Prägend für den Umgang des Spiegel mit der Schizophrenie ist aber nicht so sehr die
Berichterstattung über die Schizophrenie als Krankheit, sei es unter medizinischen
oder unter forensisch-psychiatrischen Aspekten. Prägend ist vielmehr die metaphorische
(und modulatorische) Verwendung des Schizophreniebegriffs in 29 von 57 Beiträgen,
in denen das Wort vorkommt. Wegen ihrer zentralen Bedeutung seien diese im Folgenden
in ihren Kernsätzen zitiert.
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Einen derart krassen Widerspruch zwischen Erscheinungsbild und Investionslogik, zwischen
Gefühl und Verstand, nennen Psychologen Schizophrenie (Titel, 8/95)
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Auschwitz war und bleibt so unbegreiflich, dass es viele Deutsche in ein schizophrenes
Geschichts- und Gegenwartsverständnis treibt (Spiegel-Essay, 10/95)
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„Ich habe ein sehr schizophrenes Leben geführt”, erzählt sie: „Ich war Teil des Staates
DDR - und lebte zugleich in permanenter Auflehnung dagegen” (Deutschland, 1/94)
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Wie schizophren des Kaisers Generale dachten, verdeutlicht niemand besser als dessen
Stabschef von Moltke, Neffe des Siegers von Sedan: … (Deutschland, 33/93)
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Schwangere Frauen seien als „drogensüchtige Schizophrene” zu behandeln und schlechte
Laune ist an Behinderten abzureagieren, da diese „kinderleicht zu beleidigen” seien
… (Deutschland, 2/95)
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Ist dieses Verhalten nicht schizophren? (Deutschland, 33/95)
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Man schaffe ab oder verzweifle völlig an der schizophrenen Situation, in der man steckt:
… (Deutschland, 34/95)
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Denn die Realität enthüllt uns oft ein Bild ordnungspolitischer Schizophrenie … (Wirtschaft,
2/94)
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Dem Chef selbst ist bei seinem Besuch im öffentlichen Bewusstsein „schlagartig klar
geworden, wie schizophren” die Lage ist (Wirtschaft, 18/94)
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Schizoide: kühl-arrogant, emotional verklemmt (Wirtschaft, 41/94)
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„Pervers und schizophren” nennt man es (…), wenn man das privatisierte Bundesunternehmen
per Ministerdekret aus dem Geschäft vorläufig verbannt würde (Wirtschaft, 18/95)
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Es wäre doch schizophren, die Telekom zuerst zu privatisieren und ihr dann so viele
Fesseln aufzuerlegen, … (Wirtschaft, 28/95)
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Andere, wie der „Adine”-Chefredakteur Sarkuhi, sehen sich bereits auf dem Weg in die
Schizophrenie (Ausland, 19/95)
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„Libération” über das Hin und Her der Minister: „schizophren” (Ausland, 33/95)
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Andere empfinden es indessen als „unerträglich schizophren, mit einem Bein in der
christlichen, mit dem anderen in der afrikanischen Kultur zu leben” (Ausland, 40/95)
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Zwei öffentliche Meinungen zu vertreten ist schizophren (Sport, 12/95)
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Der Elektronik-närrische Sohn und eine abgebrühte kleine Call-Göre bringen den Schizo-Killer
zur Strecke (Kultur, 20/94)
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Es ist die gleiche Art Schizophrenie, die anfangs viele seiner Fans befallen hat und
vielleicht viele noch immer befällt: Ich glaube es einfach nicht, weil ich nicht will
(Kultur, 27/94)
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Ich bin kein Kosmopolit, sondern ein bisschen schizophren (Kultur, 20/94 [2])
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Dass sie es trotzdem nicht schaffe, nein zu sagen, nennt sie „die Schizophrenie meines
Lebens” (Kultur, 46/94)
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Es sei, so sagt sie, einer dieser Momente gewesen, wo sie wieder einmal unfähig war,
„aus meiner Schizophrenie herauszukommen” (Kultur, 46/94)
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Der Gesellschaftsforscher fragt, warum wir die Geschichte nicht als „Erzählung aus
der Welt der Schizophrenen oder der Wüst Kalahari, sondern als vertraute Erfindung”
empfinden (Kultur, 22/95)
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Ja, Ja. Beide sind schizophren. Bei Schauspielern wird die Hemmschwelle im Spiel überschritten
(Kultur, 46/95)
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Die Ost-Berlinerin rechnet mit einem Schizo-Staat ab, in dem Solidarität behauptet
und Duckmäusertum gelebt wurde (Kultur, 48/95)
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Doch in der letzten Woche wurde diese Begabung in einer schizophrenen Doppelrolle
überfordert … (Kommentar, 46/95)
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Ein Psychiater hätte im Sommer 1957 nach Springers messianischen Visionen von Erlösertum
und Wiedergeburt wohl einen schizophrenen Schub, eine Art religiöser Wahnvorstellung
diagnostiziert, … (Serie, 26/95)
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Seine Visionen und Halluzinationen seien nicht unbedingt schizophrene Wahnideen, eher
der klassische Ausdruck fortschreitender Selbstfindung (Serie, 26/95)
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Die Gondel zur Lustfahrt durch die formal gleichen Güterwagons der Todesfahrt zu ersetzen
ist Ausdruck der Schizophrenie der NS-Zeit und unserer Zeit (Briefe, 18/95)
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Caroline Coon diagnostiziert nun eine Art Schizophrenie bei den Liverpooler Ausstellungsmachern:
… (Personalien, 14/95)
Schizophrenie als Metapher steht hier für Widersprüchlichkeit (16-mal), Unbewusstes,
Fremdes, Dämonisches (9-mal), Ausweglosigkeit und Verzweiflung (4-mal).
Der Spiegel ist nach wie vor das bedeutendste meinungsbildende und meinungsprägende
Nachrichtenmagazin im deutschsprachigen Raum. Die Schizophrenie als medizinischer
Fachbegriff findet in jeder vierten Ausgabe Erwähnung. Allerdings befasst sich nur
ein einziger kurzer Beitrag in zwei Jahrgängen als Hauptthema mit der Schizophrenie,
genauso oft übrigens wie mit dem Elektroschock (vgl. [16]). Überwiegend wird Schizophrenie auch als medizinischer Fachbegriff lediglich erwähnt.
Gegenüber dieser spärlichen Berichterstattung fällt die häufige metaphorische Verwendung
des Wortes Schizophrenie (29 Beiträge, 51 %) in besonderer Weise ins Gewicht. Sie
ist griffig, einprägend und pointiert. Sie signalisiert Widersprüchlichkeit, Fremdes,
Dämonisches, Ausweglosigkeit und Verzweiflung und gewinnt dadurch eine besondere Note,
dass sie immer wieder im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, dem Leben in der
DDR und der Situation in Dritte-Welt-Ländern verwendet wird. Schizophrenie als Metapher
enthält immer eine negative Bewertung, sei es des Widersprüchlichen, des Unverständlichen,
des Unberechenbaren, oder des Unheimlichen. Bedeutet dies, dass wir uns mit der Beschreibung
des Etymologischen Wörterbuches des Deutschen [18] abfinden müssen, wonach der Ausdruck Schizophrenie „seit den 50er Jahren bildungssprachlich
und im allgemeinen Sinne für ¿Zwiespältigkeit, Unsinnigkeit, absurdes Verhalten, Wahn‘”
steht und „schizophren” für „widersprüchlich, zwiespältig, unsinnig, absurd”. Wenn
dies so ist, hat die Psychiatrie ein Problem mit der Benennung einer ihrer bedeutendsten
Erkrankungen, haben die Schizophreniekranken schon wegen der allgemeinsprachlichen
Verwendung zur Benennung ihrer Krankheit das Problem, der Stigmatisierung zu entgehen.