„Dass Menschen süchtig werden, ist kein Wunder. Exzesse mit Essen und Alkohol sind
so alt wie die Geschichte der Menschheit. Tatsächlich fühlt sich süchtiges Verhalten
gut an und wir sind so gebaut, dass wir solche Verhaltensweisen wiederholen. Warum
wir nicht alle süchtig sind, ist vielmehr das Geheimnis.” So beginnt W. R. Miller
seinen Artikel „Why do people change addictive behavior?” [1]. Und er fährt fort: „Warum hören Menschen mit voll ausgeprägten süchtigen Verhaltensweisen
damit auf, manchmal sogar ganz abrupt? Wie können wir die Wandlungen verstehen, welche
die Mehrzahl der Individuen, die früher einmal in Alkohol oder Drogen verstrickt waren,
auf dem Weg zur Abstinenz oder zu moderatem Konsum durchlaufen?” [1, S. 163]. Das
sind zentrale Frage der Suchtforschung und Suchtbehandlung, auf die wir endgültige
Antworten noch nicht geben können.
Wir wissen allerdings heute sehr viel genauer, was wann wem hilft. Diesen Erkenntnisfortschritt
verdanken wir nicht zuletzt Miller und Rollnick und einer Reihe ihrer Kollegen und
Kolleginnen, die nunmehr seit gut 20 Jahren auf die Bedeutung der Änderungsmotivation
für die Verhaltensmodifikation hingewiesen haben. Unter Berücksichtigung von Überlegungen
von Prochaska und DiClemente [2] und dem klientenzentrierten Ansatz von Rogers [3] haben sie einen „neuen” therapeutischen Ansatz für Menschen mit substanzbezogenen
Störungen entwickelt, das „Motivational Interviewing” (MI), das man als einen direktiv-klientenzentrierten
Ansatz zur Reduzierung von Ambivalenz bezüglich einer Verhaltensänderung charakterisieren
kann.
Auf den ersten Blick wirkt die Koppelung von direktiven Techniken mit denen des non-direktiven
klientenzentrierten Ansatzes von Rogers wie ein Widerspruch, jedoch entschlüsselt
sich die Verbindung bei näherem Hinsehen als theoretisch wie praktisch gelungen. Das
liegt zunächst einmal daran, dass Miller und KollegInnen das Menschenbild von Rogers
weitgehend übernehmen. Beide setzen auf die Selbsthilfekräfte derjenigen, die Probleme
haben und die diese zu bewältigen suchen. Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt
in gewisser Weise bei den Betroffenen selbst, aber die Berater, Behandler und Betreuer
können ihnen mit gezielten und in diesem Sinn direktiven Interventionen helfen, diesen
zu finden und anzuwenden. So ist das MI ein Interviewing im wahrsten Sinne: Betroffene
und Behandler betrachten die Problematik gemeinsam, der Prozess von Selbstreflexion
wird bei der Klientel durch die Beratenden gefördert und Selbstmanagementressourcen
werden unterstützt. Anders als bei Rogers geht es dabei nicht in erster Linie um die
Bearbeitung emotionaler Blockierungen, sondern um gezielte Hilfen hinsichtlich der
Problemwahrnehmung und - als Folge davon - der Entwicklung von Änderungsbereitschaft
[4]
[5].
MI ist also der kognitiven Psychologie verpflichtet, mit der sie sowohl die Betonung
der Motivation als einem entscheidenden Moment von Verhaltensänderungen verbindet
als auch die Bedeutung des Selbstbildes und der damit zusammenhängenden Selbstwirksamkeitserwartungen.
Wer daran glaubt, dass Veränderungen möglich sind, und wer weiter glaubt, Fertigkeiten
und Fähigkeiten zu haben oder erwerben zu können, die geeignet sind, eigenes Verhalten
zu ändern, hat gute Chancen, das auch zu schaffen. Mit den Techniken von MI werden
diese Prozesse gezielt angestoßen, unterstützt und vorangetrieben. Die Behandler arbeiten
darauf hin, das Selbstbild der Klientinnen und Klienten zu verbessern und ihre Selbstwirksamkeitserwartungen
zu fördern.
Das Motivational Interviewing verlangt vom professionellen Helfer die Umsetzung zentraler
therapeutischer Grundhaltungen, vor allem Empathie sowie die Überzeugung, dass Entwicklungsfortschritte
bei der Klientel möglich sind, sowie das Akzeptieren der Entscheidungsautonomie der
Betroffenen. So einfach die Umsetzung der Techniken (auf den ersten Blick) sein mag,
erst vor dem Hintergrund der Philosophie und des Menschenbildes bekommt der Ansatz
seine besondere Berechtigung. MI ist eben kein Verfahren zur „geschickten Manipulation”
von Betroffenen, sondern fördert im Gegenteil die Freiheit der Entscheidung.
Wie man mittlerweile in einer Reihe von Effektivitäts- und Wirksamkeitsstudien nachgewiesen
hat, können mittels MI sehr erfolgreich Menschen mit Alkohol- und anderen Suchtmittelproblemen
erreicht und zu Verhaltensänderungen bewegt werden. Dazu kommt eine Vielzahl von weiteren
Studien, die zeigen, dass man MI zur Gesundheitsförderung allgemein als auch ganz
gezielt zur Stärkung bestimmter gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen einsetzen
kann (z. B. bei der Reduzierung von Gewichtsproblemen oder zur AIDS-Prophylaxe). Das
Besondere an MI ist, dass es auch gut kompatibel ist mit bewährten medizinischen,
pharmakotherapeutischen, psychotherapeutischen, sozialarbeiterischen und sozialtherapeutischen
Unterstützungsmöglichkeiten und dass es in verschiedenen Settings eingesetzt werden
kann. Motivational Interviewing kann sowohl in der Primärprävention, der Sekundärprävention,
aber auch in der Rehabilitation und Nachsorge genutzt werden. Zusammenfassend ist
es somit weniger eine spezifische Intervention (z. B. Kurzintervention) als vielmehr
ein grundlegendes Betriebssystem zur Versorgung von Menschen mit gesundheitsbeeinträchtigenden
Verhaltensweisen.
Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, diesen Ansatz umfassender in diesem Schwerpunktheft
vorzustellen. Zunächst war der Transfer von MI von den USA nach Europa und nach Deutschland
eher schleppend. Einige wenige Forschergruppen haben schon in den 90er-Jahren mit
MI experimentiert [6]
[7], aber das Echo war insgesamt verhalten. Das hat sich in den letzten Jahren deutlich
geändert. MI ist so gesehen in Deutschland angekommen, es hat seinen Platz in der
Suchthilfe und darüber hinaus in der Gesundheitsförderung gefunden.
Clemens Veltrup und Joachim Körkel stellen die zentralen Grundlagen, die therapeutischen
Grundhaltungen sowie die Strategien und Techniken des Motivational Interviewing vor,
wie sie von Miller und Rollnick in der stark überarbeiteten zweiten Auflage ihres
Buches „Motivational Interviewing” [5] präsentiert werden. Weiterhin geben sie grundlegende Hinweise für die Ausbildung
in Motivational Interviewing.
Georg Kremer fasst in seinem Beitrag die Studienlage zu Kurzinterventionen mit MI
bei alkoholbezogenen Störungen zusammen. Es ist erstaunlich, wie viele Effektivitäts-
und Wirksamkeitsstudien mittlerweile zu Kurzinterventionen mit MI vorliegen und wie
effektiv diese vor allem bei Menschen mit leichten bis mittelschweren alkoholbezogenen
Störungen sind. Motivationale Kurzinterventionen eignen sich besonders für die ärztliche
Praxis für Menschen mit Suchtmittelproblemen. Ein wichtiges Anwendungsfeld ergibt
sich in der frühen Sekundärprävention von jungen Menschen, die erste Drogenerfahrungen
machen, mit diesen Substanzen experimentieren und Gefahr laufen, einen chronischen
Gebrauch zu entwickeln. Fort- und Weiterbidlungscurricula in MI sind entwickelt worden,
die die suchtmedizinische und suchtpsychologische Grundversorgung verbessern sollen.
Irmgard Vogt, Martin Schmid und Martina Schu geben einen Überblick über die Studien,
in denen MI in der Arbeit mit Drogenabhängigen eingesetzt worden ist, und diskutieren
die Reichweite der Methode und ihre Effektivität. Bewährt hat sich MI dann, wenn es
zur Förderung der Behandlungs- und Veränderungsmotivation von Personen, die illegale
psychoaktive Substanzen konsumieren oder von diesen abhängig sind, jedoch noch über
ein gewisses soziales Netz verfügen, eingesetzt wird und wenn daran eine weitergehende
Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie oder anderen Verfahren anschließt. Nur
sehr wenige Studien haben MI als „Stand-alone”-Verfahren getestet, aber auch in diesen
Fällen sind die Ergebnisse gut. In Deutschland wird MI im Rahmen des bundesdeutschen
Modellprojekts zur heroingestützten Behandlung von Opiatabhängigen in Kombination
mit Case Management auf seine Wirksamkeit hin untersucht, in diesem Fall mit einer
Klientel mit chronisch drogenabhängigen Personen. Bislang sind die Erfahrungen aus
der Praxis insgesamt positiv; es spricht also vieles dafür, dass MI auch diese Bewährungsprobe
erfolgreich bestehen wird.
Jürgen Hoyer untersucht in seinem Beitrag den Stand der Forschung zum Konzept der
„Stadien der Veränderung” [2]. Dabei zeigen sich erhebliche theoretische und empirische Probleme. Bislang konnte
die Existenz von fünf distinkten Stadien empirisch nicht nachgewiesen werden, sondern
- je nach Untersuchung und untersuchter Stichprobe - entweder mehr oder weniger „Stadien”.
Er plädiert jedoch dafür, das Stadienmodell der Veränderung schon aus heuristischen
Gründen beizubehalten, es jedoch weiter auszudifferenzieren. Alle Stadien sollten
danach sowohl durch die für sie typischen Einstellungen und Verhaltensweisen, gegebenenfalls
auch durch die bei den jeweiligen Klientinnen und Klienten vorliegenden Kompetenzen
beschrieben werden. Im Hinblick auf den Rückfall, mit dem in der Arbeit mit einer
süchtigen Klientel immer zu rechnen ist, sollte das Modell zudem um einige Stadien
erweitert werden. Hoyer schlägt vor, zwischen Rückfallgefahr, Rückfall und Resignation
zu unterscheiden.
Wie die hier versammelten Beiträge belegen, wird MI mittlerweile in vielen Praxisfeldern
mit Erfolg angewendet. KlientInnen, PatientInnen, HelferInnen und ForscherInnen fühlen
sich gleichermaßen von diesem Verfahren angesprochen und motiviert. Gleiches wünschen
wir den LeserInnen dieser Ausgabe.