Suchttherapie 2005; 6(1): 42-43
DOI: 10.1055/s-2004-813763
Versorgung aktuell

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Dramatischer Anstieg von Opiatabhängigen in 2003!

Dramatic increase of Opiate Dependence in 2003!U. Verthein1
  • 1Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg ZIS
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Dr. Uwe Verthein

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg ZIS, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: verthein@sozialwiss.uni-hamburg.de

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Publication Date:
24 January 2005 (online)

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So oder ähnlich könnte die Überschrift lauten, wenn man sich die aktuellen Zahlen der Deutschen Suchthilfestatistik anschaut. Die kürzlich in den Tabellenbänden vom IFT (unter www.suchthilfestatistik.de) veröffentlichten Daten der in ambulanten Einrichtungen behandelten Klienten (bzw. Betreuungsfälle) zeigen einen deutlichen Anstieg der Hauptdiagnose „Opioide” - um 37 %! - zwischen 2002 und 2003. Dem gegenüber nahm im gleichen Zeitraum der Anteil an Alkoholklienten deutlich ab. Folgt man den bisher in der Zeitschrift SUCHT [1] und im Jahrbuch Sucht 2004 [2] veröffentlichten Tabellen gültiger Daten - d. h. die Fälle „ohne” Hauptdiagnose bleiben unberücksichtigt -, steigt der Prozentsatz Opiatabhängiger im ambulanten Suchthilfesystem von 14,4 % auf 19,7 %.

Auf dem zweiten Blick zeigt sich - wiederum abzüglich der Klienten, deren Hauptdiagnose nicht bekannt ist - ein deutlicher Anstieg der Basiszahl aller erfassten Fälle gegenüber 2002 von 73 733 auf 106 386, also um 44 %. In der betreffenden Zeile „Opioide” fällt zudem auf, dass sich deren Fallzahl sogar verdoppelt hat, von 10 575 auf 20 968!

Nun könnte man die Sache auf sich beruhen lassen, den drastischen Anstieg Opiatabhängiger in Deutschland mit der nahe liegenden Erklärung einer gestiegenen Basiszahl begründen und zur Tagesordnung übergehen. Man muss allerdings wissen, dass die nationale Suchthilfestatistik (früher: EBIS-Berichte) nicht irgendeine Datensammlung darstellt, sondern mit ihr seit vielen Jahren der Anspruch verbunden ist, die Versorgungsstruktur zu analysieren, eventuelle Mängel darzustellen und auf Grundlage der Klientencharakteristika Trends langfristiger Veränderungen aufzuzeigen. Die Statistik soll zudem als Grundlage für die Planung von Forschungsprojekten und Modellprogrammen zur Verbesserung einzelner Aspekte der Struktur und Qualität ambulanter Einrichtungen dienen [1]. Und nicht nur das: Diese Statistiken waren und sind Grundlage für zahlreiche deutsche und internationale Berichterstattungszwecke von Ministerien und Verbänden, EU-Behörden (EBDD), WHO und UNO. Geht es zum Beispiel um drogenpolitische Streitfragen wie die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums oder die Einführung eines Modellprojekts heroingestützter Behandlung - dass nach den neuesten Daten nicht, wie vielfach bemängelt, zu spät, sondern offensichtlich geradezu pünktlich installiert wurde -, werden diese Zahlen herangezogen, um die eine oder andere Position zu unterstützen. Insofern kann dieser Statistik eine hohe Bedeutung für Politik und Praxis der Suchthilfe in Deutschland unterstellt werden.

Andererseits stehen diese aktuell präsentierten Zahlen der Suchthilfestatistik überhaupt nicht im Einklang mit den praktischen Erfahrungen und Dokumentationsdaten von Landes-Suchthilfestatistiken wie z. B. aus Hamburg oder Schleswig-Holstein. Deren statistische Berichte weisen für die Jahre 2002 und 2003 einen stabilen Anteil betreuter Opiatabhängiger aus [3] [4] [5] [6]. Auch Praktiker berichten eher von einer leichten Abnahme der Anzahl opiatabhängiger Personen und im Gegenzug von einem zunehmenden Crack- und Kokainproblem in ihren Einrichtungen.

Nun stellt sich natürlich die Frage, welche Wirklichkeit in den letzten 15 Jahren von der nationalen Suchthilfestatistik abgebildet wurde. Den meisten, die sich mit der Dokumentation von Daten der Suchtkrankenhilfe befassen, ist seit längerem bekannt, dass v. a. die Großstädte und Ballungszentren, in denen das so genannte Drogenproblem ein größeres Ausmaß annimmt, bisher (also vor 2003) in der Suchthilfestatistik unterrepräsentiert waren bzw. z. T. vollständig fehlten. So sind in 2003 v. a. Einrichtungen aus Berlin, Hessen, NRW und Schleswig-Holstein dazu gekommen und entsprechend mehr Betreuungsfälle in die Auswertung eingeflossen.

Anders herum betrachtet drängt sich der Verdacht auf, dass die jahrelange propagierte deutschlandweite Repräsentativität der nationalen Suchthilfestatistik offensichtlich einem tief greifenden Irrtum unterlag, bei dem man sich jedoch nur schwerlich vorstellen kann, dass er den Verfassern der Statistiken nicht bekannt gewesen wäre. Gleichwohl, in den deutschen Suchthilfestatistiken dieser Jahre finden sich zu einer möglicherweise eingeschränkten Repräsentativität der Daten keine Hinweise. Die Bezeichnung „Deutsche Suchthilfestatistik” impliziert hingegen den Anspruch, repräsentative Daten für ganz Deutschland zu liefern. Die Beschreibung von Konsumtrends über die Jahre hinweg wird in der Regel unkritisch anhand der nackten Daten vorgenommen, eine (methoden-)kritische Diskussion erfolgte nicht einmal ansatzweise.

Was folgt daraus? Müssen Bücher neu geschrieben, die internationale Berichterstattung überarbeitet und sogar suchtpolitische Entscheidungen neu überdacht werden? Soweit wird es wohl nicht kommen müssen. Dennoch ergeben sich mindestens drei Schlussfolgerungen, die beim Umgang mit der bundesdeutschen nationalen Suchthilfestatistik Berücksichtigung finden sollten:

  • Die nationalen Suchthilfestatistiken der Vorjahre haben offensichtlich nur eine eingeschränkte Aussagekraft.

  • Es sollten Überlegungen angestellt werden, wie die Repräsentativität der nationalen Suchthilfestatistik verbessert werden kann.

  • Es sollte diskutiert werden, wie das Qualitätsmanagement bei der Erstellung der nationalen Suchthilfestatistik optimiert werden kann.

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Literatur

  • 1 Welsch K, Sonntag D. Jahresstatistik 2002 der ambulanten Suchtkrankenhilfe in Deutschland.  Sucht. 2003;  49 (Sonderheft 1) S7-S41
  • 2 Welsch K, Sonntag D. Jahresstatistik der professionellen Suchtkrankenhilfe. DHS Jahrbuch Sucht 2004 Geesthacht; Neuland 2003: 151-170
  • 3 Martens M -S, Lorenzen J, Verthein U. et al .Statusbericht 2002 der Hamburger Basisdatendokumentation. Auswertungsleistungen und Bericht zur Hamburger Basisdatendokumentation 2003. BADO e. V. Ambulante Suchthilfe in Hamburg Hamburg; Kreutzfeld Verlag 2003
  • 4 Martens M -S, Richter L. Statusbericht 2003 der Hamburger Basisdatendokumentation. Kurzfassung. Auswertungsleistungen und Bericht zur Hamburger Basisdatendokumentation 2003. BADO e. V. Ambulante Suchthilfe in Hamburg Hamburg; Kreutzfeld Verlag 2004
  • 5 Martens M -S, Schütze C, Kalke J. et al .Jugendliche und junge Erwachsene in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Kiel; 2004 Band 4
  • 6 Schütze C, Buth S, Kalke J. et al .Die Struktur der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Kiel; (im Druck) Band 5

Dr. Uwe Verthein

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Literatur

  • 1 Welsch K, Sonntag D. Jahresstatistik 2002 der ambulanten Suchtkrankenhilfe in Deutschland.  Sucht. 2003;  49 (Sonderheft 1) S7-S41
  • 2 Welsch K, Sonntag D. Jahresstatistik der professionellen Suchtkrankenhilfe. DHS Jahrbuch Sucht 2004 Geesthacht; Neuland 2003: 151-170
  • 3 Martens M -S, Lorenzen J, Verthein U. et al .Statusbericht 2002 der Hamburger Basisdatendokumentation. Auswertungsleistungen und Bericht zur Hamburger Basisdatendokumentation 2003. BADO e. V. Ambulante Suchthilfe in Hamburg Hamburg; Kreutzfeld Verlag 2003
  • 4 Martens M -S, Richter L. Statusbericht 2003 der Hamburger Basisdatendokumentation. Kurzfassung. Auswertungsleistungen und Bericht zur Hamburger Basisdatendokumentation 2003. BADO e. V. Ambulante Suchthilfe in Hamburg Hamburg; Kreutzfeld Verlag 2004
  • 5 Martens M -S, Schütze C, Kalke J. et al .Jugendliche und junge Erwachsene in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Kiel; 2004 Band 4
  • 6 Schütze C, Buth S, Kalke J. et al .Die Struktur der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Kiel; (im Druck) Band 5

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