Suchttherapie 2003; 4(4): 214-215
DOI: 10.1055/s-2003-45526
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Morphin als Substitutionsmittel - Eine Fallbeschreibung

Morphine as a Maintenance Substance - A Case ReportRainer Ullmann
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Rainer Ullmann

Curschmannstraße 10

20251 Hamburg

Email: R.Ullmann@gmx.de

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Publication Date:
12 January 2004 (online)

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Die Kasuistik beschreibt einen Mann, der mit 17 Jahren heroinabhängig wurde. Er injizierte 3 Jahre lang Heroin, unterzog sich dann einer stationären Entwöhnungsbehandlung und blieb dann 15 Jahre abstinent. Als sich seine Freundin von ihm trennte, wurde er rückfällig, wobei er das Heroin jetzt nur noch schnupfte. In dieser Zeit versuchte er häufig, allein oder mit ärztlicher Unterstützung zu entziehen, was immer nur für wenige Tage gelang. Seit 1997 wurde er von verschiedenen Ärzten überwiegend mit Dihydrokodein in Dosierungen bis zu 1300 mg täglich behandelt. Da er weiter Heroin konsumierte, verschuldete er sich trotz der Substitutionsbehandlung so sehr, dass seine Wohnung geräumt werden sollte. Außerdem hatte er seine Arbeitsstelle als Assistent eines Steuerberaters verloren. In der Verzweiflung über diese Situation versuchte er am 14.12.2000 sich zu erhängen. Da das Seil riss, stürzte er aus dem 3. Stockwerk und zog sich neben multiplen Frakturen ein Kaudasyndrom und eine Peronäusparese links zu.

Während verschiedener Krankenhausaufenthalte wurde versucht, sowohl die Heroinabhängigkeit als auch die Schmerzen zu behandeln. Bei einem Entzugsversuch zur Vorbereitung auf eine stationäre Abstinenztherapie wurden die oft stundenlang dauernden Schmerzen im linken Fuß trotz intensiver Physiotherapie unerträglich, wenn die L-Polamidondosis 20 mg unterschritt. Periphere Analgetika wie Diclofenac und Novaminsulfon, Antidepressiva und Gabapentin halfen nicht ausreichend, eine Sympathikusblockade hatte nur einen vorübergehenden Erfolg. Herr H. wurde mit 120 mg Levomethadon entlassen. Er hatte weiter starke Schmerzen. Ich gab deshalb retardiertes Morphin in einer Dosierung von 3-mal 120 mg dazu. Diese Dosis reichte gegen die Entzugssymptomatik und gegen die neuropathischen Schmerzen im linken Fuß. Herr H. war den ganzen Tag über schmerzfrei und er konnte das Levomethadon innerhalb von 4 Wochen absetzen. Nach dem Absetzen verschwand das Schwitzen als störendste Nebenwirkung sofort. Die depressive Stimmung besserte sich deutlich. Als die Schmerzen nach einem Jahr allmählich nachließen, konnte Herr H. die Dosis auf 180 mg reduzieren. Mit den zunehmenden Schmerzen in der rechten Hüfte - Folgen der Frakturen der Hüftpfanne - konnte Herr H. umgehen, ohne die Opiatdosis zu steigern. Inzwischen ist eine Endoprothese implantiert worden.

Herr H. kennt verschiedene Substitutionsmittel und beschreibt die Wirkungen und Nebenwirkungen der verschiedenen Medikamente so:

Methadon: heftiges Anfluten kurz nach der Einnahme, nach 18-20 h erste Entzugssymptome. Extremes Schwitzen bei körperlicher Anstrengung und bei psychischer Anspannung, unabhängig von der Dosishöhe; Depressionen. Dieses Schwitzen führte nach seinen Worten zur totalen sozialen Isolation.

Levomethadon: heftiges Anfluten ca. 20 min. nach der Einnahme, weniger rasches Nachlassen der Wirkung. Schwitzen ist noch heftiger als bei Methadon. Als Schmerzmittel ist es für ihn unzureichend.

Codeinsaft: gleichmäßiges Gefühl bei Einnahme dreimal täglich; die Wirkung hält nur 7-8 Stunden an. Im Vergleich zu Methadon und L-Polamidon etwas weniger Schwitzen.

Retardiertes Morphin: die Einnahme der Kapseln ist auch unterwegs unproblematisch; es ist möglich, die Dosis den Schmerzen anzupassen. Erstmals seit Suizidversuch schmerzfrei, gleichmäßige Wirkung, Schwitzen deutlich weniger, keine Depressionen. Ein Nachteil ist die Schlaflosigkeit.

Methadon ist das am häufigsten verwendete Substitutionsmedikament. Die gute orale Verfügbarkeit und die auch bei einmaliger Einnahme oft ausreichend gleichmäßigen Wirkspiegel machen es für die Substitutionsbehandlung geeignet, besonders, wenn die Einnahmekontrolle wichtig ist. Wie alle Opioide hat es keine schweren irreversiblen Nebenwirkungen. Funktionelle Nebenwirkungen können allerdings einige Patienten sehr beeinträchtigen. Das Schwitzen kann gemeinsame Aktivitäten, besonders gemeinsames Essen, unmöglich machen, die Apathie und Müdigkeit erschweren die berufliche Rehabilitation, der Libidoverlust kann sich in einer Partnerschaft sehr störend auswirken.

Neben der Wirksamkeit ist auch die Verträglichkeit von Medikamenten ein wichtiges Auswahlkriterium. Wirksam zur Unterdrückung der Entzugssymptome und der Gier nach Heroin sind wegen der Kreuztoleranz alle Opioide. Die Beschränkung der Opioide, die nach der BtMVV zur Substitutionsbehandlung eingesetzt werden dürfen, auf Methadon, Levomethadon, Buprenorphin und DHC ist wissenschaftlich nicht begründet. In anderen Ländern werden auch andere Opioide eingesetzt: in Österreich Morphium [1], in den Niederlanden eine Zeitlang Dextromoramid (Palfium®) [2]. Morphiumsüchtige bekamen vor 100 Jahren Morphium, Heroinabhängige bekamen in der New Yorker Drogenambulanz um 1920 Heroin [3]. Die so behandelten Menschen waren damit frei von Entzugssymptomen und arbeitsfähig. Ursache für die Auswahl von Methadon sind die Rechtsprechung in den USA um 1920 und Beschlüsse der American Medical Association, dass die Verordnung zur selbständigen Einnahme medizinisch nicht korrekt und deshalb nicht erlaubt sei [4]. In Großbritannien dagegen bekamen Abhängige immer das Medikament (auch Heroin) zum selbstständigen, nicht fremdkontrollierten Konsum mit. In Zeiten völlig unkontrollierbaren Konsums ist die mit Methadon leicht mögliche Fremdkontrolle der Einnahme sicher ein wichtiges Instrument bei der Behandlung Heroinabhängiger. Aber nicht alle Heroinabhängigen konsumieren immer völlig unkontrolliert. Die Einnahmekontrolle kann aus medizinischer Sicht nicht das Hauptauswahlkriterium sein. Methadon hat sich nicht im Vergleich mit anderen Opioiden in wissenschaftlichen Untersuchungen als das wirksamste und verträglichste Opioid bei der Behandlung der Heroinabhängigkeit erwiesen. Es ist ausgesucht worden, weil die fremdkontrollierte Einnahme, die mit Methadon tatsächlich leichter organisierbar ist als mit Morphium oder Heroin, nach den politisch-juristischen Vorgaben in den USA die einzig mögliche Behandlungsform war.

Die Krankengeschichte von Herrn H. zeigt, dass retardiertes Morphium nicht nur ein ausgezeichnetes Schmerzmittel, sondern auch als Substitutionsmedikament geeignet ist. Herr H. konsumiert nach seinen Angaben, dem klinischen Bild und dem Ergebnis zahlreicher Urinkontrollen neben dem Morphium kein Straßenheroin und auch kein Kokain. Schwierig zu interpretieren war der Nachweis von N-Acetylmorphin, das als Abbauprodukt von Heroin angesehen wurde. Die Streckmittel des Straßenheroins konnten allerdings im Urin nie nachgewiesen werden. In Wirklichkeit entstand das N-Acetylmorphin aus dem verordneten Morphin, weil in dem für die Vorbereitung der Urinprobe verwendeten Reagenz ein Acetatpuffer enthalten war. Als das Reagenz geändert wurde, wurde kein N-Acetylmorphin mehr gefunden.

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Literatur

  • 1 Wiesegger G, Fischer G. Substitution mit oralem retardiertem Morphin. Krausz M, Haasen C, Naber D Pharmakotherapie der Sucht Freiburg; Karger 2003
  • 2 de Vos J W, Ufkes J G, van den Brink W. et al . Craving patterns in methadone maintenance treatment with dextromoramide as adjuvant.  Addict Behav. 1999;  24 (5) 707-713
  • 3 Lowinson J, Ruiz P, Millman R. Substance Abuse. A Comprehensive Textbook Baltimore; Williams & Wilkins 1992 7
  • 4 Council of Mental Health. Report on Narcotic Addiction.  JAMA. 1957;  165 1707-1713; 1834-1841; 1868--1874

Rainer Ullmann

Curschmannstraße 10

20251 Hamburg

Email: R.Ullmann@gmx.de

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Literatur

  • 1 Wiesegger G, Fischer G. Substitution mit oralem retardiertem Morphin. Krausz M, Haasen C, Naber D Pharmakotherapie der Sucht Freiburg; Karger 2003
  • 2 de Vos J W, Ufkes J G, van den Brink W. et al . Craving patterns in methadone maintenance treatment with dextromoramide as adjuvant.  Addict Behav. 1999;  24 (5) 707-713
  • 3 Lowinson J, Ruiz P, Millman R. Substance Abuse. A Comprehensive Textbook Baltimore; Williams & Wilkins 1992 7
  • 4 Council of Mental Health. Report on Narcotic Addiction.  JAMA. 1957;  165 1707-1713; 1834-1841; 1868--1874

Rainer Ullmann

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