Balint Journal 2003; 4(4): 121-122
DOI: 10.1055/s-2003-45183
Fallbericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Aus der Balint-Gruppen-Praxis

Mit einem Fallbericht aus der Perspektive von zwei Gruppenmitgliedern
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Publication Date:
02 January 2004 (online)

Fallbericht 1. Ein Kollege berichtet folgenden Fall aus einem notärztlichen Einsatz:

Der Kollege wird zu einer jungen Frau (32 Jahre) gerufen, die plötzlich zusammengebrochen ist. Er findet sie leblos in der Küchenzeile auf dem Fußboden liegend vor. Nachdem er sie in einen offeneren Bereich gezogen hat, beginnt er mit der Reanimation bei Nachweis einer elektromechanischen Entkopplung. Gelegentlich kann sich der Kollege über die Situation um ihn herum orientieren. Mit im Raum stehen der Ehemann, ein Sohn von 4 Jahren und eine Tochter von 9 Jahren. Der Sohn fragt den Vater: „Papa, was machen die denn da?” „Die machen die Mama heile”. Über die Treppe kommt eine weitere Tochter von 12 Jahren, die noch sehr verschlafen aussieht, und die Situation noch gar nicht erfasst hat. Nach 45 Minuten wird die Reanimation erfolglos beendet.

Der Ehemann erkennt dies, und wirft sich fassungslos und heulend an den Hals des Kollegen. Er wimmert: „Was wird denn nun aus den Kindern? Wir haben doch gerade erst gebaut.” Der vierjährige Junge schlägt mit seinen kleinen Fäusten auf den Notarzt ein: „Du musst die Mama heile machen”. Der Kollege ist von der Emotionsflut überfordert und weint ebenfalls. Er muss an den Tod des eigenen Vaters denken, der auch einem plötzlichen Herztod erlag. Auf der Suche nach Hilfe - auch für sich selbst - sieht er, dass die Sanitäter sich „verdrückt” haben. Sie haben ihm die Verantwortung für den Ehemann und die drei Kinder kommentarlos überlassen.

Nach einiger Zeit kommt der erfahrenere Sanitäter und sieht, in welcher Not sich der Notarzt befindet, und dass sie „so nicht weiterkommen”. Er ruft den zuständigen Pastor zwecks Krisenintervention an. Dieser kommt auch sofort. Er hat rasch die Situation erfasst und sagt zu dem Notarzt: „Sie armer Kerl! Ziehen Sie sich mal zurück. Ich kümmere mich um die Familie.” Dies war für den Kollegen eine ungeheure Erleichterung. Er zog sich zum Ausfüllen des Totenscheins zurück.

Während des Berichts versagt dem Kollegen mehrfach die Stimme und er bekommt Hustenanfälle, für die er eine Bronchitis entschuldigend angibt. Er kann nur mit Mühe die erneut aufkommenden Emotionen unterdrücken. Er betont, dass ihm gerade dieser Fall in Erinnerung geblieben ist, weil er sich nicht unter Kontrolle hatte, und nicht wusste wie er sich in dieser Situation hätte verhalten müssen.

Zudem sieht er die Kinder noch sehr oft, da er in der gleichen Kleinstadt wohnt. Was aus dem Ehemann geworden ist, und wie die Kinder die Trauer um die Mutter verarbeitet haben, weiß er nicht. Dem helfenden Pastor - Alter Mitte 40 - ist er noch heute mehr als dankbar und hat viel Bewunderung für ihn übrig. Als er davon berichtete, wie der Pastor ihm zur Hilfe kam, konnte er kaum weitererzählen.

Dr. med. G. Bergmann, PD

Landeskrankenhaus-Universitätsklinikum Graz

Ärztliche Direktion

Auenbruggerplatz 1

8036 Graz

Österreich

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