Suchttherapie 2002; 3(S2): 107-111
DOI: 10.1055/s-2002-35253
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Behandlung substanzbezogener Störungen im Rahmen des AWMF-Leitlinien-Prozesses

Treatment of Substance Use Disorders within the AWMF Guideline ProcessLutz G. Schmidt1 , Markus Gastpar1
  • 1Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz
Further Information

Prof. Dr. Lutz G. Schmidt

Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz

Untere Zahlbacher Str. 8

55131 Mainz

Email: schmidt@psychiatrie.klinik.uni-mainz.de

Publication History

Publication Date:
19 November 2002 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) haben sich unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) mehrere Fachgesellschaften zusammengeschlossen, um evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen zu erstellen. Dabei sind die Erkenntnisse auf die besonderen Bedingungen des deutschen Suchthilfesystems zu übertragen, um den hohen Behandlungsstandard für Alkoholkranke zu erhalten. Der aktuelle Stand dieses Leitlinienprozesses wird berichtet.

#

Summary

A task force headed by the Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. (DG-Sucht) and the Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) has been constituted within the scope of the Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) to develop guidelines for substance- induced disorders compatible with criteria of evidence based medicine. Results of studies in the literature have to be applied to the German health service system for addicts to maintain high treatment standards as they are implemented in this country. The actual status of the process is reviewed.

#

Intuition und Standard

Ziel einer patientenorientierten Medizin sollte es sein, nach einem Standard zu einer bestimmten Fragestellung vorzugehen. Allerdings stößt die dieser Vorstellung verpflichtete Etablierung einer leitliniengestützten Versorgung oft auf vielfältige Widerstände. So kommen beispielsweise Bedenken auf, die standardisierte Medizin werde einer individuellen Betrachtung des einzelnen Patienten nicht gerecht. Außerdem ist eine vielfältig geäußerte Befürchtung, Leitlinien engten die ärztliche Autonomie ein, reglementierten den Arzt und könnten als Rationierungsinstrument missbraucht werden. Diesen Argumenten steht jedoch die Erfahrung gegenüber, dass der einzelne Arzt die Informationsflut über neue wissenschaftliche Erkenntnisse vielfach nicht mehr überblicken und kaum noch abschätzen kann, welches die bestverfügbare Medizin für seinen Patienten ist. Es geht vor allem also darum, durch Beschreibung guter Standards einer unbegründeten Abweichung von der bestverfügbaren Medizin entgegenzusteuern [1]. Hierfür sind der Einsatz des Instrumentariums der „evidence based medicine” (EbM) und der daraus abgeleiteten Leilinienorientierung ein unverzichtbares Mittel geworden.

Dabei bedeutet die Praxis der evidenzbasierten Medizin die Integration individueller Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. Mit individueller klinischer Expertise sind dabei das Können und die Urteilskraft gemeint, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben [2]. Dies heißt, dass das ärztliche Handeln bestimmt wird durch das individuelle Können und die Erfahrung sowie das Regelwissen. Auf der Basis der ärztlichen Erfahrung muss entschieden werden, wie das Regelwissen auf den konkreten individuellen Patienten und sein aktuelles Gesundheitsproblem anzuwenden ist. Als weiteres Element der evidenzbasierten Medizin ist in der Leitlinienerstellung auch die Patientenpräferenz in der konkreten Situation zu berücksichtigen. Die evidenzbasierte Versorgung unter Achtung des Gebots der informierten Patientenentscheidung ist damit anzustreben.

Unter diesem Gesichtspunkt liegt das Hauptproblem von Leitlinien nicht in ihrem konzeptuellen Ansatz, sondern in der Unterentwicklung klinisch bedeutsamer, die Versorgungsmöglichkeit angemessen abbildende Leitlinien. Beispielsweise hat die American Psychiatric Association (APA) bereits 1995 [3] eine entsprechende „Guideline” für Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen veröffentlicht, die sich nicht nur auf eine Konsensusevidenz, sondern auch auf metaanalytische Effekte der Suchtkrankenbehandlung stützt. Diese „Guideline” wurde jedoch erarbeitet mit Bezug auf das US-amerikanische Versorgungssystem und ist insofern nur begrenzt auf das deutsche Gesundheits- und Reha-System zu übertragen.

#

Beispiele aus der Suchtmedizin

#

„Qualifizierter Entzug/Entgiftung” bei Alkoholabhängigen

Während bis in die 80er-Jahre Alkoholkranke in der Regel lediglich körperlich entgiftet wurden, wurden sie seit Anfang der 90er-Jahre aufgrund der psychischen und sozialen Dimension ihrer Erkrankung und des in der Regel prozesshaften langwierigen Verlaufes ihrer Erkrankung multiprofessionell und interdisziplinär behandelt [4]. Ein solcher „Gesamtbehandlungsplan” enthält üblicherweise psychiatrische, psychotherapeutische, somatische und sozialtherapeutische Ansätze („Strukturqualität”). Weiterhin geht es im Sinne der „Prozessqualität” um Diagnostik und Therapie von a) Ethanolintoxikation und komplizierter Zustände („Entgiftung”); b) Entzugssyndrom, einfach oder kompliziert („Entzugsbehandlung”); c) Abhängigkeitssysndrom (vor allem psychische Abhängigkeit mit Einstellungs- und Verhaltensänderung; „Motivationsbehandlung”; d) Alkoholfolgeerkrankungen (psychische und körperliche Komorbidität, soziale Schäden).

Erfolgsindikatoren von qualifizierten Entzugsbehandlungen können sich im Sinne der „Ergebnisqualität” beziehen beispielsweise auf die Anzahl vollständig beendeter qualifizierter Entzüge (completer-rate), Komplikationen in der Behandlung (Abbrecher, Entzugkomplikationen), Vermittlungsrate in weiterführende Behandlungen (Kontakt mit Selbsthilfegruppen, Überweisung an Beratungsstellen, Fachärzte, Entwöhnungskliniken, Überwindung der Schnittstellenproblematik), die Abstinenzrate der nachuntersuchten Patienten oder die Ausgangsstichprobe, die berufliche Reintegration, die Frühberentung und die Mortalität.

In der Umsetzung des qualifizierten Entzugs besteht allerdings eine erhebliche Variabilität bezüglich der Therapieelemente und der Behandlungsdauer. Beispielsweise ist die in den Kliniken verwendete Entzugsmedikation nach Substanz, Dauer und Dosierungsschema erheblich unterschiedlich wie auch die Art der Anwendung psychiatrisch-psychotherapeutischer Maßnahmen (zur Herstellung einer aktuellen und anhaltenden Abstinenz als „motivierende Interventionen”, der Information und Aufklärung des Patienten über die Entwicklung des komplexen Krankheitsbildes der Alkoholkrankheit im Sinne der „Psychoedukation” oder Vermittlung einer spezifischen „Krankheitslehre”, der Verminderung belastender und körperlicher Symptome durch psychotherapeutische, pharmakologische, handlungs- und körperbezogene Maßnahmen oder der Verringerung sozialer Defizite in Familie und Beruf).

Der „qualifizierte Entzug” wird als eine Verbesserung der Versorgung der Abhängigkeitskranken angesehen, da damit die Zuweisungsrate in weiterführende Behandlungsangebote verbessert wird [5] [6]. Auch Mann [9] geht davon aus, dass die qualifizierte Entgiftung erfolgreich ist, da sie mehr Patienten in Therapie bringt und höhere Abstinenzraten erbringt als Kurzprogramme.

Unglücklicherweise drängen die Kostenträger in den letzten Jahren zunehmend auf Verkürzung der Krankenhausbehandlungszeiten (bis hin zu „7-Tage-Regelungen”). Empirische Arbeiten haben jedoch gezeigt, dass eine Verkürzung der Behandlungszeiten eher zu Drehtüreffekten führt; beispielsweise konnte Wickizer [7] nachweisen, dass für jeden Tag, der von den Kostenträgern erzwungenen verkürzten Behandlungsdauer die Wahrscheinlichkeit der vorzeitigen Wiederaufnahme innerhalb von 60 Tagen um 3,1 % steigt. Zwar ist das Konzept der qualifizierten Entzugsbehandlung nicht in die Neuregelung der Empfehlungsvereinbarung vom 4.5.2001 aufgenommen worden. Erfreulich ist aber, dass das Rahmenkonzept für die stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung alkoholkranker Menschen in NRW nunmehr verabschiedet worden ist, das dieses Behandlungskonzept auch seitens der Kostenträger als Regelbehandlung anerkennt. Auf der Basis des Anwendungsbereiches der Psych-PV wird darin von einer Behandlungsdauer bis zu drei Wochen ausgegangen. Allerdings sieht Kunze [8] in der Verknüpfung von (teil-)stationärer Krankenhausbehandlung mit der psychiatrischen Institutsambulanz wiederum einen Weg, die qualifizierte Suchtkrankenbehandlung mit schlankem Ressourcenverbrauch zu verbinden.

#

Sucht-Rehabilitation

Die stationäre Entwöhnungsbehandlung war lange Zeit das Kernstück der Therapie Alkoholabhängiger. Dabei finanzierten die Rentenversicherungsträger seit langem eine Standardbehandlungszeit von 6 Monaten. In den letzten Jahren legten neuere und kürzere gemeindenahe Therapiemodelle den Schluss nahe, dass vergleichbare Therapieresultate auch mit weniger Aufwand erreichbar sind [9]. Zudem hatten Daten der Evaluationsstudie von Küfner und Feuerlein (zit. bei [9]) aus den Fachkliniken unerwarteterweise ergeben, dass diejenigen Patienten, die nach gültigen Prognosekriterien die günstigste Prognose hatten, zugleich auch am längsten behandelt wurden. Andererseits hatte die Expertise von Sonntag und Künzel [10] ergeben, dass es einen eindeutigen positiven Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg gibt.

Die Regel „je länger, desto erfolgreicher” gilt jedoch nicht universell für das gesamte Spektrum möglicher Therapiezeiten. Vielmehr gehen Sonntag und Künzel [10] davon aus, dass es optimale Zeitfenster für Therapiefortschritte gibt, ohne dass jedoch eine empirisch abgesicherte Aussage über die Dauer gemacht werden könnte. Außerdem wird eingeschränkt, dass die Aussage zu optimalen Zeitfenstern für Gruppen von Patienten mit durchschnittlichen Störungsausprägungen (Schweregrad, Komorbidität und Veränderungsbereitschaft) gilt, für Gruppen mit spezifischen Charakteristika im besonderen Einzelfall können die optimalen Zeitfenster nach oben und unten variieren. (Beispielsweise gilt auch für die Behandlung von chronisch mehrfach beeinträchtigen Alkoholabhängigen [CMA], dass die besten Ergebnisse nach einer individuell angepassten Behandlungsdauer von 2-6 Monaten erzielt werden, wonach unter Berücksichtigung ökonomischer Interessen der Kostenträger ein „therapeutisches Zeitfenster” von 30-60 Tagen optimal zu sein scheint; [11]).

Eine weitere Expertise des Lehrstuhls Versorgungssystem Forschung der Humboldt-Universität zu Berlin geht davon aus, dass die Behandlungszeiten in der Suchtrehabilitation in der Bundesrepublik zwar deutlich länger sind als in den USA, dafür liegen die Erfolgsquoten (bezogen auf die absolute und relative Abstinenz bei Alkoholabhängigkeit) jedoch auch um 10-20 % höher [5].

Die die Entwöhnungsbehandlung tragenden Fachkliniken hatten gemäß des Grundgesundheits-Reformgesetzes und der Verpflichtung zur Qualitätssicherung (nach SBG V § 135-39) Instrumente des Qualitätsmanagements in der Sucht-Rehabilitation entwickelt. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das 5-Punkte-Programm der Rentenversicherung zur Qualitätssicherung, das FVS/DGMED-Konzept sowie das BUSS-Konzept, wofür eigens die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQuS) e. V. gegründet wurde. Entsprechend wird heute davon ausgegangen, dass die danach durchgeführten Entwöhnungsbehandlungen sich durchaus lohnen. Selbst wenn man annimmt, dass es mehr als einer Maßnahme bedarf, um den Reha-Erfolg zu erreichen, sind die Ausgaben für Entwöhnungsbehandlungen um ein Vielfaches geringer als die indirekten Kosten für die Frühberentung [5].

Die zurzeit vorliegende Datenlage kann allerdings auf dem Hintergrund der evidenzbasierten Medizin nicht befriedigen, da zur Verfügung stehende Studien kaum zur Bewertung der globalen oder differenziellen Wirksamkeit der therapeutischen Maßnahmen herangezogen werden können. Kritisiert werden „dominante Kriterien” (wie Haltequote, Konsumverhalten, gesundheitliche und psychische Situationen etc.); Kriterien der Erwerbsfähigkeit sind kaum berücksichtigt [5]. Auch zu Effektstärken einzelner Behandlungsstrategien sind kaum Ergebnisse zu finden. Deshalb wird es in Zukunft darum gehen, das therapeutische Setting zu optimieren, welches gleichermaßen ein Einflussfaktor auf das Behandlungsergebnis ist; immerhin können Verkürzungen der Therapiedauer durch eine optimale Gestaltung des Settings - zumindest teilweise - ausgeglichen werden [10].

#

Methodik der Entwicklung von Leitlinien

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) wurde vom Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Sondergutachten 1995 gebeten, die Entwicklung von „Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen” voranzutreiben und zu koordinieren. Nach einer ersten Leitlinien-Konferenz der AWMF am 4. Oktober 1995 in Frankfurt wurden 1997 „Leitlinien für Leitlinien” der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit der von beiden Institutionen gegründeten und getragenen Ärztlichen Zentralstelle für Qualitätssicherung (ÄZQ) herausgegeben. 1999 wurde durch die Selbstverwaltungskörperschaften im Gesundheitswesen (ÄZQ, Deutsche Krankenhausgesellschaft und Spitzenverbände der Krankenkassen) das „Deutsche Leitlinien-Clearingverfahren” etabliert. Inzwischen abgeschlossene Projekte sind Leitlinien zur Hypertonie, Tumorschmerz, Kreuzschmerz, Asthma-Bronchiale, Diabetes mellitus Typ II; in Arbeit sind Leitlinien zur koronaren Herzerkrankung, Herzinsuffizienz und Depression.

Seit Januar 2000 sind nach SGB V Leistungserbringer gesetzlich zu einer Berücksichtigung leitliniengestützter Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung (§ 137 Abs. 1) verpflichtet. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 wurde im § 137e SGB V ferner festgelegt, dass ein Koordinierungsausschluss - auf der Basis evidenzbasierter Leitlinien - Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens 10 Krankheiten pro Jahr, bei denen Hinweise auf unzureichende oder fehlerhafte oder übermäßige Versorgung bestehen und deren Beseitigung die Morbidität und Mortalität der Bevölkerung nachhaltig beeinflussen kann, beschließt.

Da nach § 137e die Kriterien für die Krankenkassen, Krankenhäuser und Vertragsärzte unmittelbar verbindlich sind, ist die Kostensicherung langfristig nur dann gegeben, wenn entsprechende Kriterien des Koordinierungsausschusses und die tragenden evidenzbasierten Leitlinien anerkannt sind.

Definitionsgemäß sind Leitlinien „systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen”. (Richtlinien hingegen bezeichnen Handlungsregeln einer gesetzlich, berufsrechtlich, standesrechtlich oder satzungsrechtlich legitimierten Institution, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen kann). Entsprechend sind Ziele von Leitlinien aus der Sicht von Körperschaften [11]: a) Sicherung, Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung; b) Vermeidung unnötiger medizinischer Maßnahmen und Kosten; c) Verminderung unerwünschter Qualitätsschwankungen; d) Information über notwendige/übliche Maßnahmen; e) Förderung der Einbeziehung der Patienten in ärztliche Entscheidungsprozesse.

Dabei ist die Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien gekennzeichnet durch a) die systematische Aufarbeitung und Zusammenstellung der besten verfügbaren Evidenz; b) Herleitung des in der Leitlinie empfohlenen Vorgehens aus der wissenschaftlichen Evidenz; c) die exakte Dokumentation des Zusammenhangs zwischen der jeweiligen Empfehlung und der dazugehörigen Evidenzstufe; d) die Auswahl der evidenzbasierten Schlüsselempfehlungen einer Leitlinie, die mithilfe formalisierter Konsentierungsverfahren erfolgt. Die Aussagekraft der den Leitlinienempfehlungen zugrunde liegenden Therapiestudien schlägt sich in verschiedenen Evidenzstärken nieder: Grad I ist gegeben bei Vorliegen von Metaanalysen von randomisierten klinischen Studien oder wenn wenigstens eine randomisierte kontrollierte Therapiestudie vorliegt; Grad II: bei Vorliegen mindestens einer gut kontrollierten (experimentell nichtrandomisierten) Studie (z. B. Kohortenstudie); Grad III: Vorliegen einer deskriptiven Studie (Vergleichs-, Korrelations- und Fallkontrollstudie); Grad IV: Vorliegen von Fallbeobachtungen; Grad V: bei Vorliegen von Expertenmeinungen.

Nach dem 3-Stufen-Prozess der Leitlinienentwicklung lassen sich drei Arten von Leitlinien abgrenzen [12]. Leitlinien der 1. Stufe werden von einer Expertengruppe erstellt, die im informellen Konsens eine Leitlinie erarbeitet, welche wiederum vom Vorstand einer Fachgesellschaft verabschiedet wird. Leitlinien der Stufe 2 beruhen auf einer formalen Konsensfindung, indem die vorhandenen Leitlinien der Stufe 1 in einem bewährten formalen Konsensusverfahren (Konsensus-Konferenz, Delphi-Konferenz, nominaler Gruppenprozess) beraten und verabschiedet werden. Leitlinien der Stufe 3 sind Leitlinien mit allen Elementen systematischer Entwicklung im Sinne einer systematischen Evidenzrecherche, wobei die Leitlinienentwicklung der zweiten Stufe um fünf Komponenten erweitert wird (Logik, Konsensus, „evidence based medicine”, Entscheidungsanalyse, „outcome”-Analyse; [13].

#

Derzeitiger Entwicklungsstand

In der 6. gemeinsamen Fachkonferenz „Qualitätssicherung” der Bundesärztekammer und der AWMF am 26. und 27. September 2001 in Köln wurde zusammengefasst, dass es eher zu wenig als zu viele Diagnose- und Therapieempfehlungen gibt. Zwar beruhten alle ärztlichen Leitlinien auf der „evidence based medicine”, die Evidenzgrade seien aber verschieden. Die fachliche Vervollständigung und interdisziplinäre Abstimmung der einzelnen Leitlinien sollte innerhalb der AWMF erfolgen. Dabei wird die Leitlinienentwicklung als permanenter Prozess angesehen. Außerdem sollen die ärztlichen Leitlinien die Grundlagen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung werden. Dafür muss die Implementierung von Leitlinien modellhaft erprobt werden. Es ist zu erwarten, dass nach Implementierung der evidenzbasierten Leitlinien in die Krankenversorgung die Medizin nicht billiger wird.

Gemäß der Homepage der AWMF hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) inzwischen 13 Leitlinien der Stufe 1 vorgelegt: acht zu Schmerzen (atypischer Gesichtsschmerz bis Fibromyalgie) und fünf zu Schizophrenie, Affektive Erkrankungen, Demenz, Angsterkrankungen und Essstörungen.

Vor diesem Hintergrund haben sich unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht e. V.) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) weitere 11 Gesellschaften und Berufsverbände zusammengefunden, um Leitlinien für substanzbezogene Störungen zu entwickeln. Die 1. Konsensuskonferenz wurde am 15.9.2000 in Extertal abgehalten. Dabei wurde das weitere Vorgehen festgelegt, Arbeitsgruppen gebildet, ein Redaktionskreis beschlossen und eine Gliederung der Empfehlungskapitel nach Frühintervention, Akut- und Postakutbehandlung (in Kurz- und Volltextversion) erarbeitet. Die 2. Konsensuskonferenz fand am 27.4.2001 in Frankfurt statt. Dabei wurde insbesondere auf die Problematik der Leitlinien nach § 137e SBGV abgehoben, der Expertenkreis erweitert sowie die Kapitelinhalte präzisiert. Insbesondere wurde als wichtiges Merkmal der weiteren Leitlinienentwicklung die Transparenz der Finanzierung unterstrichen. Zunächst wurde festgelegt, dass Konsensuskonferenzen nach dem Prinzip der sparsamen Wirtschaftsführung abzuhalten sind, wobei möglichst die Nähe zu Kongressen genutzt werden soll. Zusagen zur Kostenerstattung für Reisen und Unterkunft sowie für die späteren Druckkosten der Leitlinien liegen vor von der DG-Sucht, DGPPN und der Prof.-Dr.-Mathias-Gottschaldt-Stiftung.

Am 20.9.2001 wurde die erste Gesamtgliederung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Marion Caspers-Merk, durch Herrn Prof. Dr. Schmidt überbracht und erläutert.

Die 3. Konsensuskonferenz fand am 22.11.2001 während der Jahrestagung der DGPPN in Berlin statt; es wurde der Einbezug niedergelassener Ärzte „zum Mitlesen” beschlossen. Der Entwicklungsstand der Leitlinien wurde ferner auf einem Symposium der DGPPN dargestellt. Die 4. Konsensuskonferenz hat am 10.4.2002 in Berlin während des Jahreskongresses der DG-Sucht stattgefunden. Auch während des DG-Sucht-Kongresses wurde der aktuelle Stand der Leitlinienentwicklung auf einem eigenen Symposium dargestellt.

Derzeit besteht folgende Gliederung: Alkohol-bezogene Störungen, Opioid-bezogene Störungen, Cannabis-bezogene Störungen, Kokain- und Psychostimulanzien-bezogene Störungen, Tabak-bezogene Störungen, Medikamenten-bezogene Störungen (Sedativa und Hypnotika, Mischanalgetika).

#

Die Arbeitsgruppen setzen sich wie folgt zusammen:

#

Alkohol-bezogene Störungen:

Frühinterventionen: Autoren: Rist, Hapke, Demmel, Kremer, Klein, Richter, Schwantes, Rumpf. Akutbehandlung: Autoren: Mundle, Banger, Driessen, Mugele, Kunze, Schmidt, Schwoon, Seitz, Soyka, Stetter, Veltrup. Lesen: Cimander, Hutschenreuter, Mann, Kuhlmann, Peters, Schüder. Postakutbehandlung: Autoren: Geyer, Beutel, Funke, Hutschenreuter, Küfner, Müller-Fahrnow, Müller-Mohnssen, Soyka, Stetter, Veltrup, Wiesbeck.

#

Opioid-bezogene Störungen:

Frühintervention: Bühringer, Thomasius, Schulte-Markwort, Koch. Akutbehandlung: Reymann, Cimander, Gastpar, Hähnchen, Havemann-Reinecke, Köhler, Pöhlke, Tretter. Postakutbehandlung: Havemann-Reinecke, Cimander, Günthner, Küfner, Sarrazin, Schallast, Schneider, Tretter, Vollmer.

#

Cannabis-bezogene Störungen:

Bonnet, Tossmann, Gouzoulis-Mayfrank, Harries-Hedder, Kovar, Schneider.

#

Kokain- und Psychostimulanzien-bezogene Störungen:

Thomasius, Heinz, Gouzoulis-Mayfrank, Schütz.

#

Tabak-bezogene Störungen:

Batra, Schütz, Lindinger, Poetschke-Langer, Nowak, Jork.

#

Medikamenten-bezogene Störungen:

Poser, Böning, Hartkamp, Holzbach.

#

Ausblick

Der Lebenszyklus einer Leitlinie besteht in ihrer Entwicklung, der Implementierung in der Praxis, der Überprüfung der Praktikabilität des Einsatzes und der Verbesserung der Behandlungsergebnisse und schließlich in der Überarbeitung unter Bezug neuer Erkenntnisse aus der Forschung. Die in Arbeit befindlichen Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen sind höherstufig zu bewerten als die bereits vorliegenden DGPPN-Richtlinien zu psychiatrischen Störungen aufgrund ihrer interdisziplinären Abstimmung. Dabei steht der aktuelle Leitlinienprozess unter dem Druck gesellschaftspolitischer und gesundheitsökonomischer Vorgaben. Zu fordern ist, dass die Weiterentwicklung der Suchtkrankenbehandlung in Deutschland sein im internationalen Vergleich hohes Qualitätsniveau erhält.

Die aktuelle Versorgungspraxis scheint allerdings durchaus Entwicklungspotenziale zu enthalten, wie z. B. im Bereich der Frühintervention, der intensiveren Nutzung von rehabilitativen Ressourcen durch bisher nur unzulänglich erreichte Gruppen von Abhängigkeitskranken oder auch das Schnittstellen-Management von Entzug und Entwöhnung [13]. Empfohlen wird eine zunehmende Flexibilisierung und Individualisierung therapeutischer Ansätze anstelle der Verwendung starrer Regelungen (z. B. 6-Monats-Dogma, „7-Tage-Regelung”). Einheitstherapeutische Ansätze sollen durch störungs-, defizit- bzw. ressourcenspezifische Behandlungsmodule ersetzt werden [13]. Die verschiedenen Behandlungsformen müssen durchlässiger und vernetzter werden, was konkret bedeutet, dass man auch während eines Behandlungsprozesses von einer Organisationsform in eine andere wechseln kann und vice versa [13].

Gesamtwirtschaftliche Trends im Gesundheitswesen sollten nicht aus dem Auge verloren werden. So besteht die Befürchtung, dass Ressourcen für Disease-Management-Programme aus dem Risiko-Strukturausgleich genommen werden, die der Finanzierung des Suchthilfesystems entzogen werden könnten. Es bleibt zu bedenken, dass die aus der Krankheitsverleugnung sich ableitende Unfähigkeit Suchtkranker, sich oft nicht an Disease-Management-Programme halten zu können, ihnen nicht zum Nachteil ausgelegt werden dürfen (da diese gerade zum Kern und zur Natur von Suchterkrankungen gehört).

#

Literatur:

  • 1 Schmacke N. Leitlinienorientierung, evidenzbasierte Versorgung und Vertrauen in die Medizin: Voraussetzungen für die Entwicklung von strukturierten Behandlungsprogrammen. Beilage der AOK: Disease-Management-Programme in Rahmen der Reform des Risikostrukturausgleiches.  Dt. Ärztebl. im März 2002; 
  • 2 Sackett D L, Rosenberg W MC, Gray J A. et al . Evidence based medicine: What it is and what it isn’t.  Br. Med. J. 1996;  312 71-72
  • 3 Practice Guidelines der APA . Practice Guideline for the Treatment of Patients Wit Substance Use Disorders: Alcohol, Cocaine, Opoids.  Am. J. Psychiatry. 1995;  152 (11) Supplement
  • 4 Schmidt L G, Mundle G, Banger M. et al . Die „Qualifizierte Entgiftung Alkoholkranker” - Im Lichte der Entwicklung von Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen.  Z. ärztl. Fortbild. Qual.sich. (ZaeFQ). 2002;  96 295-300
  • 5 Müller-Fahrnow W. Sucht-Rehabilitation in Deutschland: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger Eine Expertise des Lehrstuhls Versorgungsforschung - Humboldt-Universität zu Berlin 2002
  • 6 Veltrup C. Behandlung von Alkoholabhängigen: Hilfen für selektive Indikationsentscheidungen.  Sucht aktuell. 2001;  1 24-28
  • 7 Wickizer T M, Lessler D. Do treatment restrictions imposed by utilization management increase the likelihood or readmission for psychiatric patients?.  Med Care. 1998;  36 (6) 844-850
  • 8 Kunze H. Die Kostensituation nach der Neuregelung der Empfehlungsvereinbarung. Mann K Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen Pabst Science Publishers 2002 (im Druck)
  • 9 Mann K F. Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen: von der Behandlungskette zum Behandlungsnetz.  Dt. Ärztebl. 2002;  99 A632-644
  • 10 Fleischmann H. Chronisch mehrfach beeinträchtigte Alkoholabhängige (CMA) und Alkoholkranke in Entwöhnungstherapie (EWT) - zwei unterschiedliche Gruppen Alkoholabhängiger im psychiatrischen Krankenhaus.  Sucht. 2001;  47 321-330
  • 11 Ollenschläger G. Leitlinien als Instrumentarium des Qualitätsmanagements und Evidence-based Medicine: Das Leitlinien-Clearingverfahren der Selbstverwaltungskörperschaften im Gesundheitswesen. Lauterbach, Schrappe Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine Stuttgart; Schattauer Verlag 2001: 478-479
  • 12 Kopp I, Encke A, Lorenz W. Leitlinien als Instrument der Qualitätssicherung in der Medizin. Bundesgesundheitsbl.-Gesundheitsforsch-.  Gesundheitsschutz. 2002;  45 223-233
  • 13 Müller W, Lorenz W. Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in der AWMF. Lauterbach, Schrappe Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine Stuttgart; Schattauer Verlag 472-478
  • 14 Sonntag D, Künzel J. Hat die Therapiedauer bei alkohol- und drogenabhängigen Patienten einen positiven Einfluß auf den Therapieerfolg?.  Sucht. 2000;  46 (Sonderheft 2) 89-176

Prof. Dr. Lutz G. Schmidt

Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz

Untere Zahlbacher Str. 8

55131 Mainz

Email: schmidt@psychiatrie.klinik.uni-mainz.de

#

Literatur:

  • 1 Schmacke N. Leitlinienorientierung, evidenzbasierte Versorgung und Vertrauen in die Medizin: Voraussetzungen für die Entwicklung von strukturierten Behandlungsprogrammen. Beilage der AOK: Disease-Management-Programme in Rahmen der Reform des Risikostrukturausgleiches.  Dt. Ärztebl. im März 2002; 
  • 2 Sackett D L, Rosenberg W MC, Gray J A. et al . Evidence based medicine: What it is and what it isn’t.  Br. Med. J. 1996;  312 71-72
  • 3 Practice Guidelines der APA . Practice Guideline for the Treatment of Patients Wit Substance Use Disorders: Alcohol, Cocaine, Opoids.  Am. J. Psychiatry. 1995;  152 (11) Supplement
  • 4 Schmidt L G, Mundle G, Banger M. et al . Die „Qualifizierte Entgiftung Alkoholkranker” - Im Lichte der Entwicklung von Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen.  Z. ärztl. Fortbild. Qual.sich. (ZaeFQ). 2002;  96 295-300
  • 5 Müller-Fahrnow W. Sucht-Rehabilitation in Deutschland: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger Eine Expertise des Lehrstuhls Versorgungsforschung - Humboldt-Universität zu Berlin 2002
  • 6 Veltrup C. Behandlung von Alkoholabhängigen: Hilfen für selektive Indikationsentscheidungen.  Sucht aktuell. 2001;  1 24-28
  • 7 Wickizer T M, Lessler D. Do treatment restrictions imposed by utilization management increase the likelihood or readmission for psychiatric patients?.  Med Care. 1998;  36 (6) 844-850
  • 8 Kunze H. Die Kostensituation nach der Neuregelung der Empfehlungsvereinbarung. Mann K Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen Pabst Science Publishers 2002 (im Druck)
  • 9 Mann K F. Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen: von der Behandlungskette zum Behandlungsnetz.  Dt. Ärztebl. 2002;  99 A632-644
  • 10 Fleischmann H. Chronisch mehrfach beeinträchtigte Alkoholabhängige (CMA) und Alkoholkranke in Entwöhnungstherapie (EWT) - zwei unterschiedliche Gruppen Alkoholabhängiger im psychiatrischen Krankenhaus.  Sucht. 2001;  47 321-330
  • 11 Ollenschläger G. Leitlinien als Instrumentarium des Qualitätsmanagements und Evidence-based Medicine: Das Leitlinien-Clearingverfahren der Selbstverwaltungskörperschaften im Gesundheitswesen. Lauterbach, Schrappe Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine Stuttgart; Schattauer Verlag 2001: 478-479
  • 12 Kopp I, Encke A, Lorenz W. Leitlinien als Instrument der Qualitätssicherung in der Medizin. Bundesgesundheitsbl.-Gesundheitsforsch-.  Gesundheitsschutz. 2002;  45 223-233
  • 13 Müller W, Lorenz W. Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in der AWMF. Lauterbach, Schrappe Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine Stuttgart; Schattauer Verlag 472-478
  • 14 Sonntag D, Künzel J. Hat die Therapiedauer bei alkohol- und drogenabhängigen Patienten einen positiven Einfluß auf den Therapieerfolg?.  Sucht. 2000;  46 (Sonderheft 2) 89-176

Prof. Dr. Lutz G. Schmidt

Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität Mainz

Untere Zahlbacher Str. 8

55131 Mainz

Email: schmidt@psychiatrie.klinik.uni-mainz.de