Hintergrund
Hintergrund
Spritzenabgabe und Schadensbegrenzung
Die Gefährlichkeit von illegalen Drogen leitet sich nicht
primär von den Eigenheiten der Substanzen selbst ab, sondern ist vielmehr
davon abhängig, wie mit den Substanzen umgegangen wird. „Nichts ist
Gift und alles ist Gift, nur die Menge macht das Gift” - diese
These von Paracelsus gilt auch heute noch uneingeschränkt. Das
Drogenverbot selbst zeichnet für die meisten schwerwiegenden individuellen
und gesellschaftlichen Folgen des Drogenkonsums hauptverantwortlich
[1 ]. Obschon die Preise für illegale Drogen auf der
Straße in den letzten Jahren massiv zurückgegangen sind, bleibt
intravenöser Konsum von z. B. Heroin und Kokain unverändert
gegenüber anderen Applikationsformen bestehen. Der Tausch von
Injektionsutensilien (Nadel, Spritze, Löffel und Filter) unter
Drogenkonsumenten stellt dabei die Hauptübertragungsform für so
genannte „blood borne virus infections” wie HIV und Hepatitis B
und C dar, was dazu geführt hat, dass das Vorkommen dieser
Infektionskrankheiten unter Drogenabhängigen um ein Vielfaches höher
ist als vergleichsweise in der Normalbevölkerung [2 ]
[3 ].
Der Konsum illegaler Drogen ließ sich bis heute mit keiner
Maßnahme wirksam verhindern. Moderne Gesellschaften zeichnen sich im
Gegenteil durch eine hohe Bereitschaft an Suchtverhalten aus (für die
Schweiz: Uchtenhagen in Nelles: Drogenpolitik wohin?, Gutzwiller in Nelles:
Harm Reduction in Prison). Schaden zu verhindern oder zumindest zu begrenzen,
wenn risikobehafteter Drogenkonsum selbst nicht oder nicht wirksam genug
verhindert werden kann, entspricht deshalb nur einer konsequenzialistischen
Ethik. Schadensbegrenzung ist dabei nicht gleichzusetzen mit
Drogenpermissivität, wie dies von Kritikern allzu gerne und allzu
leichtfertig behauptet wird [4 ].
Die wirksamste Maßnahme allein zur Begrenzung der
Übertragung von HIV und Hepatitis als Folge risikobehafteten Drogenkonsums
- das haben zahlreiche Studien in verschiedenen Ländern eindeutig
belegt - ist die Abgabe steriler Spritzen an intravenös Drogen
konsumierende süchtige Menschen [5 ]. Diese
schadensbegrenzende Maßnahme hat sich denn auch in praktisch allen
Ländern mit ernsthaftem Drogenproblem etabliert, wobei die Spritzen
mehrheitlich über öffentlich aufgestellte Austauschautomaten, in
Apotheken sowie in Drogenberatungs- oder Kontaktstellen erhältlich
sind.
Besondere Situation Gefängnis - oder was lässt
die Spritzenabgabe im Gefängnis so widersprüchlich erscheinen?
Gefängnisse erscheinen - oberflächlich betrachtet
- als Spiegelbild der Gesellschaft. Die Verzerrung dieses Bildes wird
aber bei genauerer Betrachtung rasch deutlich: 95 % aller
Insassen in Gefängnissen sind Männer, die meisten in jugendlichem
Alter. Körperliche und psychische Krankheiten sind auffallend häufig.
Die Einnahme von Medikamenten ist deutlich erhöht. Etwa die Hälfte
der Insassen (in Frauengefängnissen sogar bis zu 80 %)
konsumiert illegale Drogen wie Kokain und Heroin. Etwa die Hälfte dieser
Insassen setzt den Konsum der Drogen auch während des
Gefängnisaufenthalts fort, dann mehrheitlich intravenös appliziert.
Das Vorkommen von positiven HIV- und Hepatitis-B- und C-Befunden ist um ein
Vielfaches erhöht [6 ]
[7 ]. Im
Gefängnis wird allein schon der Besitz von Spritzen und anderen
Injektionsmaterialien sanktioniert, was verdeckten Konsum und das Tauschen von
Spritzen begünstigt. Zahlungsmittel für illegale Drogen sind nicht
selten sexuelle Kontakte unter Insassen, aber auch teilweise zwischen Insassen
und Personal. Ein Großteil der Betroffenen schützt sich dabei nicht
mit Kondomen [8 ]
[9 ], was die Gefahr
der Übertragung von Infektionskrankheiten, vor allem HIV und Hepatitis,
noch einmal begünstigt.
Die Verbreitung solcher Infektionskrankheiten im Gefängnis
ist eindeutig und vielfältig belegt [10 ]. Der Ruf
nach schadensbegrenzenden Maßnahmen, zumindest unter Wissenschaftlern,
erstaunt deshalb nicht. Denn: Gefängnisse sind keine geschlossenen
Systeme. Urlaube, Verlegungen, vorzeitige Entlassungen und eine zunehmende Zahl
an Kurzstrafen führen zu der für moderne Gefängnisse typischen
hohen Fluktuation. Auf diese Weise kommen, betrachtet man die große Zahl
an Gefangenen (in industrialisierten Ländern typischerweise etwa 100
Insassen pro 100 000 Einwohner), beachtliche Anteile der
Bevölkerung mit der Gefängniswelt - und damit mit HIV/AIDS und
Hepatitis - in enge Berührung. Doch ungeachtet dessen blieben mit
Ausnahme weniger Pilotprojekte die Gefängnistore für
schadensbegrenzende Maßnahmen wie der Abgabe von sterilen Spritzen fest
verschlossen.
Wie ist das zu erklären? Drogenabhängige sind wegen oder
im Zusammenhang mit ihrer Sucht im Gefängnis. Die Abgabe steriler Spritzen
wird nicht als Ausdruck einer konsequenzialistischen Ethik verstanden, sondern
vielmehr als Unterstützung des Konsums illegaler Drogen, wobei der
Anspruch auf einen drogenfreien Raum im Gefängnis als geschlossener und
kontrollierter Institution noch stärker zum Ausdruck kommt. Hieraus ist
auch ableitbar, dass die meisten Gefängnisse ein ernsthaftes Drogenproblem
negieren und schadensbegrenzende Maßnahmen allein schon deshalb als
überflüssig ablehnen. Drogenkonsum mit allen möglichen Mitteln
zu verhindern suchen, vorkommenden Drogenkonsum entsprechend zu sanktionieren
und gleichzeitig Spritzen zur Schadensbegrenzung zur Verfügung zu stellen
- das wird als „nicht vollführbarer Spagat” empfunden.
Widerstände gegenüber der Spritzenabgabe äußern sich in
Form folgender Befürchtungen und Behauptungen: Spritzenabgabe stimuliere
zum Drogenkonsum (Neueinsteiger, Wiedereinsteiger), begünstige die mit
mehr Risiken behaftete intravenöse Applikationsform, fördere den
Missbrauch von Spritzen z. B. als Waffe gegenüber Bediensteten oder
Mitgefangenen, führe zu schlecht entsorgten Spritzen, was mit einem
erhöhten Verletzungs- und Ansteckungsrisiko einhergehe, und hätte
letztlich keinen Einfluss auf die Prävalenz von HIV- und
Hepatitisinfektionen. Es sei auch fraglich, ob Spritzentausch unter
drogenabhängigen Insassen wirklich verhindert oder vermindert werden
könne und ob Drogenabhängige zu Verhaltensänderungen in der Lage
seien.
Das Äquivalenzprinzip
Europarat und WHO haben schon im Jahr 1993 in verschiedenen
Resolutionen die Forderung aufgestellt, dass in Gefängnissen die gleichen
präventiven und schadensbegrenzenden Maßnahmen einzuführen
seien wie in der freien Gesellschaft, d. h., dass z. B. in jenen
Ländern, in welchen Drogenabhängigen Spritzen und Kondome zur
Verfügung gestellt werden, diese Maßnahmen auch im Gefängnis
einzuführen seien. Diese Forderung nach dem Äquivalenzprinzip,
d. h. der Gleichstellung schadensbegrenzender Maßnahmen aus
gesundheitspolitischer und ethischer Sicht innerhalb und außerhalb von
Gefängnissen, konnte der Spritzenabgabe als Teil eines schadenbegrenzenden
Angebots im Strafvollzug allerdings bis heute nirgendwo zum Durchbruch
verhelfen, war aber hilfreich bei der politischen Argumentation im Vorfeld
verschiedener geplanter und wissenschaftlich begleiteter Pilotprojekte
[11 ;13 ].
Spritzenabgabeprojekte in Europa und Südosteuropa
Spritzenabgabeprojekte in Europa und Südosteuropa
Schweiz
Weltweit erstmalig bewilligten die politischen Instanzen des
Kantons Solothurn 1992 offiziell die Abgabe steriler Spritzen an
drogenabhängige Insassen im Gefängnis von Oberschöngrün
durch den Gefängnisarzt Dr. Probst, anstelle diesen zu entlassen -
denn Dr. Probst hatte zuvor in seiner Sprechstunde regelmäßig
sterile Spritzen ohne Erlaubnis an Insassen abgegeben. Die offizielle Abgabe
steriler Spritzen im Gefängnis nahm so als „medizinischer
Ungehorsam” ihren Anfang [14 ]. 1994 folgte in den
Anstalten von Hindelbank (Kanton Bern) das erste wissenschaftlich begleitete
Präventionsprojekt mit der Abgabe steriler Spritzen via
1:1-Austauschautomaten [15 ]. Mit den Projekten in den
Gefängnissen von Realta (Kanton Graubünden) und Saxerriet (Kanton St.
Gallen) gab es noch zwei weitere wissenschaftlich begleitete
Spritzenabgabeprojekte in der Schweiz [9 ]
[16 ]. 1998 wurden die Gefängnisse Thorberg und Witzwil
im Kanton Bern per Dekret durch die Polizei- und Militärdirektion
verpflichtet, drogenabhängigen Insassen auf Verlangen sterile Spritzen zur
Verfügung zu stellen. Basis hierfür bildeten die positiven Ergebnisse
der Projekte in Hindelbank und Realta sowie ein Rechtsgutachten des
Schweizerischen Bundesamtes für Justiz, welches die Frage der
Verpflichtung von Vollzugsinstitutionen zur Abgabe von sterilen
Injektionsutensilien bejahte [17 ].
Deutschland
Nach schweizerischem Vorbild wurden in Niedersachsen im April bzw.
Juli 1996 in der JVA für Frauen in Vechta und in der JVA für
Männer in Lingen/Abt. Groß Hesepe die ersten Spritzenabgabeprojekte
eingeführt [18 ]
[19 ]. 1996
folgten Spritzenabgabeprojekte in einer Anstalt des offenen Vollzugs in Hamburg
[20 ] und zwei in Berlin [21 ]
sowie zwei weitere in Hamburg [22 ]. Alle Projekte wurden
wissenschaftlich begleitet. Unterschiede gab es vor allem in den Abgabemodi,
konzeptionellen Zielsetzungen, praktischen Umsetzungen sowie dem Einbezug und
der Rolle externer Gruppen [23 ]. Auf politischen
Beschluss hin wurden die drei Hamburger Projekte im Frühjahr 2002 wieder
eingestellt.
Spanien
In Spanien bestehen zurzeit in elf Gefängnissen
Spritzenaustauschprogramme. Das erste Pilotprojekt begann 1997 auf Beschluss
des baskischen Parlaments in der Nähe von Bilbao (Basauri). Ein zweites
Projekt folgte 1998 auf Weisung lokaler Instanzen in Pamplona. Nach der
positiven Evaluation der beiden Pilotprogramme wurden neun weitere Projekte
lanciert: zwei 1999, fünf im Jahr 2000 und zwei im Jahr 2001. Zwei weitere
Spritzenabgabeprojekte sollen im Sommer 2002 eingeführt werden. Im Juni
2001 erging eine Weisung des Generaldirektorats des spanischen
Justizvollzugssystems, wonach alle 68 Anstalten sukzessive
Spritzenvergabeprojekte einführen müssen [24 ].
Moldawien
Die HIV-Krise in Osteuropa hat in diesem Land dazu geführt,
pragmatische Wege zu gehen. In einem geschlossenen Gefängnis mit 800
erwachsenen Insassen in Moldawien existiert seit 1999 ein
Spritzenvergabeprojekt, das die Spritzenvergabe über Peers und durch die
medizinische Abteilung durchführt [25 ].
Gesamtübersicht
In Tab. [1 ] sind alle bisherigen
Spritzenabgabeprojekte und die wichtigsten Details zu den Projekten
aufgelistet. In der Schweiz, in Deutschland, Spanien und Moldawien wurden bis
heute offiziell in insgesamt 23 Gefängnissen Spritzen abgegeben.
Außer in den drei Hamburger Anstalten blieb die Spritzenabgabe auch nach
Abschluss des Modellversuchs als festes Angebot bestehen. Wissenschaftliche
Untersuchungen fanden in zwölf Gefängnissen statt.
Tab. 1 Spritzenabgabeprojekte in Gefängnissen in
Deutschland, Spanien, der Schweiz und
Moldawien
Gefängnis
Ort
Größe
Beginn
Geschlecht
Vollzugsform
Vergabeform
Evaluation
Oberschöngrün
Solothurn, Schweiz
75
1992
m
halboffen
Handabgabe
nein
Hindelbank
Hindelbank,
Schweiz
110
1994
f
geschlossen
Automat
ja
Champ
Dollon
Genf,
Schweiz
70
1996
m
& f
U-Haft
Handabgabe
nein
Lingen I
Groß
Hesepe, Deutschland
228
1996
m
geschlossen
Handabgabe
ja
Vechta
Vechta,
Deutschland
239
1996
f
geschlossen &
U-Haft
Automat
ja
Vierlande
Hamburg,
Deutschland
319
1996
m
offen
Automat Handabgabe
ja
Basauri[1 ]
Vizcaya,
Spanien
250
1997
m
halboffen
ja
Realta
Graubünden, Schweiz
100
1997
m
halboffen
Automat
ja
Lehrter
Straße
Berlin,
Deutschland
100
1998
m
geschlossen
Automat
ja
Lichtenberg
Berlin,
Deutschland
50
1998
f
geschlossen
Automat
ja
Thorberg
Krauchthal,
Schweiz
185
1998
m
geschlossen
Handabgabe
nein
Witzwil
Witzwil,
Schweiz
180
1998
m
halboffen
Handabgabe
nein
Am
Hasenberge
Hamburg,
Deutschland
494
2000
m
geschlossen
Handabgabe
ja
Hannöversand
Hamburg, Deutschland
46
2000
f
offen &
geschlossen
Handabgabe
ja
Saxerriet
Salez,
Schweiz
110
2000
m
offen
Automat
ja
Branesti
„No. 18”
Moldawien
800
1999
m
geschlossen
Handabgabe
nein
1 Inzwischen sind in elf
Gefängnissen in Spanien Spritzenumtauschprojekte eingeführt
worden.
Ergebnisse
Ergebnisse
Von insgesamt elf Projekten liegen heute wissenschaftlich
erhärtete Resultate der Spritzenabgabe vor. Von besonderem Interesse waren
bei den meisten Projekten folgende Fragen: Steigt der Drogenkonsum an? Wird
vermehrt intravenös konsumiert? Werden Spritzen missbräuchlich
verwendet? Werden die Spritzen ordentlich entsorgt? Nimmt der Tausch von
Spritzen unter drogenabhängigen Insassen ab? Verändert sich die
Prävalenz von HIV/AIDS und Hepatitis unter der Insassenpopulation?
In Tab. [2 ] sind die wichtigsten
Kerngrößen im Zusammenhang mit den zentralen Fragen aus
verschiedenen Forschungsprojekten nebeneinander dargestellt. Fazit: Keine der
im Vorfeld verschiedener Projekte erhobenen Befürchtungen hat sich bisher
bestätigt. Der Drogenkonsum stieg in keiner der untersuchten Anstalten an.
In Hindelbank und Realta nahm er über die Zeit sogar signifikant ab. Auch
der i. v.-Konsum stieg nirgendwo an. Es fand, mit wenigen Ausnahmen,
auch kein Wechsel von weniger risikobeladenen Konsumformen zum i.v-Konsum statt
(vgl. hierzu exemplarisch Abb. [1 ]). Es wurden
auch, mit ganz wenigen Ausnahmen, keine Neueinsteiger in den Drogenkonsum
beobachtet. Spritzen werden von den Insassen zum Konsum von Drogen bezogen.
Dies war in Hindelbank und Realta daran zu messen, dass der Bezug von Spritzen
signifikant anstieg, wenn Drogen vermehrt in der Anstalt verfügbar waren
(vgl. hierzu Abb. [2 ]). Der Bezug stieg auch nach
der Auszahlung des monatlichen Pekuliums (Arbeitsgeld) an sowie unmittelbar
nach dem Wochenende, wenn Drogen bekanntermaßen vermehrt in die Anstalt
gelangen. Die Akzeptanz der Spritzenabgabe durch die Insassen ist in
unterschiedlichen Vergabeformen (Hand-zu-Hand oder Austauschautomat) nicht
verschieden. Spritzentausch kam praktisch nicht mehr vor oder verharrte auf
tiefem Niveau und reduzierte sich auf Einzelfälle. Serokonversionen,
d. h. neue HIV- oder Hepatitisinfektionen, ließen sich in den
Anstalten mit entsprechender Untersuchung (Hindelbank, Vechta, Hamburg, Berlin)
in den Beobachtungszeiträumen nicht nachweisen. Alle Projektresultate
wurden den Publikationen zu den verschiedenen Projekten entnommen
[8 ]
[19 ]
[16 ]
[26 ;27 ].
Tab. 2 Resultate aus
wissenschaftlich untersuchten
Spritzenabgabeprojekten
Gefängnis
Drogenkonsum
i.-v.-Konsum
Missbrauch von Spritzen
Spritzenentsorgung
Spritzentausch
Prävalenz von HIV/Hepatitis
Am
Hasenberge
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
ohne
Untersuchung
Basauri3
kein Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
keine Information
ohne
Untersuchung
Hannöversand
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
ohne
Untersuchung
Hindelbank
Abnahme
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
kein
Anstieg
Lehrter Straße
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
kein
Anstieg[3 ]
Lichtenberg
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
kein
Anstieg
Lingen I
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
kein
Anstieg
Realta
Abnahme
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
Einzelfälle
ohne
Untersuchung
Saxerriet
keine
Aussage[1 ]
keine Aussage1
nie
unproblematisch
keine
Aussage1
ohne
Untersuchung
Vechta
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie
unproblematisch
stark vermindert
kein Anstieg
Vierlande
kein
Anstieg
kein
Anstieg
nie2
unproblematisch[2 ]
unverändert
ohne Untersuchung
1 Wissenschaftliche Auswertungen waren in
bestimmten Bereichen nur für die Untersuchung nach Beginn der
Spritzenabgabe möglich.
2 Am Anfang haben Insassen allerdings
vorübergehend als Reaktion auf Drogendurchsuchung beim Spritzenbezug
Automaten beschädigt und sterile Spritzen herumgestreut.
3 Es trat eine (vermutlich in der Anstalt
durch Infektion ausgelöste) Hepatitis-C-Serokonversion auf.
Abb. 1 Konsum vor und wÌhrend der Inhaftierung (GefÌngnis Realta/Schweiz). *) Ein Insasse, der i. v.-Drogenkonsum jemals im Leben, nicht aber im Monat vor der
Inhaftierung angegeben hat, nahm den i. v.-Drogenkonsum im GefÌngnis wieder auf.
Abb. 2 Sanktionen und Spritzenverbrauch, Hindelbank, 1994-1995.
Diskussion
Diskussion
Spritzenumtauschprojekte lassen sich - das haben die
bisherigen Erfahrungen gezeigt - ohne große Störungen in den
Arbeitsablauf einer Anstalt integrieren. Sie tangieren die Beziehungen zwischen
Vollzugsbediensteten, drogenabhängigen und nicht drogenabhängigen
Gefangenen, indem Drogenkonsum und Infektionsprophylaxe zum Dauerthema werden.
Das kann sich positiv auf das Konsumverhalten von Insassen auswirken. So konnte
in Hindelbank mittels Multivarianzanalyse aufgezeigt werden, dass Insassinnen,
die vor dem Gefängnisaufenthalt bereits Drogen konsumiert hatten, vermehrt
auf Drogenkonsum im Gefängnis verzichteten, je länger das Projekt
bereits in Hindelbank verankert war (40 % der Varianz des
Drogenkonsums ließen sich so erklären; Beobachtungszeitraum zwei
Jahre) [28 ].
Spritzenaustauschprojekte lassen Widersprüche im vollzuglichen
Umgang mit Drogenkonsum deutlicher hervortreten. Die Auseinandersetzung hiermit
vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen Kontrollauftrag und
gesundheitsorientierten Hilfeleistungen. Begleitende Präventions- und
Informationsangebote für die Bediensteten als auch für die
Inhaftierten tragen zur Verankerung und zum Erfolg der Infektionsprophylaxe in
den Anstaltsalltag bei. Idealerweise sind solche Angebote auf die jeweilige
Zielgruppe zugeschnitten und somit möglichst lebensweltnah. Angebote
externer Anbieter erscheinen dabei besonders sinnvoll, da diese
glaubwürdiger sind, eindeutigere Botschaften vermitteln und mehr
Verständnis für die Zielgruppe aufweisen. Auf diese Weise lassen sich
auch Präventions- und Vollzugsaufgaben am einfachsten voneinander trennen.
Werden Vollzugs-, Präventions- und gar Evaluationsaufgaben miteinander
vermischt (wie z. B. in Saxerriet versucht), muss mit erheblichen
Widerständen von allen Beteiligten gerechnet werden. In Saxerriet musste
so die Begleitevaluation wegen der Widerstände der Insassen und des
Personals (Bedenken hinsichtlich zugesicherter Anonymität) bereits vor
Ablauf des Projekts beendet werden [16 ].
Inwieweit schadensbegrenzende Projekte unter Einbezug der Abgabe von
sterilen Spritzen von den Häftlingen akzeptiert werden, hängt
wesentlich davon ab, in welchem Maße der Zugang zum Spritzenangebot von
ihnen als anonym wahrgenommen wird. Beim Spritzenumtausch Anonymität zu
gewährleisten ist im Gefängnis zwar schwierig, muss aber dennoch als
überaus wichtiges Anliegen wahrgenommen werden. Es bedarf klarer
Spielregeln im Verlauf eines Projekts, damit nicht Bedienstete Insassen, die
Spritzen beziehen, unmittelbar auf Drogen kontrollieren und Insassen nicht als
Reaktion darauf z. B. Automaten beschädigen und Spritzen in der
Anstalt verstreuen (so passiert im Gefängnis Vierlande in Hamburg)
[28 ].
Die Bediensteten akzeptieren den Spritzenumtausch umso mehr, je
besser ihnen die Projektziele vermittelt werden, je mehr sie in Planungs- und
Entscheidungsprozesse sowie in die Projektvorbereitung und
Projektdurchführung einbezogen sind. Gelingt es, auch Gefangene in diesen
Prozess einzubeziehen, z. B. Mitwirken von Insassen in einer
Projektbegleitgruppe, kann die Akzeptanz potenziert werden.
Der gemeinsame Gebrauch von Spritzen hat für
drogenabhängige Inhaftierte heute keine im Vordergrund stehende rituelle
Bedeutung mehr, sondern ist - dort wo Spritzentausch vorkommt -
vielmehr die Folge des Mangels an sterilen Spritzen. Die Spritzenabgabe in den
untersuchten Gefängnissen hat sich als wirksam dahingehend erwiesen, dass
Spritzentausch nicht mehr oder nur noch in Einzelfällen vorkommt oder
Spritzentausch auf ohnehin niedrigem Niveau verbleibt. Die außerhalb von
Gefängnissen gemachten Erfahrungen ließen sich somit, nicht
unerwartet, auch innerhalb von Gefängnissen bestätigen.
In allen Haftanstalten, in welchen diese Aspekte detailliert
untersucht wurden, erwies sich der Kenntnisstand zur HIV-Infektion als
erfreulich groß; über Hepatitisinfektionen und Hepatitisprophylaxe
war der Wissensstand der Inhaftierten (als auch der Bediensteten)
äußerst niedrig. Es drängen sich demnach das Bewusstsein
sensibilisierende Maßnahmen zur Prophylaxe von Hepatitisinfektionen im
Strafvollzug auf, und zwar sowohl Insassen als auch Bedienstete betreffend.
Angesichts der großen Verbreitung von Spritzengebrauch und
Drogenkonsum in europäischen Gefängnissen [22 ]
ist es aus schadensbegrenzenden Überlegungen in jeder Strafvollzugsanstalt
notwendig, Infektionsrisiken und Schutzmöglichkeiten zu thematisieren, was
nicht heißt, dass auch in jeder Anstalt unbedingt Spritzen ausgegeben
oder Spritzenautomaten aufgestellt werden müssen. Welche Maßnahmen
im Einzelnen zu ergreifen sind oder welche Form der Spritzenabgabe gewählt
wird (Handvergabe, Austauschautomat), hängt vom Bedarf, von den
Anstaltsstrukturen, den räumlichen Bedingungen der Anstalt und den
personellen Kapazitäten sowie von der Drogengebrauchskultur der Gefangenen
ab. So ist z. B. der intravenöse Drogenkonsum in Teilen Englands,
vor allem aber in den Niederlanden weitaus weniger verbreitet als etwa das
Sniffen oder das Rauchen. Demgemäß muss im Vollzug zuerst einmal der
Bedarf an sterilen Spritzen erkundet werden, bevor der Ruf nach Spritzenabgabe
laut wird, um nicht unter Umständen falsche Signale zu setzen. Werden aber
Spritzenautomaten eingesetzt, dann müssen hohe Anforderungen an deren
reibungslose Funktion gestellt werden - denn eine gebrauchte Spritze
einzugeben und keine neue Spritze zu erhalten, während man im Besitz von
Drogen ist, würde den Spritzentausch fördern anstatt ihn zu
verhindern.
Es wäre von großem Vorteil, über eine Checkliste zu
verfügen, die alle bisherigen Erfahrungen im Vorfeld der Einführung
eines Spritzenabgabeprojekts und während der Durchführung des
Projekts aufnimmt und daraus resultierende Empfehlungen, Handlungsanweisungen
oder Hinweise auf mögliche Schwierigkeiten, aber auch auf optimale
Voraussetzungen für zukünftige Projekte verfügbar macht.
Zehn Jahre Spritzenabgabe im Strafvollzug - und die Frage
bleibt unbeantwortet, wieso trotz der vielfältigen positiven Erfahrungen
aus verschiedenen Projekten die Spritzenabgabe in Strafvollzugseinrichtungen
noch immer so umstritten ist und Spritzenabgabe bisher nur in drei
europäischen Ländern und auch dort nur in vereinzelten Institutionen
zur Infektionsprophylaxe und Schadensbegrenzung im Zusammenhang mit dem Konsum
von illegalen Drogen eingeführt worden ist. Die Antwort dürfte nicht
im rationalen Bereich zu finden sein, auch wenn die bisherigen Projekte noch
einige Fragen bezüglich der Machbarkeit und Wirksamkeit der Spritzenabgabe
z. B. in großen Gefängnissen, in Gefängnissen in nicht
industrialisierten Ländern oder in Untersuchungsgefängnissen offen
lassen. Grundsätzliche Erfahrungen und Erkenntnisse über
Spritzenabgabe im Gefängnis, die eine flächendeckende Einführung
dieser Maßnahmen rechtfertigen ließen, gibt es ja in der
Zwischenzeit zur Genüge. Spritzenabgabe lässt sich nicht erzwingen.
Übergreifende politische Entscheide und Unterstützung sind
erforderlich, um der wirksamen Schadensbegrenzung im Strafvollzug zum
nötigen Durchbruch zu verhelfen. Wie sehr allgemeine politische und nicht
gesundheitspolitische Argumente die Diskussion beeinflussen, zeigt das
jüngste Beispiel eines politischen Populismus in Hamburg: Die neue
Mitte-Rechts-Koalition vereinbarte in ihrem Koalitionsvertrag vom 19.10.2001:
„In den Strafvollzugsanstalten werden zukünftig keine Spritzen mehr
ausgegeben. Den Süchtigen werden verstärkt ausstiegsorientierte
Hilfen, z. B. verbesserte Therapiemöglichkeiten, angeboten. Dies
schließt eine kontrollierte Substitution unter medizinischer Aufsicht
ein.” Und dies nach durchaus erfolgreichen, mehr als
fünfjährigen Bemühungen, wirkungsvolle Modelle der
Infektionsprophylaxe zu entwickeln, und ohne dazu zusätzliche Mittel
für das anvisierte Kontrollkonzept bereitzustellen [23 ].
Vielleicht ist die Entwicklung in Spanien, wo alle Gefängnisse
per Dekret oberster politischer Instanz angewiesen worden sind,
drogenabhängigen Gefangenen sterile Spritzen zur Verfügung zu
stellen, geeignet, eine Signalwirkung auch für andere Länder
auszulösen. Die Ergebnisse der jeweiligen begleitenden Forschungsprojekte
liegen noch nicht vor und werden mit großer Spannung erwartet.