Psychiatr Prax 2002; 29(4): 171-172
DOI: 10.1055/s-2002-30684
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welche Kosten tragen Angehörige für die Betreuung psychisch kranker Familienmitglieder?

The Financial Burden of the Family of Mentally Ill PeopleBettina  Wittmund1 , Reinhold  Kilian1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig
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Dr. med. B. Wittmund

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Universitätsklinikum Leipzig

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: wittmu@medizin.uni-leipzig.de

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Publication Date:
21 May 2002 (online)

Table of Contents

Als Konsequenz der wachsenden Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen treten auch im Zusammenhang mit der Erörterung von Innovationen im Bereich der psychiatrischen Versorgung gesundheitsökonomische Argumente immer stärker in den Vordergrund. Diese Entwicklung zeigt sich unter anderem darin, dass bei der Diskussion neuer Behandlungsmaßnahmen, sowohl im Bereich der medikamentösen als auch im Bereich der psychosozialen Versorgung, die Frage der mit diesen Maßnahmen verbundenen potenziellen Kosteneinsparungen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Grundsätzlich ist eine derartige Entwicklung begrüßenswert, da sie mittel- und langfristig zu einer Steigerung der Effizienz der für die Gesundheitsversorgung eingesetzten Ressourcen führen könnte. Angesichts des komplexen Systems der Erbringung und Finanzierung von gesundheitsrelevanten Leistungen im deutschen Gesundheitswesen stellt sich allerdings immer die Frage, aus welcher Perspektive die Kosten von Gesundheitsleistungen jeweils beurteilt werden. Wird, wie gegenwärtig weit verbreitet, in erster Linie die Perspektive der Kostenträger in den Vordergrund der Betrachtung gestellt, so bleiben Kosten, die bei den Leistungsempfängern selbst oder bei ihren Angehörigen entstehen, unberücksichtigt und es besteht die Gefahr, dass Maßnahmen zur Einsparung von Kosten lediglich zu deren Verschiebung führen. Deutlich sichtbar werden solche Verschiebungen dann, wenn sie sich wie im Falle von Zuzahlungen oder Leistungsstreichungen ausschließlich auf direkte Behandlungskosten beziehen. Finden demgegenüber Verschiebungen von direkten Kosten in den Bereich der so genannten indirekten Kosten [1] statt, so bleibt diese Entwicklung mit Ausnahme der direkt Betroffenen von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. So sind z. B. bei Gegenüberstellungen der Kosten von stationärer und ambulanter psychiatrischer Behandlung die Kosten der Betreuung durch Familienangehörige in der Regel nicht berücksichtigt worden. Die Gefahr einer Vernachlässigung derartiger Kosten steigt darüber hinaus, wenn diese nicht direkt in monetärer Form auftreten, sondern es sich z. B. um eine Verminderung von Erholungsphasen im Berufsleben, Verzicht von beruflichem Aufstieg oder um gesundheitliche Beeinträchtigungen von Angehörigen handelt.

Das deutsche System psychiatrischer Versorgung zeichnet sich durch eine Fülle zum Teil regional sehr unterschiedlicher Hilfsangebote aus. Zwischen klinischer Behandlung und komplementären Diensten besteht vielfach ein verzweigtes Netz von Absprachen und Zuständigkeiten, das auch aufgrund unterschiedlicher Kostenträger für den einzelnen Betroffenen häufig nur schwer zu durchschauen ist. In dieser Versorgungslandschaft nehmen daher viele Angehörige von psychisch Kranken zunehmend fallbezogene Aufgaben im Sinne einer quasiprofessionalisierten Rolle ähnlich des Tätigkeitsspektrums eines „casemanagers” wahr. Neben anderen zusätzlichen Aufgaben von Angehörigen, wie z. B. der Betreuung des Betroffenen, der Aufrechterhaltung des sozialen Netzwerkes, stellt diese Funktion eine wichtige Ressource im psychosozialen Versorgungsnetz dar, die unentgeltlich erfolgt. Gerade bei längerfristigen und chronischen Verläufen sind erhebliche Belastungen durch diese zusätzlichen Aufgaben erwartbar, die unterstützende Angehörige selbst in ihrer psychischen und physischen Gesundheit gefährden [2]. Im Rahmen einer Leipziger Längsschnittstudie bei Angehörigen von Patienten mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen werden zum einen erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit [3] der Partner psychisch Kranker beschrieben, die sich insbesondere in Form von vermehrt auftretenden depressiven Erkrankungen zeigen. Zum anderen weisen Jungbauer et al. [4] in Vergleichen zwischen Partnern und Eltern schizophrener Patienten auf eine Reihe von psychosomatischen Beschwerden und Beeinträchtigungen der Lebensqualität hin. Als Folge ist eine vermehrte Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen durch Angehörige psychisch Kranker zu verzeichnen.

Besonders im Rahmen der gegenwärtig beginnenden Diskussion alternativer Finanzierungskonzepte der psychiatrischen Versorgung [5] erscheint es aufgrund dieser Befunde notwendig, die Gefahr einer Kostenverschiebung in Form einer Transformation von direkten Behandlungskosten in einen erhöhten familiären Betreuungsaufwand, wie sie z. B. bei einer vorzeitigen Entlassung aus einer stationären Behandlung auftreten kann, in den Blickpunkt zu rücken. Dies erscheint vor allem deshalb dringend geboten, weil bisher sowohl direkte als auch indirekte finanzielle Belastungen von Angehörigen psychisch kranker Menschen in der Literatur nahezu völlig vernachlässigt wurden. Um die Komplexität der Belastungen von Angehörigen zu erfassen, ist dies jedoch ein wichtiger Aspekt, dem durch systematische Forschung auch mit dem Ziel eines besseren Verständnisses der besonderen Lebenssituation betroffener Familien Rechnung zu tragen ist.

Ausgangspunkt einer derartigen Betrachtung muss die Untersuchung der Frage sein, in welcher Form und in welchem Umfang familiäre oder andere soziale Unterstützungssysteme bereits heute direkte und indirekte Kosten psychischer Erkrankungen tragen. Die Ergebnisse derartiger Untersuchungen können einerseits die Grundlage für Modellrechungen zur Abschätzung der durch bestimmte Maßnahmen verursachten Kostenverschiebungen sein und andererseits Anhaltspunkte dafür liefern, in welchem Umfang bestehende soziale Unterstützungssysteme derartige Kostenverschiebungen verkraften können, ohne ihr Unterstützungspotenzial ganz oder teilweise zu verlieren.

Die folgenden Arbeiten, die Ergebnisse einer Leipziger Längsschnittstudie zu finanziellen Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker darstellen, greifen sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden zurück. Neben den direkten Kosten kommen hiermit auch subjektiv wahrgenommene finanzielle Lasten der betroffenen Angehörigen zur Sprache, die als indirekte Kosten in die finanziellen Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker eingehen. In der Zusammenfassung beider Aspekte, der quantitativen und der qualitativen Ergebnisse, wird so eine komplexe Betrachtung erlebter finanzieller Benachteiligungen von Familien mit psychisch kranken Patienten ermöglicht.

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Literatur

  • 1 Roick C, Kilian R, Angermeyer M C. Die indirekten Kosten schizophrener Psychosen. Eine Untersuchung der Komponenten und Berechnungsmöglichkeiten krankheitsbedingter Ressourcenverluste.  Gesundheitsökon Qualitätsmanagment. 2001;  6 36-43
  • 2 Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer M C. Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker: Entwicklungslinien, Konzepte und Ergebnisse der Forschung.  Psychiat Prax. 2001;  28 105-114
  • 3 Wittmund B, Wilms H U, Angermeyer M C. Depressive Disorders in Spouses of Mentally Ill Patients.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2002;  37 177-182
  • 4 Jungbauer J, Mory C, Angermeyer M C. Ist die Betreuung eines schizophrenen Familienmitglieds mit einem Gesundheitsrisiko verbunden?. Fortschr Neurol Psychiatrie im Druck
  • 5 Frick U, Barta W, Binder H. Fallpauschalen in der stationärpsychiatrischen Versorgung. Empirische Evaluation im Land Salzburg.  Psychiat Prax. 2001;  28 S55-S62

Dr. med. B. Wittmund

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Universitätsklinikum Leipzig

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: wittmu@medizin.uni-leipzig.de

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Literatur

  • 1 Roick C, Kilian R, Angermeyer M C. Die indirekten Kosten schizophrener Psychosen. Eine Untersuchung der Komponenten und Berechnungsmöglichkeiten krankheitsbedingter Ressourcenverluste.  Gesundheitsökon Qualitätsmanagment. 2001;  6 36-43
  • 2 Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer M C. Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker: Entwicklungslinien, Konzepte und Ergebnisse der Forschung.  Psychiat Prax. 2001;  28 105-114
  • 3 Wittmund B, Wilms H U, Angermeyer M C. Depressive Disorders in Spouses of Mentally Ill Patients.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2002;  37 177-182
  • 4 Jungbauer J, Mory C, Angermeyer M C. Ist die Betreuung eines schizophrenen Familienmitglieds mit einem Gesundheitsrisiko verbunden?. Fortschr Neurol Psychiatrie im Druck
  • 5 Frick U, Barta W, Binder H. Fallpauschalen in der stationärpsychiatrischen Versorgung. Empirische Evaluation im Land Salzburg.  Psychiat Prax. 2001;  28 S55-S62

Dr. med. B. Wittmund

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie am Universitätsklinikum Leipzig

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: wittmu@medizin.uni-leipzig.de