Allgemeine Homöopathische Zeitung 2003; 248(5): 267-268
DOI: 10.1055/s-2003-41957
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & CO. KG

Dr. med. Georg von Keller (1919-2003)

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Publication Date:
16 September 2003 (online)

In den frühen Morgenstunden des Pfingstsonntags, am 8. 6. 2003, erlosch in Tübingen nach dreimonatiger, im Zeichen eines apoplektischen Insults stehender Krankheit das Leben des um die Homöopathie außerordentlich verdienten Kollegen Georg von Keller.

Hans Georg Alexander von Keller wurde am 30. 4. 1919 gegen Mitternacht in Potsdam als zweites Kind der Familie geboren. Seine Eltern, Albert Wilhelm Alexander von Keller (1881-1932) aus Ebersbach/Oberlausitz, der im Ersten Weltkrieg dem Generalstab angehörte und dessen Frau Hildegard von Römer (1884-1962) aus Nausitz zogen nach vorübergehender Station in Meißen bald nach Dresden. Dort wuchsen Georg von Keller, der die Schule bis 1937 besuchte sowie seine Geschwister Wiltraud, Heinrich und Brigitte auf. Von 1938-1943 studierte er Medizin in Berlin, Kiel, Innsbruck und schließlich Tübingen, wo er das Staatsexamen ablegte und 1943 mit der Dissertation „Staroperationen der Tübinger Augenklinik in den Jahren 1938-1940” auch promovierte. 1944 wurde er zum Militärdienst eingezogen und war in Marine-Lazaretten sowie als Arzt auf einem U-Boot tätig. Hier fand er reichlich Zeit zur Einarbeitung in die Homöopathie, wobei ihm Standardwerke von Jahr, Nash und Royal zur Seite standen. Nach kurzer Internierung in Dänemark kam er in britische Kriegsgefangenschaft - zunächst nach Schottland und später nach Plymouth. Während einer Ruhrepidemie unter den Lagerinsassen erregte sein homöopathisches Behandlungsgeschick solches Aufsehen, dass sich ihm auch die englischen Offiziere anvertrauten. Anhaltende Erfolge sorgten dafür, dass ihm nach Beendigung der Gefangenschaft sogar die Niederlassungsmöglichkeit in Plymouth angeboten wurde. Diese Offerte schlug er jedoch aus und kehrte nach Deutschland zurück, wo er für zwei Jahre in Stuttgart in Abteilungen für Dermatologie und Innere Medizin arbeitete. 1949 bewarb er sich erfolgreich auf eine gut dotierte Stelle als Landarzt, die von einer durch den Schah gegründeten Einrichtung ausgeschrieben worden war. Sie führte Keller in ein hoch gelegenes Gebirgstal Persiens, dessen Bewohner noch nie einem Arzt begegnet waren. Kindbettfieber, Malaria, Milzbrand, Paratyphus und Pocken zählten zu den gefährlichen Erkrankungen, die er wie auch alle anderen mit homöopathischen Arzneien, vorwiegend in C30 aus dem Hause Schwabe, behandelte. Nach wenigen Monaten sprach er genügend persisch, um ohne Dolmetscherhilfe praktizieren zu können. Im Laufe des Jahres 1953 endete seine Auslandstätigkeit und er setzte seine Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin am Städtischen Krankenhaus in Waiblingen bis 1958 fort. Zwecks Aufnahme in den DZVhÄ musste er sich einer Prüfung bei Julius Mezger (1891-1976) stellen, der ihn über Fluoricum acidum examinierte. Nach 63 Bewerbungen schuf die für die Niederlassung zuständige Kommission ihm eine spezielle Stelle für Homöopathie in Tübingen, so dass er sich 1959 in der Mühlstraße 3 niederlassen konnte. Dort wirkte er bis zum 21. 2. 2003 für eine große Klientel, zu der auch Gastarbeiter zählten, derentwegen er eigens Türkisch gelernt hatte.

Georg von Keller war in erster Ehe, geschlossen 1949, mit Hildegard Goser (1927-1957) verheiratet und in zweiter ab 1961 mit der aus Breslau stammenden Kinderärztin Katharina Auguste Charlotte von Garnier (1926-1980). Aus letzterer Verbindung gingen die Kinder Juliane, Thomas und Johannes von Keller hervor.

Seine Beisetzung fand an einem warmen Spätfrühlingstag statt, am 17. Juni auf dem Bergfriedhof in Tübingen im Kreise seiner Angehörigen, Patienten und weniger Kollegen.

Kellers Verdienste begannen mit der Übersetzung des Kent'schen Repertoriums (1960-1962), setzten sich in zahlreichen Beiträgen zu deutschen Periodika, denen bis 1990 nicht selten Vorträge zugrunde lagen, einschließlich deren Übersetzungen für amerikanische, englische, holländische und schwedische Zeitschriften fort und erreichten ihren Höhepunkt mit der Veröffentlichung der „Symptomensammlung homöopathischer Arzneimittel”, von denen zwischen 1973 (Kreosotum) und 1987 (Kalium carbonicum) 14 Bände erschienen sind. Mit deren Abfassung hatte er als erster die Notwendigkeit erkannt, die unvollständige und fehlerhafte Materia medica homoeopathica auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen, was sowohl durch die Einarbeitung aller vorhandenen Prüfungen eines jeweiligen Mittels erfolgte als auch durch die Aufnahme klinischer Erfahrungen, wie sie den eigenen sowie veröffentlichten Kasuistiken zu entnehmen waren. Um dabei einer Vollständigkeit immer näher zu kommen, erweiterte er seinen Literaturbestand kontinuierlich und unternahm zu diesem Zweck ausdehnte Reisen, die ihn vorwiegend in amerikanische Bibliotheken führten, wo er Periodika sichtete und kopierte.

Für Georg von Keller bedeutete Homöopathie in erster Linie Praxis. Erörterungen von Grundlagen- oder Methodikfragen besaßen für ihn wenig Anreiz. Auch stand er der Lehre skeptisch gegenüber. Man müsse praktizieren und Materia medica studieren, dann würden sich die Resultate schon einstellen - und hier trifft man auf eine andere seiner großen Leistungen, nämlich den Vergleich der Patientensymptomatik mit dem Originalwortlaut der Prüfungen. Um sein Ohr für die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten der Patienten für gleiche Sachverhalte zu schärfen und diese in den Berichten der Prüfer wiederzuerkennen, zeichnete er über Jahre die Konsultationsgespräche per Tonband auf und spielte sie sich immer wieder vor. Man habe die Prüfungen immer wieder zu studieren, um entsprechende Symptome beim Patienten überhaupt erst wahrzunehmen, lautete eine seiner bemerkenswerten Aussagen - es wird nur das erkannt, was man bereits kennt. In seiner Tübinger Praxis verwandte er von Anfang an ausschließlich Q-Potenzen, für die er zusammen mit einem ortsansässigen Apotheker eine entsprechende Abgabeform entwickelte. Für seine Verdienste um die Homöopathie wurde Keller 1987 mit dem Prof. Alfons Stiegel-Preis ausgezeichnet.

Bescheidenheit, Beständigkeit und gelassene Gestimmtheit zeichneten ihn ebenso aus wie beträchtliche Arbeitsleistungen. So schlief er nachts nur wenige Stunden und tags in gelegentlichen fünfminütigen Abschnitten, um sich den Aufgaben der Forschung, für die ihm nie öffentliche Hilfsmittel zuflossen, und der Praxis eingehend widmen zu können. Seine Hilfsbereitschaft, vorwiegend in Sachen homöopathischer Literatur, kannte keine Grenzen.

Im Frühling vor 25 Jahren hatte der Verfasser erstmals Gelegenheit, mit ihm zusammenzutreffen. Wenngleich überwältigt vom Anblick Kellers monumentaler Bibliothek, veranlasste ihn dennoch jugendlicher Vorwitz zu der Frage, ob er denn eine solche Literaturfülle auch bewältigt habe und dies etwa durch Vorlegen einer exzellenten Literaturkasuistik von Niccolum demonstrieren könne. Seelenruhig öffnete Keller sein handschriftliches Kasuistikenverzeichnis, griff einen alten amerikanischen Zeitschriftenband heraus und präsentierte nach weniger als zwei Minuten einen auch deshalb glänzenden Niccolum-Fall, übrigens aus der Feder von Edward William Berridge (1844-1920), weil nicht nur die Heilung nach der Einzeldosis der 200. Potenz rasch und vollständig eingetreten, sondern auch die Mittelwahl genau nachvollziehbar war. Kellers Kommentar dazu lautete: „Wenn Sie ernsthaft Homöopathie ausüben wollen, dann benötigen Sie auch eine solche Bibliothek.” Dieser Wink aber war lediglich der Anfang einer Fülle dankenswerter Hilfeleistungen, die ihm Keller über viele Jahre hinweg zukommen ließ.

Mit Georg von Keller, dessen Leben der Homöopathie galt, verlor sie einen herausragenden Vertreter der alten Garde. Wird die zeitgenössische Kollegenschaft seine dankenswerte Pioniertat aufgreifen und mit vereinten Kräften die Materia medica homoeopathica in sachgemäßer Weise aufarbeiten?

Dr. med. Klaus-Henning Gypser

D-56653 Glees

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