erwünscht. Dieser Prozess wird lediglich durch einzelne Schwestern oder Pfleger durchbrochen, die sich durch die menschliche Anteilnahme leiten lassen [13].
Anstelle der Lebensverlängerung um jeden Preis ist der organisierte Tod auf die Intensivstation eingekehrt. Eine ähnliche Entwicklung scheint sich auch für den Suizid abzuzeichnen: Für die Niederlande beschreibt Hendin die Möglichkeiten der Beihilfe zum Suizid sowie die Tendenzen, passive und aktive Euthanasie großzügig zu betreiben als „Dutch Cure” [14]. Die Zahlen zeigten, dass die Suizidrate in den Niederlanden seit diesen Angeboten drastisch gesunken sei. In der Schweiz bietet die Selbsthilfeorganisation EXIT Möglichkeiten der Beihilfe zum Suizid, ohne dass eine lebensbedrohliche Erkrankung medizinisch nachgewiesen wäre, die innerhalb absehbarer Zeit zum Tod geführt hätte. In der nationalen Diskussion wird darüber nachgedacht, ob die Beihilfe zum Suizid nicht auch für Menschen zur Verfügung stehen solle, die nicht lebensbedrohlich erkrankt sind, sondern lediglich sterben wollten. Ob psychische Erkrankungen die Urteilsfähigkeit im Hinblick auf die Frage der Lebensbeendigung soweit einschränken, wie dies Psychiaterinnen und Psychiater annehmen, solle noch weiter diskutiert werden. Im Vordergrund der öffentlichen Meinung steht die Autonomie jedes Einzelnen, die Beendigung seines Lebens selbst zu entscheiden.
#Moralisierung
Verfechter von Suizidprävention und Verfechter von Autonomie im Kontext der Lebensbeendigung stehen sich zunehmend erbittert gegenüber. Beide Argumentationslinien sind in sich relativ geschlossen. Argumentiert wird mit der Moral: Es sei unmoralisch, einen Menschen, der auf unerträgliche Weise leide - sei dies aus körperlichen oder psychischen Gründen - gegen seinen Willen am Leben erhalten zu wollen. Versus: Es sei unmoralisch, einen Menschen, der nicht urteilsfähig sei, in seinen Sterbewünschen zu unterstützen. Die Autonomie spielt in beiden Argumentationssträngen eine entscheidende Rolle. Sie steht jedoch nicht mehr für die Freiheit der individuellen Entscheidung, sondern für die Planbarkeit der Lebensbeendigung: Weder die Einzelnen wollen überrascht oder dem „Schicksal” ausgeliefert sein noch soll Sterben für die nähere Umgebung wie die Gesellschaft als Ganzes ein Ereignis bleiben, das sich ihrer Planung und Kontrolle entzieht.
Weil die Argumentation auf moralischer Ebene geführt wird, sind die Gedankengänge getrennt und für sich geschlossen. Sie sind in sich logisch und nicht widerlegbar. Erstaunlich ist vor allem, dass beide Parteien sich auf die Moral berufen, da die Gesellschaft insgesamt kaum mehr ein gemeinsames moralisches Fundament hat. Will man den Streit um die Moral nicht als weitere Ablenkung vom Ernst des Themas betrachten, könnte sie als Geländer im Sinne Arendts, als Leiter im Sinne Wittgensteins, als Referenz verstanden werden, da die Bezüge zunehmend fehlen. Geht es aber wirklich noch um ein philosophisches Problem? Oder müssen wir die Frage Camus, ob das Leben es wert sei, gelebt zu werden, vielmehr medizinisch-materialistisch verstehen?
Ist es tatsächlich möglich geworden, über unsere aktuellen Fragen zum Suizid, über Schuld und Verantwortung offener zu sprechen? Einige Beiträge in diesem Heft lassen dies annehmen. Betrachtet man andere Texte, entsteht der Eindruck, dass auch in der Darstellung subjektiver Erlebnisse nach dem Suizid Überlegungen von Rechtfertigung, von eigener Schuld die Betrachtung der Abläufe verhindern. Dazu kann die vermeintliche Offenheit des Gesprächs andere Folgen zeitigen. Auch auf sie hat Ariès bereits hingewiesen [9]:
Der neue Aspekt, den ein Film wie „Dying” enhüllt, ist nicht so sehr die Einsamkeit als vielmehr das Bedürfnis, die Heimlichkeiten des Todes bekanntzumachen und offen und natürlich darüber zu reden, anstatt sie zu verbergen. In Wirklichkeit ist der Unterschied aber weniger groß, als es den Anschein hat, und die Zurschaustellung erreicht das gleiche Ziel wie das Verschweigen: die emotionale Anteilnahme zu dämpfen und das Verhalten zu desensibilisieren (S. 758).
#Forschungsfragen und methodische Ansätze
Von wissenschaftlicher Seite können wir die Publikationen, die öffentlich zugänglichen Äußerungen nutzen. Zwar sind die Warnungen, sich allzu weit in subjektive Darstellungen hinein zu begeben, die von wissenschaftlicher Seite geäußert werden, nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber die Entwertung der „Betroffenheitskultur” hilft hier genauso wenig weiter wie die Argumentation mit der Schwierigkeit, geeignete methodische Ansätze zu finden, um den Prozess von Suizidgedanken, Suizidimpulsen und vollendetem Suizid auf der einen Seite sowie Reflexionen über den Suizid eines Angehörigen, eigene Verwicklungen und Bewältigung des vollendeten Suizids auf der anderen zu untersuchen. Denn hieraus ließen sich Möglichkeiten der Suizidprävention wie der Bewältigung des Suizids entwickeln, die ohne die Einsicht in sehr persönliche, subjektive Prozesse nicht möglich sind. Die Fragen an Lebenssinn, Lebensbeendigung und Todesbewältigung sind in ihrer Komplexität nicht einfach reduzierbar. Danach müssen sich auch die Forschungsmethoden richten.
Die Kritik an der Wissenschaftlichkeit von Studien konzentriert sich nicht selten allein auf die Methodik und deren korrekte Anwendung. Der theoretische Ansatz, aus dem die Studie entwickelt wird, unterliegt seltener der Kritik. Auch werden die Forschungsfragen nicht immer im Hinblick auf die Art der Daten gestellt. Noch weniger werden die „Hintergrundannahmen” [15] in Betracht gezogen, auf denen theoretische Ansätze, Fragen wie Methodik beruhen. In die sozialen Repräsentationen gehen auch Hintergrundannahmen ein, die Wissenschaftler aus ihrem Alltag in die wissenschaftlichen Überlegungen hinein nehmen. Dies gilt umso mehr, je mehr das Forschungsfeld existenzielle Fragen berührt. Wo wenn nicht bei Fragen des Todes und der Lebensbeendigung sollte dies der Fall sein. So sehr es zutrifft, dass subjektive Darstellungen allein Forschungsfragen nicht beantworten können, so wenig kann die subjektive Reflexion über die Lebensbeendigung und Suizidbewältigung von der wissenschaftlichen Untersuchung ausgeklammert bleiben. Weil der Entschluss zum Suizid eine zutiefst subjektive Angelegenheit ist; weil die Lebensbewältigung nach vollendetem Suizid eine zutiefst persönliche Frage ist, können Möglichkeiten der Suizidverhinderung wie der Suizidbewältigung nur aufgrund subjektiver Berichte weiterentwickelt werden.
Eine Fülle von Forschungsfragen knüpft sich daran: Was geschieht, wenn sich Suizidgedanken konkretisieren, wann und auf welche Weise akzentuieren sie sich; was geschieht, wenn daraus ein definitiver Suizidentschluss wird? Wann und auf welche Weise wird die Urteilsfähigkeit durch psychische Erkrankungen eingeschränkt? Ist sie in der Tat erst aufgehoben, wenn von einer akuten psychotischen Symptomatik gesprochen werden muss? Inwieweit ist ein Mensch, selbst dann, wenn er mäßig depressiv ist, wenn sie beginnende Denkstörungen zeigt, Beziehungsideen, Wahn oder Halluzinationen, die sie noch nach außen verbergen kann bereits im Hinblick auf den Suizid nicht mehr urteilsfähig? Wie ist es möglich, nach dem Suizid eines nahestehenden Angehörigen wieder Tritt im Leben zu fassen, gerade wenn Konflikte unbewältigt bleiben, Gespräche nicht abgeschlossen werden konnten? Was bedeutet es für die Einzelnen, wenn sich die Haltung der Gesellschaft zum Leben - und damit auch zum Tod - verändert hat? Wo müssen wir über pekuniäre Interessen, über Tendenzen im Gesundheitswesen nachdenken, wenn wir mehr über den Suizid erfahren wollen?
Akzeptiert man diese Ausgangssituation, stellen sich die nächsten Fragen: Die Begrenzungen der Methoden des Erzählens, der Erzählanalyse, der Biografik, der psychologischen Autopsie sind bekannt. Dennoch wird das Erzählen, das Reflektieren der Einzelpersonen Grundlage des Vorgehens bleiben müssen. Meines Erachtens führt kein Weg an der individuellen Aufzeichnung, der seriösen Transkribierung von Gesprächen, von Interviews, von Therapiesitzungen und deren Auswertung vorbei [16] [17].
Aktuelle gesellschaftliche Fragen haben Auswirkungen auf wissenschaftliche Fragestellungen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Forschungsfragen Moden folgen müssen. Die Abgrenzung, einem Modetrend zu folgen gegenüber der Forderung, zeitgenössische Fragen wissenschaftlich anzugehen, ist dabei nicht die unwichtigste Aufgabe. Ebenso wie die juristische Klärung von Behandlungsfehlern, unterlassener Hilfeleistung und Organisationsversagen beim Krankenhaussuizid in Deutschland nach dem Dritten Reich ein unerlässliches Thema war, fordert die aktuelle Diskussion um Suizid, Beihilfe zum Suizid und Fragen der Lebensbeendigung eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um Autonomie und Urteilsfähigkeit im Kontext des Suizides. Deshalb lohnt es sich, aus der abgezirkelten Diskussion der Suizidforschung, ob und in welcher Weise subjektive Aspekte von Relevanz sein könnten und ob sie - und in welcher Weise - wissenschaftlich angehbar sein könnten, herauszutreten, und einen Blick auf die Fragen zu werfen, die in Zeitungen, Fernsehen und Filmen so heftig diskutiert werden. Angesichts der veränderten Haltung zum Leben sind wir als Psychiaterinnen und Psychiater auf neue Weise gefordert. Die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Romanen zum Thema in diesem und im kommenden Jahr erscheinen zeigt auch, wie sehr Fragen des Suizids, der Autonomie und des Umgangs mit Todeswünschen uns allen unter den Nägeln brennen. Sie sind ein Schlüssel für den Umgang mit dem Suizid in unserer Gesellschaft.
#Literatur
- 1 Camus A. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek; Rowohlt Neuübersetzung 1999
- 2 DeLillo D. Körperzeit. Roman. Köln; Kiepenheuer und Witsch 2001
- 3 Muschg A. Sutters Glück. Roman. Frankfurt/M; Suhrkamp 2001
- 4 Keller U. „Nun breche ich in Stücke …” Leben, Schreiben, Suizid. Berlin; Vorwerk 2000
- 5 Gerisch B. „Sterben ist eine Kunst wie alles. Ich kann es besonders schön.” Zur Suizidalität in Leben und Werk von Sylvia Plath und anderen Dichterinnen der Gegenwartsliteratur. Psyche im Druck
- 6 Light D W. Psychiatry and Sucide. The Management of a Mistake. Amer J Sociol. 1971/1972; 77 821-838
- 7 Finzen A, Hoffmann-Richter U, Bullinger A, Frei A. Der Suizid psychisch Kranker innerhalb und außerhalb der psychiatrischen Klinik - Methodenprobleme, Stagnation der Forschung, Perspektiven. Suizidprophylaxe. 1997; 24 7-13
- 8 Harris E C, Barraclough B. Suicide as an outcome for mental disorders. Brit J Psychiat. 1997; 170 205-228
- 9 Ariès P. Geschichte des Todes. München; dtv 1978/1982, 1999 9. Auflage
- 10 Reemtsma J P. „Trauma” - Aspekte der ambivalenten Karriere eines Konzepts. Persönlichkeitsstörungen. 1999; 4 207-214
- 11 Toulmin S. Kosmopolis. Die unerkannte Aufgabe der Moderne. Frankfurt/M; Suhrkamp 1991
- 12 Murray F. Intensive Care. Berkeley; University of California Press 2000
- 13 Strätling-Tölle H. 50 Tage intensiv oder: Die menschliche Würde im Krankenhaus. Frankfurt/M; Mabuse 2000
- 14 Hendin H. Seduced by Death. Doctors, Patients and the Dutch Cure. London; Norton 1997
- 15 Gouldner A W. Die westliche Soziologie in der Krise. Reinbek; Rowohlt 1974
- 16 Bohnsack R. Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen; Leske und Budrich 2000 4. Aufl
- 17 Keller R, Hirseland A, Schneider W, Viehöver W. Handbuch Sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Band 1: Theorie und Methoden. Opladen; Leske und Budrich 2001
Literatur
- 1 Camus A. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek; Rowohlt Neuübersetzung 1999
- 2 DeLillo D. Körperzeit. Roman. Köln; Kiepenheuer und Witsch 2001
- 3 Muschg A. Sutters Glück. Roman. Frankfurt/M; Suhrkamp 2001
- 4 Keller U. „Nun breche ich in Stücke …” Leben, Schreiben, Suizid. Berlin; Vorwerk 2000
- 5 Gerisch B. „Sterben ist eine Kunst wie alles. Ich kann es besonders schön.” Zur Suizidalität in Leben und Werk von Sylvia Plath und anderen Dichterinnen der Gegenwartsliteratur. Psyche im Druck
- 6 Light D W. Psychiatry and Sucide. The Management of a Mistake. Amer J Sociol. 1971/1972; 77 821-838
- 7 Finzen A, Hoffmann-Richter U, Bullinger A, Frei A. Der Suizid psychisch Kranker innerhalb und außerhalb der psychiatrischen Klinik - Methodenprobleme, Stagnation der Forschung, Perspektiven. Suizidprophylaxe. 1997; 24 7-13
- 8 Harris E C, Barraclough B. Suicide as an outcome for mental disorders. Brit J Psychiat. 1997; 170 205-228
- 9 Ariès P. Geschichte des Todes. München; dtv 1978/1982, 1999 9. Auflage
- 10 Reemtsma J P. „Trauma” - Aspekte der ambivalenten Karriere eines Konzepts. Persönlichkeitsstörungen. 1999; 4 207-214
- 11 Toulmin S. Kosmopolis. Die unerkannte Aufgabe der Moderne. Frankfurt/M; Suhrkamp 1991
- 12 Murray F. Intensive Care. Berkeley; University of California Press 2000
- 13 Strätling-Tölle H. 50 Tage intensiv oder: Die menschliche Würde im Krankenhaus. Frankfurt/M; Mabuse 2000
- 14 Hendin H. Seduced by Death. Doctors, Patients and the Dutch Cure. London; Norton 1997
- 15 Gouldner A W. Die westliche Soziologie in der Krise. Reinbek; Rowohlt 1974
- 16 Bohnsack R. Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen; Leske und Budrich 2000 4. Aufl
- 17 Keller R, Hirseland A, Schneider W, Viehöver W. Handbuch Sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Band 1: Theorie und Methoden. Opladen; Leske und Budrich 2001