Suchttherapie 2003; 4(4): 200-202
DOI: 10.1055/s-2003-45529
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Junge Männer im Straßenverkehr - Voll im Griff! - Ein Projekt zur Prävention alkoholbedingter Unfälle

Young Men in Traffic - Totally Under Control! - A Project with the Objective to Prevent Accidents Caused by the Consumption of AlcoholIngeborg Holterhoff-Schulte1
  • 1Niedersächsiche Landesstelle gegen die Suchtgefahren
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Ingeborg Holterhoff-Schulte

Podbielskistr. 162

30177 Hannover

Publication History

Publication Date:
12 January 2004 (online)

Table of Contents

Wie die Statistiken der Straßenverkehrsämter zeigen, sind bei Verkehrsunfällen auf deutschen Straßen überproportional häufig junge Männer beteiligt. 2002 waren 21 % aller Verunglückten und Getöteten zwischen 18 und 24 Jahre alt. Ihr Anteil in der Gesamtbevölkerung hingegen beträgt lediglich 7,5 %. Die häufigste Unfallursache ist nicht angepasste Geschwindigkeit, dies oft in Kombination mit Alkoholmissbrauch. Dieses Unfallgeschehen ist besonders in den ländlichen Regionen zu beobachten [1] [2]. Auf diesen missbräuchlichen Einsatz von Alkohol reagiert die Suchtprävention seit einiger Zeit mit konkreten Maßnahmen und Veränderungen in der Zielfestlegung. Ziel suchtpräventiver Maßnahmen ist nicht mehr nur die Vorbeugung vor einer Suchtentstehung, sondern auch ein risikoarmer Umgang mit Drogen. Alkohol wird dabei als fester Bestandteil unserer Kultur akzeptiert. Die Maßnahmen der Suchtprävention sollen bei Erwachsenen ein gesünderes Konsumverhalten erreichen und bei Jugendlichen ein stärkeres Risikobewusstsein bezüglich des Suchtmittels Alkohol schaffen. Zu Letzterem gehört auch die so genannte Punktnüchternheit. Diese umfasst einen absoluten Verzicht auf Alkohol in bestimmten Situationen, etwa am Arbeitsplatz, während der Schwangerschaft und auch im Straßenverkehr.

Das Projekt „Junge Männer im Straßenverkehr - Voll im Griff!” wurde im Rahmen dieses Präventionsverständnisses von der Niedersächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Zusammenarbeit mit den niedersächsischen Präventionsfachkräften entwickelt [3]. In das Projekt eingebunden waren außerdem: die Landesverkehrswacht Niedersachsen, der Niedersächsische Verband der Fahrlehrer, die Polizei, der Technische Überwachungsverein und das Niedersächsische Kultusministerium.

Als wichtige übergeordnete Ziele des Projekts wurden benannt:

  • Die jungen Männer sollen erkennen, dass Alkoholtrinken und Autofahren nicht miteinander vereinbar sind,

  • sowie zukünftig nicht (mehr) alkoholisiert - und damit sicherer - Auto fahren.

Die Zahl der alkoholbedingten Unfälle bei dieser Zielgruppe sollte gesenkt werden. Für die einzelnen Bausteine des Projekts wurden Zwischenziele benannt. Als Zielgruppe wurden junge Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren ausgewählt, die sich nach ihrem Haupt- oder Realschulabschluss in einer Ausbildung befinden und somit eine Berufsschule besuchen.

Es handelte sich um eine Stichprobe besonders gefährdeter männlicher Berufsschüler aus Niedersachsen. Die Teilnehmer wurden aus verschiedenen Regionen (ländlich und städtisch) und aus verschiedenen Berufsschultypen rekrutiert. Diese Zielgruppe sollte motiviert werden, an einem mehrwöchigen Projekt teilzunehmen.

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Intervention

Die Intervention besteht aus den folgenden Elementen:

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I. Workshop „Alkohol trinken und Auto fahren”

Die Jugendlichen werden morgens mit einem Bus von zu Hause abgeholt und zu dem eingerichteten Testparcours transportiert, der von der öffentlichen Verkehrswacht aufgebaut wurde. Die Teilnehmer müssen drei Testfahrten durchführen. Nach jedem Durchlauf wird der Parcours verändert, damit die Ergebnisse nicht durch Gewöhnungseffekte verfälscht werden. Vor Beginn der ersten Testfahrt wird mit den Jugendlichen ein Alkoholtest durchgeführt. Mitmachen darf nur, wer zu diesem Zeitpunkt 0 Promille im Blut hat.

Danach befährt jeder Teilnehmer in Begleitung eines Fahrlehrers in dessen Auto den Parcours. Im Anschluss bekommen die Jugendlichen einen Imbiss und können dazu Alkohol trinken. Der Alkoholspiegel wird erneut gemessen; erfahrungsgemäß befindet er sich nun zwischen 0,2 und 0,4 Promille. Die Jugendlichen befahren den Parcours ein zweites Mal, ebenfalls in Begleitung des Fahrlehrers. Danach können die Jugendlichen wieder Alkohol trinken, sollen aber den Promillewert von 0,8 nicht überschreiten. An diesem Punkt wird allerdings kein Alkoholtest durchgeführt, damit die Teilnehmer diese Erfahrung, mit wie viel Promille sie noch Auto fahren können, später nicht missbräuchlich anwenden können. Dann befahren sie den Parcours zum dritten Mal.

Die Fahrlehrer sollen zu jeder Testfahrt Notizen über den Namen des Fahrers, seine Trinkmenge und Besonderheiten während der Fahrt anfertigen. Diese Aufzeichnungen dienen der Auswertung des Workshops in den folgenden Unterrichtseinheiten. Außerdem werden die gesamten Vorgänge des Tages - das gemeinsame Trinken sowie die Testfahrten - auf Video festgehalten.

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II. Die Unterrichtseinheiten

Die Zielgruppe der jungen Männer wird über die Berufsschulen gewonnen. Zum Projekt gehört auch die Durchführung von Unterrichtseinheiten, die die Berufsschulen in ihr Unterrichtsangebot integrieren. Die Unterrichtseinheiten (UE) bestehen aus drei thematisch differenzierten Blöcken:

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a) UE Suchtmittelspezifische Suchtprävention

Hier wird zuerst der Workshop ausgewertet. Aufgrund der Videoaufnahmen haben die Teilnehmer die Möglichkeit, ihre Fahrten, die sie in nüchternem Zustand und unter Alkoholeinfluss durchführten, zu betrachten und auszuwerten. Selbst kleine Veränderungen im Verhalten, Verzögerungen bei bestimmten Handgriffen u. a. m. werden dabei deutlich. Diese kleinen Veränderungen bzw. Verlangsamungen führen in der Testsituation zu keinen Konsequenzen. In der Realsituation bei höheren Geschwindigkeiten können die Folgen sehr leicht fatal sein. Das Ziel der gemeinsamen Videoauswertung ist es, dies allen Teilnehmern deutlich zu machen.

Anschließend vermitteln die Präventionsfachkräfte Informationen zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit Alkohol. Die 18- bis 25-Jährigen sollen auch ihre eigene Haltung zum Umgang mit Alkohol überprüfen und sich selbst einschätzen.

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b) UE Suchtmittelunspezifische Suchtprävention

Die Präventionskraft informiert über die Entstehungsbedingungen von Suchterkrankungen. Die Teilnehmer sollen sich mit dem eigenen Freizeitverhalten, dem Verhalten in Risikosituationen sowie den Themen „Genießen versus Konsumieren” und „Punktnüchternheit” auseinander setzen.

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c) UE Unfallforschung und Technik

Eine Fachkraft übermittelt Informationen über das Unfallgeschehen in der jeweiligen Region, in der die 18- bis 25-Jährigen leben, über wichtige Ergebnisse und Erkenntnisse der Unfallforschung.

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III. Das Verkehrssicherheitstraining

Zum Abschluss des Projekts wird mit den 18- bis 25-jährigen Männern ein Verkehrssicherheitstraining auf dem Verkehrsübungsplatz durchgeführt, wie es von den Verkehrswachten angeboten wird.

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Forschungsdesign

Im Jahr 1998 wurde das Projekt 12-mal in Niedersachsen umgesetzt. Die Evaluation basiert auf den Daten dieser 12 Projekte mit insgesamt 150 Teilnehmern. Als Erhebungsinstrument wurde ein Fragebogen zu drei verschiedenen Zeitpunkten eingesetzt: T1 kurz nach der Maßnahme, T2 nach 12 Monaten, T3 nach 24 Monaten. Außerdem wurden eine Auswertung und eine Beurteilung der Gesamtmaßnahme durch die Präventionsfachkräfte vorgenommen, um potenzielle Mängel sowie hilfreiche Faktoren bei der Projektdurchführung zu identifizieren.

Die Ergebnisse der ausgewerteten Fragebogen über das Unfallgeschehen der jungen Männer wurden untereinander verglichen, um eine Entwicklung des Unfallverhaltens der Zielgruppe von 1998 bis 2000 aufzeigen zu können. Ferner wurde überprüft, ob sich die Einstellungen der Teilnehmer zum Thema „Alkohol trinken und Auto fahren” auch langfristig verändert haben. Zusätzlich wurden die Daten über die Unfälle der 18- bis 25-jährigen jungen Männer mit dem Unfallgeschehen aller jungen Männer in Niedersachsen verglichen. So ließ sich feststellen, inwieweit das Risikoverhalten der Jugendlichen nach der Teilnahme am Projekt von dem Risikoverhalten der gleichen Zielgruppe in Niedersachsen abweicht.

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Ergebnisse

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I. Auswertung des Workshops „Alkohol trinken und Auto fahren”

Dieser Teil des Projekts war bei jeder Projektdurchführung der spektakulärste. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass in einigen Fällen das Vorhaben auch auf Ablehnung stieß. In diesen wenigen Fällen gab es Widerstand von pädagogischer Seite, die es als falsch bezeichnete, die Projektteilnehmer tatsächlich alkoholisiert fahren zu lassen. Es gelang aber immer, diese Bedenken auszuräumen. Die Organisation dieses Workshoptages wurde von allen Präventionsfachkräften als aufwändig bezeichnet: Alle Kooperationspartner mussten an einen Tisch gebracht, von der Sache überzeugt und zum engagierten Mittun motiviert werden. Insbesondere die Fahrlehrer, aber auch die Mitarbeiter von Verkehrswachten arbeiteten engagiert mit.

Alle Präventionsfachkräfte berichteten einhellig, dass bei keinem Teilnehmer die Erfahrung mit diesem Workshop den gegenteiligen Effekt gehabt habe („Ich kann ja doch Alkohol trinken und Auto fahren”). Allen Teilnehmern wurde klar, dass unter den abgesicherten Bedingungen des Workshops Fahrfehler glimpflich abliefen, die jedoch im realen Verkehrsalltag zu wesentlich folgenschwereren Unfällen geführt hätten. Die Ziele des Workshops wurden bei allen Projektdurchführungen erreicht. In Anbetracht dieser positiven Auswirkungen des Workshops auf die gesamte Maßnahme wurde der hohe Organisationsaufwand als angemessen und gerechtfertigt bezeichnet. Die Ziele dieses Workshops, dass Alkoholtrinken und Autofahren nicht miteinander zu vereinbaren sind, sowie die Motivation und Gruppenbildung zu fördern, konnten erreicht werden.

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II. Unfallgeschehen

Da nicht mit Kontrollgruppen gearbeitet werden konnte, wurde die Unfallzahl der Teilnehmergruppe mit dem Unfallgeschehen der Gesamtgruppe der 18- bis 25-jährigen Verkehrsteilnehmer in Niedersachsen verglichen. Bereits im ersten Jahr nach dem Projekt (1999) hat keiner der Teilnehmer einen Unfall unter Einfluss von Alkohol erlitten. Diese Tendenz hat sich im Jahr 2000 fortgesetzt.

Neben der Zahl der alkoholisierten Fahrer konnte auch die Zahl der Gesamtunfälle bei den Projektteilnehmern verringert werden. Während nach der ersten Befragung 1998 noch 33 % aller Teilnehmer Unfälle erlitten, waren es im Jahr 1999 nur noch 24 % und bei der letzten Befragung 2000 nur noch 5 % aller Beteiligten.

Insgesamt stellt sich damit das Unfallgeschehen der Projektteilnehmer im Vergleich zu den Unfallzahlen aller 18- bis 25-jährigen Männer in Niedersachsen günstig dar.

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Weitere wichtige Teilergebnisse der Evaluation

Die Maßnahme wurde von der Zielgruppe sehr gut angenommen. Weil das Projekt auf konkretes Erleben ausgerichtet war, gelang es, auch für die Unterrichtseinheiten zu motivieren und eine verlässliche Teilnahme sicherzustellen. Die Maßnahme traf die Bedürfnislage und Lebenssituation der angesprochenen Zielgruppe, gleichzeitig wurden die angestrebten Ziele ganz überwiegend erreicht.

Die Durchführung aller Projekte benötigte zwar einigen organisatorischen Aufwand, gelang aber insgesamt reibungslos. Überwiegend unterstützten die Berufsschulen das Projekt. Es fanden sich jeweils Lehrkräfte, die es begleiteten und die erfolgreiche Durchführung der Unterrichtseinheiten ermöglichten. Nur wenn die Maßnahme als ein integriertes schulisches Angebot an die jungen Männer herangetragen wird, wird sie von ihnen mit hoher Verbindlichkeit wahrgenommen. Jede Projektdurchführung kostet einschließlich einer Pauschalgruppenversicherung (Unfallversicherung für die Teilnehmer) ca. 2600 €.

Die primärpräventive Sichtweise, mit Personen dieses Alters auch suchtmittelspezifisch zu arbeiten, bestätigte sich. Denn für diese Zielgruppe gehört Alkohol längst zum Leben und vor allem zur Freizeitgestaltung dazu. So ist es unabdingbar, das Suchtmittel Alkohol zu thematisieren, aber nicht nur in Form von Informationen, sondern indem eigenes Verhalten reflektiert wird.

Die Auswertung des Fragebogens zur Einstellung und zum Verhalten zeigt alkoholkritische Ergebnisse. Dies erklärt sich aus dem Zeitpunkt der ersten Befragung unmittelbar nach Abschluss des Projekts. Immerhin wird aber deutlich, das die angestrebten Botschaften angekommen sind, dass sie nicht abgelehnt, sondern vielmehr antizipiert werden.

Das Projekt wurde von den Teilnehmern weitergetragen. Fast alle erzählten anderen davon und fanden auch interessierte Zuhörer. Auch das „gegen den Strom schwimmen” und sich „anders als andere verhalten” wurde von den jungen Männern nicht als Problem angesehen, da die jungen Männer sehr großen Wert auf selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln legen.

Zusammenfassend soll noch einmal betont werden, dass die jungen Männer eindeutig für den Umgang mit dem Suchtmittel Alkohol - insbesondere in Bezug auf den Straßenverkehr - sensibilisiert werden konnten. In ihren Einstellungen und im Verhalten zeigte sich eine nachhaltige Wirkung über zwei Jahre. Durch die Zusammenarbeit mit den Berufsschulen konnte dieses Projekt zielgenau bei der größten Risikogruppe für alkoholisiertes Autofahren und für Verkehrsunfälle angesiedelt werden.

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Implementierung und Transfer

Seit 1999 wurde „Voll im Griff!” 17-mal durchgeführt, weitere 250 Teilnehmer aus besonders gefährdeten Risikogruppen wurden erreicht. Diese Maßnahmen sind allerdings nicht in die hier vorgestellte Evaluation eingeflossen.

In Niedersachsen beginnt 2003 ein Anschlussprojekt. Darin werden Peers ausgebildet, um in Fahrschulen eine Einheit zum Thema „Alkohol und Drogen im Straßenverkehr” durchzuführen. Dieses Projekt ist weniger aufwändig, breiter angelegt und erfasst in kürzerer Zeit erheblich mehr angehende FührerscheininhaberInnen.

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Literatur

  • 1 Bundesanstalt für Straßenwesen . Wissenschaftliche Informationen. Nächtliche Freizeitunfälle junger Fahrerinnen und Fahrer.  BASt-Info 17,. 1998; 
  • 2 Bundesanstalt für Straßenwesen . Wissenschaftliche Informationen. Soziales Umfeld, Alkohol und junge Fahrer.  BAST-Info 16,. 1998; 
  • 3 Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen und Niedersächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren .Risikoverhalten Jugendlicher in der mobilen Gesellschaft. Hannover,; 2002

Ingeborg Holterhoff-Schulte

Podbielskistr. 162

30177 Hannover

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Literatur

  • 1 Bundesanstalt für Straßenwesen . Wissenschaftliche Informationen. Nächtliche Freizeitunfälle junger Fahrerinnen und Fahrer.  BASt-Info 17,. 1998; 
  • 2 Bundesanstalt für Straßenwesen . Wissenschaftliche Informationen. Soziales Umfeld, Alkohol und junge Fahrer.  BAST-Info 16,. 1998; 
  • 3 Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen und Niedersächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren .Risikoverhalten Jugendlicher in der mobilen Gesellschaft. Hannover,; 2002

Ingeborg Holterhoff-Schulte

Podbielskistr. 162

30177 Hannover