Psychiatr Prax 2004; 31(5): 228-235
DOI: 10.1055/s-2003-814819
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wohnungslose Frauen mit psychischer Erkrankung - eine Feldstudie

Homeless Women with Psychiatric Disorders - A Field StudyIris  Torchalla1 , Friederike  Albrecht1 , Gerhard  Buchkremer1 , Gerhard  Längle1
  • 1Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Tübingen
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Publication Date:
08 July 2004 (online)

Zusammenfassung

Anliegen der Arbeit war die Untersuchung der psychosozialen Situation aller wohnungslosen Frauen in einer süddeutschen Universitätsstadt. Methode: Umfang, Struktur und Aufenthaltsort der Zielgruppe waren zunächst unbekannt. 22 wohnungslose Frauen konnten identifiziert werden, 17 konnten für eine umfangreiche Untersuchung u. a. mit dem strukturierten klinischen Interview für DSM-IV (SKID-I) gewonnen werden. Ergebnisse: Die Prävalenz für aktuelle psychische Erkrankungen lag bei 71 %, führend waren Substanzmissbrauch/-abhängigkeit (43 %) gefolgt von Angststörungen (35 %) und Schizophrenie (12 %). Mehrfachdiagnosen fanden sich bei 35 % der Frauen. Diskussion: Auffallend war der oft frühe Beginn der Wohnungslosigkeit und das zurückhaltende Hilfesuchverhalten. Die Flucht vor Gewalt war ein entscheidender Auslöser für den Wohnungsverlust und sollte auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der psychischen Krankheiten diskutiert werden. Diese Studie ist die erste an wohnungslosen Frauen außerhalb von Großstädten. Auslösesituation, Hilfebedarf und Hilfesuchverhalten scheinen sich von dem männlicher Wohnungsloser deutlich zu unterscheiden. Die Ergebnisse sollten in weiteren geschlechtsspezifischen Untersuchungen überprüft werden.

Abstract

Aim: The aim of the study was to investigate the psychosocial situation of all homeless women in a southern German university town. Method: The scope, structure and whereabouts of the target group were initially unknown. 17 of 22 homeless women identified agreed to participate in an extensive study including the Structured Clinical Interview for DSM-IV (SKID-I). Results: The prevalence of diagnosed psychiatric disorders was 71 %; the leading disorder was substance abuse/dependence (43 %), followed by anxiety disorders (35 %) and schizophrenia (12 %). Multiple diagnoses were made in 35 % of the women. Discussion: Striking features were the often early onset of homelessness and the reticence in seeking help. The flight from violence was a crucial precipitant of the loss of the home and should also be discussed in the context of the development of the psychiatric disorders. This study is the first involving women outside major cities. Precipitant situation, need for help and help-seeking pattern appear to deviate markedly from those of homeless men. The results should be verified in further gender-specific studies.

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PD Dr. Gerhard Längle

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