Pneumologie 2003; 57(6): 340-341
DOI: 10.1055/s-2003-40051
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Warum Geschichte der Pneumologie?

Why History of Pneumology?M.  Teschner1 , R.  Kropp (federführend)1 , U.  Costabel1 , H. S.  Fuchs1 , H.  Jungbluth1 , H. J.  Klippe1 , N.  Konietzko1 , R.  Loddenkemper1 , G.  Neumann1 , M.  Teschner1
  • 1Klinik für Thoraxchirurgie, Zentralkrankenhaus Bremen Ost
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Dr. med. Martin Teschner

Ltd. OA für Thoraxchirurgie, Gefäßchirurgie · Klinik für Thoraxchirurgie · Zentralkrankenhaus Bremen Ost

Züricher Str. 40

28325 Bremen

Publication History

Publication Date:
18 June 2003 (online)

Table of Contents

Die Gegenwart bietet einerseits in kontinuierlicher Abfolge, andererseits in periodischer Regelmäßigkeit Repetitionen des Vergangenen. Es wäre daher zu vermuten, dass das Wissen auf einer Summation erworbener Erkenntnisse basiert. Gerade die Medizin zeigt allerdings, dass im Gegenteil diese mathematische Logik eher außer Kraft gesetzt wird: Tatsächlich kann keine Rede von einer kontinuierlichen oder auch nur intermittierenden Summation sein, da innerhalb kurzer Zeitabläufe - erfahrungsgemäß während weniger Mediziner-Generationen - praktisches und theoretisches Wissen in großer Vielfalt verloren geht. Während sich der Zugewinn an empirischer Erfahrung aus einer willkürlichen Selektion von als relevant beurteilten Fakten und damit zwangsweise aus dem subjektiven Resultat von Addition und Subtraktion ergibt, führt der Wissensverlust die Wissenschaft an sich und den Anspruch an eine objektive Denkweise ad absurdum.

Damit stellt sich die Frage, warum die Halbwertzeit von Erfahrungen und Faktenwissen derart gering ist?

Einerseits ist während der letzten Jahrzehnte in den einzelnen Fachdisziplinen der Medizin ein rascher, zum Teil exponentiell steigender Zugewinn an neuen Erkenntnissen zu beobachten, die zu Recht zu einer Revision herkömmlicher Lehrmeinungen Anlass geben. Andererseits verleiten gerade neu entwickelte apparative Techniken zu einer Fehlbewertung im Sinne einer Überschätzung ihrer Möglichkeiten, während parallel hierzu frühere, vor allem auch klinische Verfahren unterschätzt werden und in Vergessenheit geraten.

Das Streben nach Aktualität im Rahmen einer zukunftweisenden Forschung bedeutet zweifellos die Grundlage für jeden Fortschritt, intendiert durch die Suche nach Verbesserung der Diagnostik und Therapie in der Medizin. Nicht selten ist der Drang nach Innovation jedoch mit einem gewissen Zwang verbunden, - aus welcher Intention auch immer - Neues zu entdecken. Sich mit der Vergangenheit zu befassen wird hingegen als mühsam und ineffektiv empfunden; gleichwohl bedeutet der Schritt zurück zum Ursprung das rationale Erkennen der Basis, und den Weg der Entwicklung zu verfolgen eine Chance zur summativen Wissensbildung und zur Erhaltung vorhandener Kenntnisse.

Die folgenden allgemeinen Gedanken sollen im Bereich der Pneumologie an der Tuberkulose exemplifiziert werden.

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Die Tuberkulose im historischen Kontext - Intentionen paläopathologischer Untersuchungen einer Erkrankung, deren Genese seit 120 Jahren bekannt ist

Die pandemische Verbreitung der Tuberkulose [1] konnte nach Isolation der Mykobakterien als Ursache der Erkrankung 1882 durch Robert Koch [2] trotz der seit 1994 begonnenen Entwicklung spezifischer antituberkulös wirksamer Chemotherapeutika mit hoher therapeutischer Effizienz [3] bis heute nicht verhindert werden [4]. Verantwortlich für diese Situation ist nicht das Therapieversagen der in Kombination verabreichten Antituberkulotika; im Vordergrund stehen ursächlich die inadäquate Anwendung der antituberkulotischen Therapie, die demografische Entwicklung mit Zunahme der Weltbevölkerung und Änderung der Altersstruktur, der Einfluss der HIV-Epidemie, die Auswirkungen von Migration und Bevölkerungsbewegungen, die Armut vieler Länder und genetische Faktoren [5] [6].

Mit dem Wissen um die Effizienz der antituberkulösen Chemotherapie stellt sich die Frage, welchen Sinn die Analyse und Re-Evaluation von urhistorischen und altgeschichtlichen Reminiszenzen bei einer Erkrankung macht, deren Ätiologie, Pathogenese und Therapie längst bekannt sind. Historische Erkenntnisse werden nicht selten als antiquiert angesehen und spielen - so eine weitverbreitete Meinung [7] - in der modernen medizinischen Forschung keine Rolle.

Sicherlich bedeutet die umfassende Kenntnis der Pathogenese, Epidemiologie, Pathologie und Klinik einer Erkrankung prinzipiell die Rationale der „Evidence based medicine” [8]; insofern könnte die geschichtliche Entwicklung als unbedeutend für die aktuelle Diagnostik und Therapie bewertet werden. Die Beurteilung des Erfolges oder Misserfolges der diagnostischen und therapeutischen Anstrengungen benötigt neben dem aktuellen Standard jedoch einen historischen Bezugspunkt. Eine Reflektion kann nur dann auf einer fundierten Basis stattfinden, wenn durch diesen Fixpunkt die maximale zeitliche Distanz zwischen Ursprung und gegenwärtigem Stand der Dinge markiert werden kann; je größer diese Variable ist, desto (selbst-)kritischer kann die Validität dessen beurteilt werden, was als „State of the Art” zur klinischen Anwendung kommt; nur dann ist der Versuch einer Qualitätssicherung von Diagnostik und Therapie sinnvoll. Die (subjektiv forcierte) Relevanz aktuell diskutierter Fragen - unabhängig des Themenbereiches - muss dann relativiert werden, wenn der historische Kontext Berücksichtigung findet. Es scheint banal festzustellen, dass die Bedeutung des jetzigen Seins und Handelns vom Individuum im Allgemeinen und von den politisch Verantwortlichen eines Sozialkollektivs im Speziellen überschätzt wird. Eine postprozessuale Reflektion in der modernen Medizin anzustreben ist jedoch alles andere als banal; sie erfordert Erfahrung, kritische Distanz und eine Bilanz im Spiegel der Zeit.

Die Tuberkulosesituation heute ist ein klassisches Beispiel eines fokal erkannten und punktuell behandelten, aber global ungelösten Problems. Zweifellos ist die Entwicklung neuer Chemotherapeutika sinnvoll, um einer zunehmenden Resistenzentwicklung begegnen zu können; andererseits bleibt diese Forschung aber auf längere Sicht auch in den hochtechnisierten Ländern ohne Sinn, wenn Faktoren wie mangelhafter Hygienestatus, fehlende medizinische Versorgung oder inadäquate antituberkulöse Therapie, welche die endemische Infektsituation unterhalten, nicht weltweit beseitigt werden. Da diese kausalen Zusammenhänge allseits transparent und bekannt sind, drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit überhaupt die Intention besteht, diese Probleme zu lösen. Hierzu ist eine distanzierte Analyse sowohl der medizinischen und gesundheitspolitischen Kernkompetenzen als auch der teils interdependenten, teils divergenten ökonomischen und bevölkerungspolitischen Firmen- und Länderinteressen erforderlich. Angesichts der Inzidenz und Mortalität ist darüber hinaus eine kritische medizinisch orientierte Bilanz über den Umgang mit einer Krankheit angezeigt, die bereits vor Jahren als eradiziert angesehen wurde [9]. Ohne Zweifel müssen hierzu die Grenzen der reinen Wissenschaftsgeschichte der akademischen Medizin überschritten werden und auch politische, soziale und kulturhistorische Aspekte des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit analysiert und in bezug auf die aktuellen kontextuellen gesundheitspolitischen Dimensionen immer wieder neu diskutiert werden [10] [11].

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nur gerechtfertigt, sondern erforderlich, zur Grundlage dieser Diskussion beizutragen und den Ursprüngen der Entwicklung der „Weißen Pest” anhand medizinhistorischer Quellenanalysen nachzugehen.

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Literatur

  • 1 Hauer B, Loddenkamper R. Epidemiologie (Teil 1). In: Konietzko N, Loddenkemper R. Tuberkulose. Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 24
  • 2 Koch R. Die Ätiologie und die Bekämpfung der Tuberkulose. In: Klassiker der Medizin, Bd. 19. Leipzig: J.A. Barth Verlag 1912: 11
  • 3 Kropp R, Siemon G. Therapie der Tuberkulose. In: Konietzko N, Loddenkemper. Tuberkulose. Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 106
  • 4 Dolin P J, Raviglione M C, Kochi A. Global tuberculosis incidence and mortality during 1990 - 2000.  Bull WHO. 1994;  72 213-220
  • 5 Maher D, Kochi A. Combating tuberculosis. A global view of tuberculosis and ways to fight this treatment disease.  RT International. 1997;  110 80-81
  • 6 Kaufmann S HE. Die Immunantwort gegen die Tuberkulose. In: Konietzko N, Loddenkemper R. Tuberkulose . Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 74-75
  • 7 Bergdoldt K. Warum Medizingeschichte?.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95 31-34
  • 8 Rosenberg W M, Sackett D L. On the need for evidence-based medicine.  Therapie. 1996;  51 212-217
  • 9 Daniel A. Abschied von der Tuberkulose. Münster: LVA Westfalen 1989
  • 10 http://www.medgesch.uni-hd/inst_medgesch01.htm
  • 11 Bartmann K. Gedanken zu Gewinn und Wandel von Wissen in der Humanmedizin.  Prax Klein Pneumol. 1987;  41 467-473
  • 12 Bartmann K. Kritik der Ursachenforschung bei Infektionskrankheiten. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 2001

Dr. med. Martin Teschner

Ltd. OA für Thoraxchirurgie, Gefäßchirurgie · Klinik für Thoraxchirurgie · Zentralkrankenhaus Bremen Ost

Züricher Str. 40

28325 Bremen

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Literatur

  • 1 Hauer B, Loddenkamper R. Epidemiologie (Teil 1). In: Konietzko N, Loddenkemper R. Tuberkulose. Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 24
  • 2 Koch R. Die Ätiologie und die Bekämpfung der Tuberkulose. In: Klassiker der Medizin, Bd. 19. Leipzig: J.A. Barth Verlag 1912: 11
  • 3 Kropp R, Siemon G. Therapie der Tuberkulose. In: Konietzko N, Loddenkemper. Tuberkulose. Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 106
  • 4 Dolin P J, Raviglione M C, Kochi A. Global tuberculosis incidence and mortality during 1990 - 2000.  Bull WHO. 1994;  72 213-220
  • 5 Maher D, Kochi A. Combating tuberculosis. A global view of tuberculosis and ways to fight this treatment disease.  RT International. 1997;  110 80-81
  • 6 Kaufmann S HE. Die Immunantwort gegen die Tuberkulose. In: Konietzko N, Loddenkemper R. Tuberkulose . Stuttgart: G. Thieme Verlag 1999: 74-75
  • 7 Bergdoldt K. Warum Medizingeschichte?.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95 31-34
  • 8 Rosenberg W M, Sackett D L. On the need for evidence-based medicine.  Therapie. 1996;  51 212-217
  • 9 Daniel A. Abschied von der Tuberkulose. Münster: LVA Westfalen 1989
  • 10 http://www.medgesch.uni-hd/inst_medgesch01.htm
  • 11 Bartmann K. Gedanken zu Gewinn und Wandel von Wissen in der Humanmedizin.  Prax Klein Pneumol. 1987;  41 467-473
  • 12 Bartmann K. Kritik der Ursachenforschung bei Infektionskrankheiten. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH 2001

Dr. med. Martin Teschner

Ltd. OA für Thoraxchirurgie, Gefäßchirurgie · Klinik für Thoraxchirurgie · Zentralkrankenhaus Bremen Ost

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