Einleitung
In unserem Artikel geht es um alkoholkranke Menschen, welche mit
Seniorinnen und Senioren zusammen in einem normalen offenen Pflegeheim leben.
Das Pflegeheim ist in freier Trägerschaft der Volkssolidarität
Mecklenburg-Mitte e. V.
Das fremdbestimmte kontrollierte Trinken ist als ein Element des
Betreuungskonzeptes im Pflegeheim „Haus Abendsonne” in
Zapkendorf, Landkreis Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, zu sehen. Das
„Haus Abendsonne” ist eine 1725 errichtete Gutsanlage und wurde
mit der Aufnahme von Flüchtlingen bereits 1948 ein Heim. Im Laufe der Zeit
entwickelte es sich zu einem Feierabend- und schließlich Pflegeheim. Die
Nervenklinik in Rostock und andere Einrichtungen hatten schon mehrfach einen
Bedarf signalisiert zur Unterbringung Alkoholkranker, die mehrfach ihre
Therapien abgebrochen hatten, immer wieder rückfällig geworden waren
und aufgrund der Alkoholfolgeschäden pflegebedürftig waren. So wurde
dieser praktischen Notwendigkeit entsprechend unser Konzept ausgerichtet.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeitsweise im
„Haus Abendsonne” bilden das Heimgesetz, das SGB XI
(Pflegeversicherungsgesetz) und das BSHG (Bundessozialhilfegesetz).
Die Finanzierung des Heimbetriebes erfolgt über Heimentgelte.
Sie werden jährlich in Verhandlungen mit den Pflegekassen festgelegt und
richten sich nach dem personellen und sächlichen Aufwand für die
einzelnen Stufen der Pflegebedürftigkeit. Die Pflegekasse gewährt
jedem Versicherten 75 % des Heimentgeltes, maximal je Stufe
jedoch 1022,58 €, 1278,23 €, 1431,62 €. Die Differenz zu den
tatsächlichen Heimkosten trägt der Heimbewohner aus seinem Einkommen,
in unserem Heim also von der jeweiligen Rente. Ist diese nicht ausreichend,
wird der Betrag vom Sozialamt übernommen. Der Bewohner selbst erhält
dann außerdem zu seiner persönlichen Verfügung ein Taschengeld,
das abhängig vom Sozialhilfesatz des jeweiligen Landes ist.
Zielgruppe
Unsere alkoholkranken Heimbewohner gehören zur Gruppe der
chronisch mehrfachbeeinträchtigten Alkoholkranken, die immer wieder
rückfällig sind, Alkoholschäden besitzen und sozial
auffällig sind.
Im „Haus Abendsonne” finden 80 Bewohner ein Zuhause.
Die Altersspanne bei den Alkoholkranken liegt zwischen 39 und 80 Jahren.
Gemeinsames Merkmal der alkoholkranken und nichtalkoholkranken Bewohner ist die
Pflegebedürftigkeit aufgrund ihres Alters und/oder ihrer
Alkoholabhängigkeit.
Die zahlenmäßige Struktur lässt sich
folgendermaßen darstellen:
Tab. 1 Bewohnerprofil im
„Haus Abendsonne” (Stand:
1.4.2001)
alkoholkrank | gesamt: | 50
Bewohner | davon 18 Frauen, 32
Männer |
| davon
pflegebedürftig: | 26
Bewohner | davon 6 Frauen, 20
Männer |
nicht
alkoholkrank | gesamt: | 28
Bewohner | davon 21 Frauen, 7
Männer |
| davon
pflegebedürftig: | 23
Bewohner | davon 16 Frauen, 7
Männer |
Durch das exzessive Trinken bis hin zur Abhängigkeit haben die
alkoholkranken Bewohner vielfältige physische und psychische
Störungen. Sie werden als chronisch mehrfachgeschädigt angesehen.
Dieser Sachverhalt äußert sich in den teils vorhandenen Diagnosen,
wie z. B.
-
Polyneuropathie,
-
Korsakow-Syndrom,
-
Korsakow-Syndrom + Diabetes mellitus
-
Polyneuropathie + Korsakow-Syndrom + chronische
Pankreatitis
-
Hirnorganisches Psychosyndrom + Polyneuropathie +
Korsakow-Syndrom
Konzept
Ein wesentliches Kriterium unserer Bewohner und damit grundlegend
für die Umsetzung unseres Konzeptes ist die Pflegebedürftigkeit nach
§ 14 SGB XI.
Die Notwendigkeit der Pflege zeigt auf, welche Alkoholkranken wir
versorgen, nämlich die, die in wesentlichen Funktionen beeinträchtigt
und dabei allein nicht lebensfähig sind. In der Verrichtung der
Abläufe des täglichen Lebens benötigen sie Anleitung, Hilfe und
Unterstützung. Viele unserer Alkoholkranken sind nicht mehr in der Lage,
abstinent zu leben. Für diese praktische Erscheinung des immer wieder
Rückfälligwerdens, des stetigen exzessiven Alkoholkonsums trotz aller
medizinischer oder therapeutischer Maßnahmen wurde im Rahmen der
wissenschaftlichen Konzeptbegleitung der Begriff der autonomen
Abstinenzunfähigkeit geprägt. Sie stellt ein Dispositionsgefüge
dar, das eine eigenständige, bewusste willensmäßige Steuerung
bezüglich des Alkoholkonsums nicht zulässt.
Die Zielsetzung des Konzeptes heißt:
-
Schaffung einer würdigen Existenz, in der das Heim als
Zuhause verstanden wird und Bedürfnisorientierung, Selbstbestimmtheit und
Entfaltung der Persönlichkeit Grundlage des Aufenthaltes sind.
-
Entgegenwirken des krankheits- und altersbedingten
Persönlichkeitsabbaus durch Erhalt bzw. Förderung der
Persönlichkeits- und Lebensstrukturen und vorhandener Fertigkeiten und
Fähigkeiten.
Für die alkoholkranken Bewohner gilt darüber hinaus:
-
Reduktion der Trinkmenge, ggf. Trinkexzesse
-
Führung zu längeren alkoholfreien Perioden
-
Bearbeitung von Rückfällen zwischen diesen
Perioden
-
Abstinenz
-
Bearbeitung von Rückfällen
Um Über-, aber auch Unterforderung zu vermeiden, bedarf es
einer Pflege- bzw. Betreuungsplanung. Dieser individuelle Hilfeplan leitet
Zielstellungen für einzelne Bereiche der Persönlichkeit ab und
entwickelt Methoden zur Umsetzung. Spätestens halbjährlich erfolgt
nach einer Auswertung die Zielkonkretisierung. Schwerpunkte für die
individuell geltenden Pflegepläne sind:
Die Qualität des Lebens steht auch unter geschützten
Bedingungen im Mittelpunkt der fachlichen Überlegungen. Oberstes Ziel ist
also auch im Heim: Erreichung eines sinnerfüllten Lebens ohne bzw. mit
reduziertem Alkoholkonsum. Die Vorstellung vom Sinn des Lebens wird durch
subjektive Faktoren bestimmt und ist stets individuell begründet.
Mit der Aufnahme in das offene Pflegeheim „Haus
Abendsonne” wird vom Alkoholkranken keine Abstinenz verlangt. Das
heißt aber auch - in Zapkendorf muss man nicht
trinken!
Damit sind wir beim fremdbestimmten kontrollierten Trinken als einem
fakultativen Element unseres Betreuungskonzeptes angelangt. Das fremdbestimmte
kontrollierte Trinken gilt nicht in erster Linie als Ziel, sondern als Methode,
als ein Element des Betreuungskonzeptes.
Bewohner mit Krankheitseinsicht und Abstinenzmotivation werden in
ihrem Streben nach Abstinenz unterstützt und begleitet. Bewohner, die ein
aktuelles, teilweise missbräuchliches Trinkverhalten aufweisen,
zählen zur potentiellen Gruppe der fremdbestimmten kontrollierten
Trinker.
Im Aufnahmegespräch werden die Einzelheiten des
fremkontrollierten Trinkens festgelegt. Die Rahmenbedingungen im „Haus
Abendsonne” stellen sich wie folgt dar:
-
Die Alkoholmenge wird in Abstimmung mit Bewohner bzw. Betreuer
festgelegt. Sie ist abhängig von biografischen Besonderheiten, dem
bisherigen Trinkverhalten, bestehenden Schädigungen, körperlichen
Voraussetzungen und angestrebten Perspektiven. Begrenzt ist diese Menge auf
maximal 3 × 1 Bier (je 0,3 Liter) täglich.
-
Die zugeteilte Menge muss vom Heimbewohner finanziell selbst
getragen werden und richtet sich demzufolge auch nach der Höhe seines
Taschengeldes.
-
Die Alkoholika befinden sich unter Obhut des Personals und
werden vom Sozialpädagogen verabreicht.
-
Die tägliche Alkoholverteilung erfolgt gekoppelt an ein
Gespräch über körperliches Befinden, Probleme oder mögliche
Verhaltensauffälligkeiten.
-
Gleichzeitig behält sich der Sozialpädagoge die
Zuteilung des Taschengeldes vor, um Verletzung des fremdbestimmten
kontrollierten Trinkens durch Zusatzbeschaffung von Alkohol zu vermeiden.
-
Die Menge der Zuteilung ist nicht starr und unabänderlich.
Durch Prüfung des körperlichen und psychischen Zustandes können
Veränderungen (Reduktion) herbeigeführt werden,
selbstverständlich auch auf Wunsch des Bewohners.
Mit der Unterzeichnung des Heimvertrages und damit der Anerkennung
der Hausordnung wird die Zustimmung des Heimbewohners zu diesen Regelungen als
gegeben angesehen.
Zur Zeit nehmen am fremdbestimmten kontrollierten Trinken
7 Bewohner teil (1 Frau, 6 Männer).
Unberührt darf an dieser Stelle natürlich nicht die
Thematik des Rückfalls bleiben. Im vorliegenden Betreuungskonzept ist der
Rückfall entsprechend dem differenzierten Suchtverhalten der
Heimbewohnergruppen zu definieren. Für die abstinent lebenden Bewohner
bedeutet der Rückfall Konsum von Alkohol. Der Verstoß gegen die
vereinbarte und gestattete Menge des Alkoholkonsums, so genannter Beikonsum,
beschreibt für den Teilnehmer am kontrollierten Trinken den
Rückfall.
Die Gründe und Art und Weise der Rückfälle sind
unterschiedlich. Bei Heimweh, Sorgen um die Familie, Depressionen oder auch
Selbstüberschätzung „besorgen” sich einzelne Bewohner
Alkohol. Kräftemessen, Leichtsinn oder auch diverse Tauschgeschäfte
bedingen vielfach einen Gruppenrückfall.
Wir leben mit dem Rückfall als Bestandteil der Krankheit. Es
erfolgt der Versuch der Aufarbeitung, der Suche nach Ursachen, aber vor allem
der Suche nach neuen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten beinhalten
die Motivation zur Rückkehr zum Leben mit Reduktion des Alkohols.
Abschließend noch einige Bemerkungen zum Personal: Die
Personalstruktur richtet sich nach den Richtlinien der
Heimmindestpersonalverordnung und den Anforderungen des SGB XI. Da das Konzept
ein ganzheitliches ist, also alle Arbeitsbereiche bei der Betreuung
einschließt, wurde mit dem Personal ein besonderes Schulungsprogramm
durchgeführt. In einem einjährigen Kurs wurden alle Mitarbeiter
suchtspezifisch gebildet. Sie erlernten dazu ausgewählte Grundlagen der
Psychologie, Sozialarbeit, Gesprächsführung und die neu gefassten
theoretischen Überlegungen zur Gestaltung des Konzeptes. Diese Komplexe
wurden schwerpunktmäßig als Fallstudien mit der praktischen Arbeit
verbunden. Viele Ideen und Ansatzpunkte zur Verbesserung des Konzeptes waren
Begleitergebnis dieser Schulungen. Alle Mitarbeiter erhielten nach bestandener
Belegarbeit ein Zertifikat als Sozialbetreuer von Alkoholkranken. Die
ständigen Schulungen, auch als Beratungen durch einen Arzt der
Suchtkrankenhilfe, sind für das Gelingen des Konzeptes von großer
Bedeutung.
Fazit
Kontrolliertes Trinken für Alkoholkranke unter einem Dach mit
pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren: Ist das möglich oder eine
Zumutung, ein Kunstfehler oder ein Versorgungsbaustein? Nach nun fast
10-jähriger Tätigkeit haben wir auf diese Fragen und viele andere
nicht nur eine Antwort gefunden, sondern sie auch umgesetzt. Die Anwendung des
kontrollierten Trinkens hat sich als sinnvoll erwiesen. Dafür müssen
jedoch klare Prämissen gesetzt werden. Im „Haus Abendsonne”
erfolgt es aufgrund der vorangeschrittenen Schädigung der Bewohner in
erster Linie durch Fremdbestimmung. Generell unterliegt das kontrollierte
Trinken stets den individuellen Voraussetzungen des Betroffenen und muss auf
diese abgestimmt sein. Kontrolliertes Trinken muss stets im Zusammenhang mit
einhergehender sozialer Betreuung angeboten werden.
Dieses Projekt beansprucht sicher keine Allgemeingültigkeit,
doch ist der gezeigte Ansatz ein neuer Weg in der Suchtkrankenhilfe und
darüber hinaus ein wichtiger Versorgungsbaustein zur Betreuung chronisch
mehrfachgeschädigter Alkoholkranker.
Der Heimverbund der VS Mecklenburg-Mitte e. V. und die Prof.
Dr. Ihlefeld-Stiftung e. V. haben sich das Ziel gesetzt, dieses Konzept
im Sinne des verstorbenen Prof. Dr. Ulrich Ihlefeld fortzuführen und den
heutigen Bedingungen anzupassen und zu erweitern.