Suchttherapie 2003; 4(3): 147-149
DOI: 10.1055/s-2003-42227
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

... eigentlich bin ich clean

... actually I am cleanUwe Täubler1
  • 1Hamburg
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Uwe Täubler

Ambulante psychosoziale Betreuung/Therapie für Substituierte

Palette Bartelsstr. 12

20357 Hamburg

Email: uwe.taeubler@palette-hamburg.de

Publication History

Publication Date:
22 September 2003 (online)

Table of Contents #

Einleitung

Die Vorstellung von absoluter Drogenfreiheit ist als Therapieziel bei vielen Drogenabhängigen ein verinnerlichter Wunsch. Die Vorstellung, clean zu leben, ohne Drogen ein selbstbestimmtes Leben führen zu können und endlich geheilt zu sein, entspricht der Idee normal, unauffällig und in die gesellschaftliche Werte- und Normenhierarchie wiederaufgenommen zu sein. Dieser Wunsch begegnet uns auch in der ambulanten psychosozialen Therapie mit Substituierten. Langzeit- und schwerstabhängige Klienten mit einer manifesten Opiatabhängigkeit formulieren in aller Regel die Erlangung der Drogenfreiheit als subjektives Therapieziel. Was aber meint die Klientel konkret damit? Ist das Ziel der Drogenfreiheit wirklich realistisch? Welche subjektiven Ziele sind gegebenenfalls genauso wichtig oder nachhaltiger? Im folgenden Beitrag soll anhand eines Fallbeispiels diesen Fragen nachgegangen werden.

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Kasuistik

Der Klient (hier Günther genannt) war 44 Jahre alt, als er im Juni 2001 in die ambulante psychosoziale Therapie für Substituierte kam. Er erschien gemeinsam mit seiner Partnerin zum Erstgespräch. Die Beziehung bestand seit acht Jahren, beide lebten in einer gemeinsamen Wohnung. Seine Partnerin war der einzige bestehende drogenfreie Kontakt. Günther war erwerbslos und aufgrund von Opiatabhängigkeit und leichten Depressionen krankgeschrieben. Ferner erfuhr ich, dass er einen Hauptschulabschluss besaß, keinen Beruf erlernt, aber verschiedene Tätigkeiten ausgeübt hatte. Er verfügt(e) über vielfältige Freizeitinteressen, vor allem im sportlichen und kreativen Bereich.

Der Klient hatte zum Zeitpunkt des Erstkontakts (Beratungsgespräch) einen wöchentlichen Konsum von 3 g Heroin und dieselbe Menge an Kokain, täglich konsumierte er bis zu 3 g Crack sowie 2 bis 3 g Cannabis. Eine bestehende Substitutionsbehandlung mit 18,5 ml L-Polamidon und zusätzlich 12 Tabletten à 2 mg Benzodiazepin waren ärztlicherseits die medikamentöse Regelversorgung. Zusätzlich versorgte er sich mit bis zu 20 Tabletten à 2 mg Benzodiazepin auf dem Schwarzmarkt.

Aus der Suchtanamnese geht hervor, dass er erstmalig mit 13 Jahren Cannabis- und Alkoholerfahrungen gemacht hatte und drei Jahre später i. v. Heroin konsumierte. Zwischen dem 13. und dem 44. Lebensjahr hat der Klient, bis auf Barbiturate und XTC, alle Drogen ausprobiert. Erste Erfahrungen mit Kokain hatte er mit 35 Jahren. Sein polyvalenter Suchtmittelkonsum führte Günther mit 36 Jahren erstmalig in ein Substitutionsprogramm (32 ml L-Polamidon). Weitere 3 Jahre später (er war jetzt 39 Jahre alt) kam der exzessive Crackgebrauch hinzu. Während seiner knapp 30-jährigen Abhängigkeit hat er 15 stationäre Entgiftungen und unzählige Selbstentzüge hinter sich gebracht. Dreimal hat er stationäre Langzeittherapien beenden können, einen Therapieversuch hat er abgebrochen. Beim Erstgespräch gab er an, von den 8 Jahren Substitution vier Jahre ohne ambulante Therapie verbracht zu haben.

Betrachte ich aus heutiger Sicht den Prozessverlauf des Klienten, so komme ich zu folgender Beschreibung: Am Anfang stand die Klärung des Arbeitsauftrages und des Arbeitsbündnisses im Vordergrund der therapeutischen Arbeit. Was ist an Ressourcen vorhanden, welche Vorstellungen hat der Klient von ambulanter Therapie, welche Ziele kann er formulieren und gibt es erste Hypothesen zum Suchtverständnis? Nach vier Sitzungen erfolgte das erste Resümee, die Grundlagen der Zusammenarbeit wurden hier thematisiert und das Arbeitsbündnis auch formal festgelegt. Als Auftrag für die ambulante psychosoziale Therapie wurden die Lösungen von Paarproblemen, die Reintegration ins Erwerbsleben, die Steigerung der Freizeitaktivitäten und die Suchtmittelfreiheit genannt.

Besonders die Anfangszeit galt der Beziehungsbildung, sie ist die Basis der therapeutischen Arbeit, ist zeitlich besonders intensiv und beginnt mit dem ersten Kontakt.

Bei Günther ging es am Anfang in erster Linie um Probleme mit dem Rentenversicherungsträger und verschiedenen Gläubigern. Die unmittelbare Lösung oder Erleichterung seiner sozialrechtlichen Probleme sowie seiner Schuldensituation insgesamt waren hilfreich, um die materiellen Grundlagen wiederherzustellen. Nachdem diese Probleme angegangen waren, konnte er sich wieder intensiver auf die Einzelgespräche einlassen. Von hier an waren das Konsumverhalten und dessen Funktion zentrales Thema der ambulanten Therapie. Diesen Prozess begannen wir ungefähr mit Beginn des dritten Monats. Wann und in welchen Situationen konsumiert der Klient welche Drogen? Was erwartet er vom Konsum dieser Drogen, welche Psychodynamik entsteht vor, während und nach dem Konsum? Was betrachtet er als Gewinn vom Rausch? Sieht er Gefahren beim Parallelkonsum unterschiedlicher Substanzen und wie ist sein konkreter Umgang damit? Welche Motivation besteht, um sein Ziel der Drogenfreiheit zu erreichen, und welche Teilziele müssen dabei beachtet werden? Im Verlauf der Therapie ging es um die Wahrnehmung der eigenen Ressourcen und die subjektiven Veränderungsoptionen. Günther hat sein anfänglich doch sehr abstraktes Ziel der Suchtmittelunabhängigkeit neu definiert. Der Weg war das Ziel und damit auch die Einsicht der Prozesshaftigkeit von Veränderung. Die Veränderung der Zielhierarchie hat der Klient als äußerst entlastend wahrgenommen. Zumindest in der Therapie musste er sich nicht dafür entschuldigen, dass er Drogenkonsument ist und dass er unterschiedliche Drogen parallel konsumiert. Stattdessen hat er sich die Reduktion des Beikonsums als Ziel gesteckt. Durch die Übernahme erreichbarer Therapieziele wurde die Motivation gesteigert, die Lebenssituation unmittelbar zu verbessern. Diese „kleinen” Veränderungen haben deshalb eine Doppelfunktion im Ergebnis und im Selbstwirksamkeitserleben. Vermehrte Einflussnahme und Steuerung des Drogenkonsums führten dazu, die Rückfälle oder den Beikonsum als Vorfälle zu deuten, die grundsätzlich lehrreich sind. Günther ist es gelungen, die Funktion des (Bei-)Konsums zu problematisieren und zu erkennen. Damit ist der Drogenkonsum weitgehend entmystifiziert und auf die stabilisierende Funktion des (Bei-)Konsums konnte therapeutisch eingewirkt werden. Für ihn hatte der (Bei-)Konsum unterschiedliche zum Teil sich widersprechende Funktionen, u. a. Libidoaktivierung, Umgang mit Aggressionen, Antriebsschwäche, Freizeitgestaltung, soziale Kontakte. Zehn Monate nach dem Erstgespräch entschließt sich Günther, vom Beikonsum mit Benzodiazepinen zu entziehen oder diesen zu reduzieren. Er will substituiert bleiben. Günther benötigt zwei Monate, um benzodiazepinfrei aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Noch in der Entzugsstation thematisiere ich einen Arztwechsel und kann ihn motivieren, diesem zuzustimmen. Er bleibt substituiert und hat kurz nach der Entlassung die ersten Rückfälle mit Kokain, Crack und Benzodiazepin. In dieser Phase war es wichtig, ihm mehrere Gespräche wöchentlich anzubieten und den schützenden Rahmen der Einrichtung hervorzuheben. In der Einzelarbeit lag die Betonung auf dem bisher Erreichten und der Rückbesinnung auf die vorhandenen Ressourcen. Beispielsweise hatte er kein Heroin konsumiert, weniger Crack und Kokain zu sich genommen und den Kontakt zu mir gehalten. Mit seiner Ärztin wurden die medikamentöse Einstellung festgelegt sowie die Rahmenbedingungen und mögliche Sanktionen vereinbart. Es ist gelungen, Günther an jeden Interventionspunkt mit einzubeziehen, und dort, wo es Widerstände gab, wurden Argumente ausgetauscht und Kompromisse angeboten. Der Klient wurde auch in der Rückfallphase als mündig und zur Selbstverantwortung fähig angesehen. Der Arbeitsauftrag hatte sich im Therapieverlauf verändert, die Verbesserung der Lebensqualität wurde zum subjektiven Therapieziel und die Erkenntnis, dass nur der Klient selbst dies bewirken kann. Er hat gelernt, seine persönlichen Kompetenzen zu erweitern, er hat neue (drogenfreie) Bewältigungsstrategien ausprobiert und schließlich ist es ihm gelungen, sein Konsumverhalten deutlich zu beeinflussen.

Gut zwei Jahre nach Beginn der ambulanten Therapie erklärte der Klient in einem Gespräch, dass er „eigentlich clean sei”. Betrachte ich den aktuellen Status zum Zeitpunkt des Zitats, so gebe ich ihm Recht. Heute sieht die medikamentöse Versorgung 12 ml L-Polamidon und 3 Benzodiazepin à 2 mg täglich vor. Die einzige illegale Droge, die er mehrmals wöchentlich konsumiert, ist Cannabis. Szeneheroin hat er nach 12 Monaten und Kokain nach 15 Monaten beendet. Crack hat er anfänglich gelegentlich konsumiert und dieses seit 6 Monaten gänzlich eingestellt. Parallel dazu gab es eine deutliche Freizeitaktivierung. Kreative Fähigkeiten wurden neu entdeckt oder wiederbelebt, z. B. Fotografie, Musik und Computertechnologie. Körperbewusstsein und Ästhetik wurden neu belebt und der Kontakt zur Partnerin ist gleichberechtigter geworden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Klient seinen Therapieprozess aktiv gesteuert, seine Lebensgestaltung beeinflusst und verändert hat und sein Konsummuster massiv ändern konnte.

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Diskussion

Es gibt keine Einwände gegen eine dauernde Abstinenz, solange es sich dabei um ein subjektives Therapieziel handelt. Die Suchtmittelunabhängigkeit soll als Ziel entmystifiziert und stattdessen als möglicher Leitgedanke für die Therapie nutzbar und erlebnisfähig gemacht werden. In diesem Sinne ist eine konstruktive Therapie diejenige, die erreichbare Ziele steckt. Sind die Ziele erreicht, kann man sich neuen erreichbaren Zielen zuwenden. Dies bedeutet nichts anderes als die Einführung eines Realitätsprinzips in die ambulante Therapie mit Drogenkonsumenten. Das Nichtbestehen auf Abstinenz ermöglicht erst Behandlungsfortschritte. Eine akzeptanz- und adressatenorientierte Drogenhilfearbeit birgt die Chance, dass Vertrauen und nicht Kontrolle in die therapeutische Beziehung gelangt. Die Klientel sollte befähigt werden, ihren Konsum zu kontrollieren und die Funktion des Konsums zu verstehen. Die subjektiven Problemsichten und Problemgewichtungen gilt es zu lösen oder Erleichterung zu bewirken. Es sollte anerkannt werden, dass der Drogenkonsum für den jeweiligen Konsumenten immer eine gewisse innere Schlüssigkeit und begründete Funktionalität hat (Stichworte: Selbstheilung, Selbstmedikation und Bewältigungsstrategie). Wird der Konsum von Suchtmitteln als Tatsache akzeptiert und beziehen wir uns in unseren therapeutischen Konzepten auf die Verbesserung von Lebensqualität als primäres Therapieziel, dann ergeben sich daraus neue Handlungskonzepte. Eine akzeptanz- und adressatenorientierte Drogenhilfearbeit ist deshalb der erfolgreichere Ansatz, weil er in seinen Konzepten flexibler handelt und sich nicht einem abstrakten Heilungsideal unterwirft. Die Prämissen dieses Ansatzes sind parteiliches Engagement für die Klientel, Freiwilligkeit, individuelle Ressourcenarbeit und harm reduction als Überlebenssicherung und Risikominimierung.

Wenn Günther sich als „eigentlich clean” empfindet, dann weiß er, dass er nicht wirklich clean ist, er weiß aber auch, dass das „Eigentliche” die wiedergewonnene Lebensqualität darstellt.

Uwe Täubler

Ambulante psychosoziale Betreuung/Therapie für Substituierte

Palette Bartelsstr. 12

20357 Hamburg

Email: uwe.taeubler@palette-hamburg.de

Uwe Täubler

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