Geburtshilfe Frauenheilkd 2004; 64(10): 1090-1097
DOI: 10.1055/s-2004-821250
Originalarbeit

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Frauenheilkunde im Dienst der Eugenik - Ärztliche Karrieren an der Universitätsfrauenklinik Heidelberg im Nationalsozialismus

Gynecology Serving Eugenics - Medical Careers at the University Women's Clinic in Heidelberg under National Socialist RuleR. Bröer1
  • 1Universitätsklinikum Heidelberg, Institut für Geschichte der Medizin, Heidelberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 October 2004 (online)

Zusammenfassung

Fragestellung: Zur politischen und medizinischen Charakterisierung der Ärzte, die im Nationalsozialismus an einer Frauenklinik arbeiteten, wurden die ärztlichen Mitarbeiter der Universitätsfrauenklinik in Heidelberg nach folgenden Kriterien untersucht: Karriere, Mitgliedschaft in NS-Organisationen, politische Einstellungen und Aktivitäten, Forschungsprofil und Beteiligung an inhumanen Praktiken.

Material und Methode: Als Quellenmaterial dienten die Akten des Universitätsarchivs Heidelberg und des Generallandesarchivs in Karlsruhe, außerdem die Veröffentlichungen der Ärzte und die von ihnen betreuten Dissertationen. Die Universitätsfrauenklinik wurde 1930 - 1934 von Heinrich Eymer, 1934 - 1964 von Hans Runge geleitet. Neben dem Oberarzt sah der Stellenplan drei weitere planmäßige, vier außerordentliche und vier Volontärassistenten vor. Insgesamt wurden die Karrieren von 34 Ärzten analysiert.

Ergebnisse: Direktor Eymer und seine Assistenten gehörten mit einer Ausnahme bis 1934 nicht der NSDAP an. Dem einzigen jüdischen Dozenten wurde die Lehrbefugnis entzogen. Direktor Runge, sieben von acht der planmäßigen Assistenten und mindestens vier außerordentliche Assistenten traten bis 1933 in die NSDAP, SA oder SS ein. An der Durchführung von Zwangssterilisationen und eugenischen Abtreibungen beteiligten sich alle Mitarbeiter. Runge galt als entschiedener Nationalsozialist. Er veranlasste die wissenschaftliche Auswertung der Sterilisationen und setzte ein eugenisches Forschungsprogramm zur Geburtensteigerung durch, in das die Mehrzahl der Habilitanden und Doktoranden eingebunden wurde.

Schlussfolgerung: Der sehr hohe Anteil des medizinischen Personals in NS-Organisationen, die bereitwillige Mitarbeit an Zwangssterilisationen und die breite Beteiligung an Forschungen zur Geburtensteigerung kennzeichnen die Universitätsfrauenklinik als eine vollständig und widerstandslos in den NS-Staat und dessen eugenische Gesundheitspolitik integrierte Institution.

Abstract

Purpose: The aim of this paper is to characterize the political and medical attitudes of physicians who worked at a gynecological clinic under National Socialist rule. To this end various data of the medical staff at the University Department of Gynecology and Obstetrics in Heidelberg were analyzed: medical career, membership in Nazi organizations, political attitudes and activities, research profile and participation in inhuman practices.

Material and Methods: Documents in the University Archive in Heidelberg and the General State Archive of Baden in Karlsruhe were used as historical sources in addition to publications and dissertations. The University Department of Gynecology and Obstetrics was directed by Heinrich Eymer between 1930 and 1934 and by Hans Runge between 1934 and 1964. In addition to the assistant medical director there were three more ordinary medical residents, four extraordinary residents and four voluntary residents. All together the careers of 34 physicians were examined.

Results: Director Eymer and his residents (with one exception) did not join the NSDAP until well after 1934. The teaching permission of the only Jewish university lecturer was withdrawn. Director Runge, seven out of eight of his ordinary residents and at least four extraordinary residents joined the NSDAP, SA or SS until 1933. The whole staff was involved in the management of compulsory sterilizations and eugenic abortions. Runge was looked upon as a confirmed supporter of National Socialism. He was responsible for the scientific evaluation of the sterilizations and implemented eugenic research aimed at increasing the birthrate. The vast majority of the residents qualifying for lecturing and most doctoral students participated in this program.

Conclusion: The University Department of Gynecology and Obstetrics in Heidelberg completely and without resistance accepted the National Socialist revolution and its eugenic health programs and practices. With few exceptions the medical staff joined the Nazi party organizations, readily participated in the compulsory sterilizations and contributed to eugenic research.

Literatur

  • 1 Horban C. Gynäkologie und Nationalsozialismus: Die zwangssterilisierten, ehemaligen Patientinnen der I. Universitätsfrauenklinik heute - eine späte Entschuldigung. München; Herbert Utz Verlag 1999
  • 2 Link G. Eugenische Zwangssterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche im Nationalsozialismus. Dargestellt am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg. Frankfurt/M.; Lang 1999
  • 3 Koch T. Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen. Frankfurt/M.; Mabuse 1994
  • 4 Czarnowski G. „Die restlose Beherrschung dieser Materie“. Beziehungen zwischen Zwangssterilisation und gynäkologischer Sterilitätsforschung im Nationalsozialismus.  Z Sex-Forsch. 2001;  14 226-246
  • 5 Stauber M, Kindermann G. Über inhumane Praktiken der Frauenheilkunde im Nationalsozialismus und ihre Opfer. Untersuchung zu konkreten Ereignissen.  Geburtsh Frauenheilk. 1994;  54 479-489
  • 6 Kuß E. Ein Klinikdirektor in politischer Bedrängnis. Der Direktor der I. Frauenklinik der Universität München, Professor Dr. Heinrich Eymer, „subject of investigation“ der Militärregierung und „Betroffener“ im Spruchkammerverfahren, jetzt im Zwielicht der „Vergangenheitsbewältigung“.  Wurzbg Medizinhist Mitt. 2000;  19 283-388
  • 7 Link G. Schwangerschaftsabbrüche bei Zwangsarbeiterinnen im Dritten Reich.  Dtsch Med Wochenschr. 2001;  126 218-219
  • 8 Kuß E. Schwangerschaftsabbrüche bei Zwangsarbeiterinnen im Dritten Reich.  Dtsch Med Wochenschr. 2001;  126 898
  • 9 Eymer H. Die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung der Frau. Gütt A, Rüdin E, Ruttke F. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. 2. Aufl. München; Lehmanns Verlag 1936
  • 10 Schultze-Rhonhof F. Schwangerschaft und Lungentuberkulose.  Arch Gynakol. 1926;  128 563-616
  • 11 Generallandesarchiv Karlsruhe. 466/Zug 1980/24 Nr. 48. 
  • 12 Menge C, Schultze-Rhonhof F. Über inguinale Sterilisierung.  Dtsch Med Wochenschr. 1935;  61 621-623
  • 13 Universitätsarchiv Heidelberg. PA 5418. 
  • 14 Kleine H. Klinische Sonette. Lindenthal; Wellersberg Verlag 1927: 3
  • 15 Kleine H. Die Erbpathologie in der Frauenheilkunde.  Ziel und Weg. 1938;  8 482-489
  • 16 Universitätsarchiv Heidelberg. Acc. 2/94. 
  • 17 Weckbecker A. Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933 - 1945. Heidelberg; Müller 1985 142-150 197-199
  • 18 Universitätsarchiv Heidelberg. H-III-558/1. 
  • 19 Runge H. Blutung und Fluor. 2. Aufl. Dresden; Steinkopff 1936: 16-27
  • 20 Runge H. Über einige besondere Merkmale der übertragenen Frucht.  Zentralbl Gynakol. 1942;  66 1202-1206
  • 21 Runge H. Aussprache zur Tubensterilisierung.  Zentralbl Gynakol. 1936;  60 1838-1839
  • 22 Busse O. Über den Sauerstoffverbrauch isolierter Meerschweinchengewebe in den ersten Lebenstagen.  Pflugers Arch Gesamte Physiol Menschen Tiere. 1938;  240 202-211
  • 23 Vöge A. Neue Wege in der hormonalen Behandlung der glandulär-cystischen Hyperplasie.  Arch Gynakol. 1942;  174 1-45
  • 24 Sievers K. Experimentelle Untersuchungen über das Vorkommen wehenerregender Stoffe im Urin und Blut Normalgebärender und Eklamptischer.  Z Geburtshilfe Gynakol. 1941;  122 1-14
  • 25 Arbogast W. Vergleichende Kernmessungen an der menschlichen Uterusmuskulatur zum Nachweis einer lokalen Hormonwirkung der Placenta.  Z Mikrosk Anat Forsch. 1943;  54 297
  • 26 Hoff F. Der Schwangerschaftsureter. Ein experimenteller Beitrag zum Nachweis seiner Entstehung. Stuttgart; Enke 1943
  • 27 Hasenfuß W. Untersuchungen über den geistigen Zustand von Kindern der wegen angeborenen Schwachsinns sterilisierten Frauen, nebst Aufnahmen über den Gesundheitszustand der Operierten und ihrer sozialen Verhältnisse. Heidelberg; Diss. med. 1938

Dr. Ralf Bröer

Universitätsklinikum Heidelberg
Institut für Geschichte der Medizin

Im Neuenheimer Feld 327

69120 Heidelberg

Email: broer@uni-hd.de

    >