Wer sich mit der Geschichte der Psychiatrie beschäftigt, kann zu dem Eindruck gelangen,
dass eine Metamorphose der Gewalt gegen psychische Kranke, die in immer neuen Formen
auftaucht, sich wie ein roter Faden durch die Geschichte unseres Fachs zieht, und
zwar häufig als negativer Ausgang wohlgemeinter und engagierter reformerischer Bestrebungen.
Gewiss, die Psychiatriegeschichte ist viel mehr als das, aber sie ist auch das: folterähnliche
Therapiemethoden und therapeutischer Nihilismus im 19. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert
Großasyle, gewaltsame Behandlung von Kriegsneurotikern, Hungersterben, Zwangssterilisierung
der von den sozialpsychiatrischen Außenfürsorgestellen betreuten Personen, Aktion
„T 4”, „wilde Euthanasien”, „Strafschocks”, massive personelle und materielle Vernachlässigung
der Anstalten bis zur Psychiatrieenquete, um nur einige Schlagworte zu nennen, die
jeweils mit einer komplizierten Geschichte verbunden sind, und deren Fortsetzung in
die heutige Zeit der Spekulation anheim gestellt werden kann. Warum ist gerade die
Geschichte der Psychiatrie so mit Gewalt verknüpft (und nicht etwa die Geschichte
der Augenheilkunde)? Die möglichen Antworten auf diese Frage sind nicht ganz trivial
und implizieren einige Konsequenzen für psychiatrisches Handeln und die psychiatrische
Forschung. Es gibt m. E. drei sich ergänzende Antworten auf diese Frage. Sie umreißen
jeweils eine spezifische Herausforderung für das Selbstverständnis der Psychiatrie.
Die erste Antwort ist die Hälfte der Begründung, warum psychiatrisches Handeln auch
heute noch zuweilen notwendig mit Gewaltausübung (Zwangsmaßnahmen) verbunden ist:
Psychisch Kranke üben, teilweise verursacht durch ihre Krankheit, zuweilen selbst
Gewalt aus. Diese Erkenntnis ist weder eine Plattitüde noch unumstritten. Die mit
zunehmender Enthospitalisierung in allen Ländern aufgekommene Frage, welche Gefahren
von den in die Gemeinde entlassenen Patienten ausgehen könnten, wurde von psychiatrischer
Seite erst ignoriert, dann bagatellisiert. Inzwischen ist sie jedoch von der psychiatrisch-epidemiologischen
Forschung hinreichend präzise beantwortet worden im Sinne eines moderat erhöhten Gewalttatenrisikos
bei bestimmten Krankheitsbildern [1]. Auch der zweite Problembereich, Gewalt in psychiatrischen Institutionen, ist nach
Beendigung der auch hier länger dauernden Verleugnungsphase mittlerweile recht gut
erforscht. Eine Übersicht gibt meine Arbeit in vorliegendem Heft, die allerdings auch
die Grenzen solcher Forschung im Hinblick auf Exaktheit und scheinbare Objektivität
von Ergebnissen deutlich macht. Die Vorhersagemöglichkeiten der Forschung werden wesentlich
dadurch limitiert, dass Gewalt eben auch ein interaktives Geschehen und nicht nur
ein Patientenmerkmal ist.
Der zweite Grund für die Verflechtung von Psychiatrie und Gewalt liegt darin, dass
Psychiatrie für die Behandlung derjenigen Organfunktion des Menschen zuständig ist,
die das Verhalten steuert. Ansprüchliche, aggressive und noncompliante Patienten/Klienten
gelten überall als die Problemgruppe, in der Allgemeinarztpraxis und auf dem Sozialamt ebenso wie in der
Psychiatrie. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen hat Psychiatrie aber aggressives
Verhalten nicht nur als störend zu empfinden, sondern hat zu prüfen, ob es krankhafte
Aspekte hat und damit in den Bereich der eigenen Behandlungskompetenz fällt. Mit der
Anerkennung dieser Aufgabe - in Kooperation und Abgrenzung mit bzw. zu anderen öffentlichen
Einrichtungen - hat die Psychiatrie eher noch Defizite. Behandlungskonzepte für gewalttätiges
Verhalten gibt es für die Klinik, kaum jedoch für die Gemeinde. Ganz im Gegensatz
zu der methodisch ausgereiften epidemiologischen Forschung gibt es hier erst Anfänge
einer Interventionsforschung [2], und die epidemiologischen Daten sind bemerkenswert widersprüchlich: Einerseits
kommen Metaanalysen über Prädiktoren von Gewaltdelinquenz recht eindeutig zu dem Ergebnis,
dass bei psychisch Kranken ebenso wie bei Gesunden die entscheidenden ungünstigen
Prädiktoren Merkmale der Dissozialität sind, während Variablen wie „Psychose” oder
klinische Einschätzungen und Verläufe als Prognosefaktor zu vernachlässigen seien
[3]. Demgegenüber steht der Befund, dass schizophrene Patienten mit Totschlagsdelikten
ganz überwiegend weder pharmakologisch noch sozialpsychiatrisch behandelt wurden [4]
[5]. Es ist z. B. nicht hinreichend geklärt, ob Psychopharmaka bei psychisch Kranken
in der Gemeinde gewaltpräventiv wirken und ob psychosoziale Interventionen wirksam
sind [6]. Hier besteht weiter erheblicher Forschungsbedarf.
Der dritte Grund für die Verflechtung von Psychiatrie und Gewalt ist die andere Hälfte
unserer Legitimation von Zwangsmaßnahmen und zugleich, zumindest im Hinblick auf die
Verfehlungen psychiatrisch Tätiger und psychiatrischer Institutionen, der wohl bedeutsamste.
Es ist der Umstand, dass psychiatrisches Handeln zuweilen notwendig paternalistische
Züge hat und dass psychiatrisches Handeln häufig im vermutlichen oder vermeintlichen
Interesse der Betroffenen stattfindet, die ihre Interessen schlecht selbst wahrnehmen
können. Dies unterscheidet die Psychiatrie in der Tat von anderen Fachdisziplinen.
Die Ausgewogenheit zwischen berechtigter Fürsorge und Respekt vor der Patientenautonomie
zu finden, ist ein psychiatrisches Grundproblem und oft unlösbares Dilemma, auf dessen
einseitige und nicht ausreichend reflektierte Lösung viele Fehlentwicklungen - von
ignoranter Unterversorgung bis Dauerasylierung - zurückgeführt werden können. Aus
diesem Grund ist die Ethik in der Psychiatrie mehr als in anderen Disziplinen ein
notwendiger und elementarer Bestandteil des therapeutischen Inventars. Genau hier
liegt aber noch ein weiteres Defizit der Forschung und Praxis. Bisher wird psychiatrische
Ethik im Sinne eines „add on” gehandhabt, auf das man zurückgreift, wenn es schwierig
wird. Während die Therapeutik zunehmend nach Evidenzbasierung trachtet, bleibt die
Ethik daneben vergleichsweise nebulös und kann zur Glaubenssache deklariert werden.
Ob wir bei einem gegen seine Familie rezidivierend gewalttätigen Patienten einen Unterbringungsantrag
an das Gericht stellen oder ihn entlassen, bleibt dem persönlichen ethischen Ermessen
innerhalb des juristisch gesteckten Rahmens vorbehalten. Sollten wir uns entschließen,
ihn überhaupt zu behandeln, gibt es dann (künftig) immer feinere evidenzbasierte Empfehlungen
auch für die Auswahl des dritten Neuroleptikums. Das ist ein offensichtliches Missverhältnis.
Die psychiatrische Ethik benötigt mehr empirische Fundierung und sollte als operationalisierbarer
Bestandteil therapeutischer Entscheidungsalgorithmen handhabbar werden.
Wenn es uns gelingt, unser klinisches Verständnis und unsere Forschungsmethoden in
der skizzierten Richtung weiterzuentwickeln, erreichen wir hoffentlich einen zeitgemäßen
und fachlich fundierten Stand für den Umgang mit der psychiatrischen „Gewaltfrage”.