Neuroleptika sind immer noch ungeliebte Medikamente. Sie haben nach wie vor einen
schlechten Ruf. Dabei ist bemerkenswert, dass sie von der Öffentlichkeit mit größeren
Vorbehalten betrachtet werden als von den meisten Kranken mit Neuroleptikaerfahrung:
Sie wirkten nur symptomatisch, sie dämpften nur, nähmen den Kranken ihren eigenen
Willen und hätten vielfältige unerwünschte Wirkungen. Einiges davon ist richtig, anderes
nicht; aber davon später. Richtig ist allerdings, dass die Neuroleptika unvollkommene
Medikamente sind, dass sie viele Wünsche offen, viele Hoffnungen unerfüllt lassen
- auch die neuen Substanzen, die Neuroleptika der zweiten Generation, die so genannten
Atypika.
Historischer Rückblick
Historischer Rückblick
Um die Bedeutung der Neuroleptika für die Psychosebehandlung angemessen zu würdigen,
empfiehlt sich ein kurzer Rückblick auf die Psychiatrie ohne Neuroleptika. Dazu müssen
wir gar nicht sehr weit zurückgehen: Nach der Entdeckung der „antipsychotischen” Wirkung
des Chlorpromazins (Largactil, Megaphen) durch französische Ärzte 1952 und ersten
klinischen Tests 1953 begann 1954, also vor genau 50 Jahren, ein wahrer Siegeszug
des neuen Medikaments und seiner Nachfolger durch die psychiatrischen Kliniken der
Welt, durch die psychiatrischen Anstalten jener Zeit. Die Hälfte dieser Zeit habe
ich mit einem Buch begleitet. Auch das ist Anlass für eine kritische Würdigung.
Damals, im ersten Nachkriegsjahrzehnt, stand das 100 Jahre alte System der Versorgung
bzw. Verwahrung psychisch Kranker vor dem Zusammenbruch. Für immer mehr Kranke wurde
immer weniger Hilfe angeboten. Die Verhältnisse in den Anstalten seien teilweise „menschenunwürdig
und unmenschlich” hieß es noch 1973 im ersten Zwischenbericht der deutsche Psychiatrie-Enquete.
Die damals (vor 1954) üblichen Behandlungsmethoden waren Ausdruck der Hilflosigkeit.
Dabei waren Insulinkur und Elektrokrampftherapie schon ein Fortschritt gegenüber Dauerbädern,
lebensgefährlichen Barbituratschlafkuren und permanenter Einschließung. Ein bedeutender
Schweizer Psychiater schrieb in seinen Erinnerungen: Es war die Hölle.
Euphorische Anfänge
Euphorische Anfänge
Das war die Ausgangssituation für die vorübergehend euphorische Begrüßung der ersten
Neuroleptika. Sie beruhigten Erregte, ohne sie einzuschläfern. Sie vertrieben die
psychotische Angst. Sie unterdrückten Halluzinationen. Sie lösten den Wahn auf. Alles
das waren Dinge, die vorher kaum jemand für möglich gehalten hatte. Aber sie machten
die Kranken nicht gesund, sie heilten sie nicht. Wenn man sie allzu rasch absetzte,
flammten die Symptome meist schnell wieder auf. Und sie hatten Nebenwirkungen.
Am Anfang fiel vor allem auf, dass sie in wirksamer Dosis oft gleichzeitig zu Müdigkeit
und innerer Trägheit führten, dass sie das verstärkten, was wir später Negativsymptome
nannten. Deshalb galt es von Anfang an als Kunstfehler, nur Medikamente zu geben und
nicht gleichzeitig Beschäftigung und soziale Anregung zu vermitteln - nicht dass das
überall beherzigt wurde! Die extrapyramidalen Nebenwirkungen, die oft zu noch größeren
Beeinträchtigungen führten, wurden erst später beobachtet.
Aber mit Hilfe von Neuroleptika hatten die Psychosekranken erst mal eine Chance, ihre
Gedanken durch äußere Einwirkungen zu ordnen, hatten ihre Seelen und ihre Körper Gelegenheit,
an die Zeit vor der akuten Psychose anzuknüpfen und Prozesse der Selbstheilung einzuleiten;
und das sollten wir trotz aller Unzulänglichkeiten der neuen Medikamente nicht unterschätzen.
Von der Kur zur Hochdosierung
Von der Kur zur Hochdosierung
Dabei ist eines zu beachten: Weil die Neuroleptikatherapie ein radikal neues Prinzip
war, hatten Therapeuten und Kranke gleichermaßen einen Prozess zum bestmöglichen Umgang
mit den neuen Substanzen durchzumachen: Am Anfang stand die Kur, vorzugsweise die
Injektionskur über sechs Wochen - wie etwa beim Insulin. Es folgte die niedrig dosierte
Tabletten- oder Tropfenbehandlung - etwa 3 mg Haloperidol oder 150 mg Chlorpromazin
am Tag über sechs Wochen oder drei Monate; dann die längerzeitige Behandlung zur Rückfallverhütung,
schließlich die Dauerbehandlung mit niedrigen Dosen langzeitig wirksamer Depotpräparate.
Das ging eigentlich ganz gut. Aber je mehr - auch im Rahmen der Psychiatriereform
- die „therapieresistenten” Langzeitpatienten ins Blickfeld gerieten, desto mehr entgleiste
die Neuroleptikabehandlung nach dem Prinzip „viel hilft viel”. Bis zu 3 g (3000 mg)
Haloperidol wurden in den USA zeitweilig verabreicht; und bestimmte Interessenvertreter
behaupteten dreist, je höher die Dosis, desto geringer die Nebenwirkungen.
Das war natürlich Unsinn. Aber manche Ärzte waren in ihrem therapeutischen Furor,
auch noch den letzten „alten Langzeitpatienten” zu „heilen”, nicht zu bremsen.
Ernüchterung
Ernüchterung
So kam es, dass die Neuroleptikabehandlung spätestens Anfang der 80er-Jahre vor einem
Trümmerhaufen stand. Sie hatte des Vertrauen vieler Kranker und weiter Teile der Öffentlichkeit
verspielt. Der Spiegel schrieb 1980 in einer berüchtigten Titelgeschichte von „sanftem
Mord”; die Grünen im Bayrischen Landtag wollten die Neuroleptika verbieten lassen,
und auch die Schweizerische Pro Mente Sana ließ (1988) kein gutes Haar an den Medikamenten.
Am wichtigsten aber war die resignierte Feststellung zweier angesehener internationaler
Experten - am wichtigsten deswegen, weil sie eine doppelte Wende einleitete - zurück
zur Niedrigdosierung und weiter zur Suche nach besseren Medikamenten:
„Für einige Patienten ist das Elend der Behandlungsfolgen - insbesondere Akathisie,
Akinesie und - weniger häufig Spätdyskinesie - so schwerwiegend wie die Symptome der
Krankheit selber. Andere sprechen auf die verfügbaren Medikamente nur unzureichend
an; die quälendsten Krankheitssymptome erfahren keine Linderung. Die Schizophrenie
kann aber eine so schwere Krankheit sein, dass man Behandlungsverfahren in Betracht
ziehen muss, die nicht so sicher sind, wie man das gern hätte.”
St. Marder und Th. Van Putten schrieben das 1988 im Zusammenhang mit ihren Bemühungen,
die Zulassung des Leponex in den USA zu erreichen.
Das Dilemma
Das Dilemma
Das Dilemma war Folgendes: Es gab zwar mittlerweile über 40 verschiedene Neuroleptika;
aber diese waren mit einer Ausnahme das, was man heute „konventionell” nennt: Sie
zielten auf die Blockade der D2-Rezeptoren der Nervenzellen, ganz gleich welcher chemischen
Gruppierung sie angehörten - und unbeschadet der Tatsache, dass man bei der Einführung
von Chlorpromazin, Haloperidol und ihren Anverwandten herzlich wenig über Neurotransmitter,
Neurorezeptoren und deren Funktion wusste.
Sie alle hatten etwas gemeinsam. Sie bewirkten extrapyramidalmotorische Beeinträchtigungen
wie das Parkinsonoid, die Akathisie (quälende Bewegungsunruhe), die gefährliche Frühdyskinesie,
und bei längerer Anwendung die Gefahr der andauernden Spätdyskinesie.
In ihren Wirkungen unterschieden sie sich kaum; bei den Nebenwirkungen standen bei
den einen - den sog. niederpotenten - Müdigkeit und vegetative Einschränkungen im
Vordergrund, bei den anderen - den hochpotenten -, z. B. Haldol und Fluanxol, die
extrapyramidalen Zeichen.
Das bedeutet nicht, dass diese Neuroleptika der ersten Generation keine entscheidenden
Fortschritte in der Schizophrenietherapie gebracht hätten. Es bedeutet auch nicht,
dass alle Patientinnen und Patienten vor allem unter Nebenwirkungen litten. Im Gegenteil,
vor allem bei niedrigen und mittleren Dosen, zu denen wir seit einigen Jahren endlich
zurückgekehrt sind, sind sie bei sehr vielen Kranken nach wie vor wirksam und gut
verträglich. Aber sie haben ihre Grenzen.
Neue Hoffnung
Neue Hoffnung
Vor allem die schädlichen Auswirkungen der Hochdosierung bei begrenzter Wirkung bei
Chronifizierung und „Therapieresistenz” waren es, die nach 30-jährigem Stillstand
endlich den Anstoß zu Neuentwicklungen gaben, zu den sog. atypischen, richtiger den
Neuroleptika der zweiten Generation, gaben. Inzwischen gibt es zehn solcher Substanzen,
von denen zwei allerdings kurz nach der Einführung wegen gefährlicher Nebenwirkungen
wieder vom Markt genommen werden mussten. Verfügbar sind Risperdal, Zyprexa, Seroquel,
Solian, Zeldox, Aripiprazol - und Leponex.
Letzteres ist zwar schon 30 Jahre alt, aber es ist trotzdem „atypisch”. Es war nicht
nur das erste Neuroleptikum, das praktisch keine extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen
hatte. Es wurde nach seiner verspäteten Einführung in den USA Anfang der 90er-Jahre
zum Modell für die Neuentwicklungen - und es ist nach meiner Überzeugung nach wie
vor das wirksamste aller Neuroleptika.
Dass die anderen überhaupt notwendig wurden, hängt mit einer gefährlichen - seltenen,
aber potenziell tödlichen - Nebenwirkung des Leponex zusammen, einer Schädigung der
weißen Blutzellen, die bis zu deren völligem Verschwinden führen kann, einer Agranulozytose.
Anwendungseinschränkungen des Herstellers, ein rigoroses Überwachungssystem und verbesserte
hämatologische Behandlungsmöglichkeiten haben aber dazu geführt, dass tödliche Verläufe
zur absoluten Ausnahme geworden sind.
Zweite Generation
Zweite Generation
Die Neuroleptika der zweiten Generation, die ganz unterschiedlichen chemischen Gruppierungen
angehören, versuchen auf verschiedenen, recht komplexen Wegen die „extrapyramidale
Falle” zu umgehen, etwa durch Selektivität ihrer Angriffspunkte im Dopaminsystem oder
durch Verminderung ihrer Rezeptorbindungskraft. Das ist in unterschiedlichem Maße
gelungen, im Allgemeinen recht gut.
Die meisten neuen Neuroleptika sind heute bei vergleichbarer Dosis ähnlich oder etwas
besser wirksam als etwa Haloperidol - und subjektiv besser verträglich. Es besteht
auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die meisten von ihnen bei langer Anwendung
nicht zu Spätdyskinesien führen werden.
Aber sie sind natürlich nicht ohne Nebenwirkungen. Dazu gehören bei den meisten deutliche
Gewichtszunahmen mit der Gefahr der Entwicklung einer diabetischen Stoffwechsellage
und bei einzelnen Wirkungen auf das blutbildende System. Es ist hier weder der Ort,
ihren ganzen Katalog möglicher unerwünschter Wirkungen aufzuführen, noch zwischen
den einzelnen Substanzen zu differenzieren. Sie unterscheiden sich und bieten damit
die Chance einer individualisierten Psychopharmakotherapie.
Die Chance, die neuen Medikamente könnten zu einer deutlichen Verbesserung von kognitiven
Störungen oder Negativsymptomen beitragen, beurteile ich allerdings skeptisch.
Zwischenbilanz
Zwischenbilanz
Die Pharmakotherapie schizophrener Psychosen befindet sich in Bewegung. Die Neuentwicklungen
des vergangenen Jahrzehnts sind ermutigend. Das Spektrum verfügbarer Neuroleptika
hat sich entscheidend vergrößert. Eine auf die einzelnen Kranken abgestimmte Therapie
ist heute besser möglich als vor zehn Jahren. Sie erfordert allerdings noch mehr Kenntnisse
und Erfahrungen als damals.
Die neuen Neuroleptika haben die alten nicht überflüssig gemacht. Es gibt zahlreiche
Kranke, die diese in angemessener Dosis bei sehr guter Wirkung auch subjektiv gut
vertragen. Es gibt deshalb keinen Grund, sie ihnen vorzuenthalten. Negativsymptome
und kognitive Störungen sind nach wie vor die Nagelprobe der Neuroleptikatherapie.
Es gibt gute Gründe, dass diese, wenn überhaupt nur über Substanzen mit völlig neuen
Wirkungsprinzipien und ganz andere Angriffspunkte erreicht werden können.
Ein Wort noch zu den Kosten. Es ist nicht unmoralisch, darüber nachzudenken, was es
bedeutet, wenn bestimmte neue Medikamente bei vergleichbarer Wirkung und nur geringfügig
ausgeprägteren Nebenwirkungen, wie jüngst dem Wirtschaftsteil der FAZ (19.3.04, 24)
zu entnehmen, fast 100-mal so viel kosten wie Haloperidol (acht Dollar gegenüber 10
Cent pro Tag) - und das nicht nur im Hinblick auf Länder der „Dritten Welt”.