Das Vorkommen einer Einzelniere ist eine relativ häufige angeborene Anomalie des Urogenitrakts
bei Kindern. Sie wird entweder anatomisch durch eine Nierenagenesie verursacht oder
resultiert aus einer nicht funktionierenden kontralateralen Niere wegen einer nonzystischen
(NCDK) oder multizystischen dysplastischen Nierenerkrankung (MCDK). Wie hoch der Anteil
an weiteren urologischen Auffälligkeiten an der Einzelniere und welches die Konsequenz
ist, untersuchten Dr. Kazuhiro Kaneyama et al., Juntendo University School of Medicine,
Tokyo/Japan (J Pediatr Surg 2004; 39: 85-87).
Die Studie umfasste 57 Kinder mit der Diagnose einer Einzelniere, die zuvor mit Ultraschall,
CT, Ausscheidungsurogramm oder Szintigraphie untersucht worden waren. Bei über der
Hälfte der Kinder war die Einzelniere als Zufallsbefund bei einer bildgebenden Diagnostik
aus anderen Gründen aufgefallen. Bei anderen Kindern wurde ein Ausscheidungsurogramm
oder nuklearmedizinische Untersuchung wegen rezidivierender Harnwegsinfekte einer
im Ultraschall festgestellten Hydronephrose durchgeführt. Bei über der Hälfte der
Kinder wurde eine MCDK einer Niere diagnostiziert, bei 17 lag eine anatomisch bedingte
Einzelniere und bei zehn eine NCDK der Zweitniere vor. Zystennieren (MCDK) waren allerdings
zu einem hohen Prozentsatz bereits pränatal im Ultraschall erkannt worden, während
eine Nierenagenesie und eine NCDK im Kleinkindalter zwischen zwei und vier Jahren
erstmals diagnostiziert wurde.
Weitere urologische Auffälligkeiten fanden sich insgesamt bei 40% der Solitärnieren
bzw. der funktionierenden der beiden Nieren. Die linke Seite war dreimal so häufig
betroffen. Die Inzidenz dieser Auffälligkeiten war bei Kindern mit Nierenagenesie
und NCDK mit 65 bzw. 70% signifikant höher als bei MCDK mit 17%. Am häufigsten lag
ein vesikouretraler Reflux (VUR) vor, wiederum häufiger bei Patienten mit Nierenagnesie
und NCDK (40 bzw. 41%) als bei Kindern mit multizystischer Niere (17%) war. Als nächsthäufige
Anomalie folgten Ureterabgangsstenosen und Uretermündungsstenosen in 5-20% bei Kindern
mit Einzelniere und NCDK, wogegen diese pathologischen Befunde bei Patienten mit MCDK
gar nicht vorkamen. Diese Auffälligkeiten wie VUR oder Abgangsstenose hatten sich
nur bei zwei Dritteln der Kindern durch Harnwegsinfektionen oder im Ultraschallbild
bemerkbar gemacht. Serumkreatinin und Serumharnstoff befanden sich bei allen Kindern
im Normbereich. Trotzdem zeigte sich bei 8 Kindern mit VUR im Szintigramm bereits
eine minimale bis leichte Funktionseinschränkung der gesunden Niere.
Eine chirurgische Korrektur wurde bei 87% der Kinder durchgeführt, zumeist wegen hochgradigem
VUR oder schwerer, im Szintigramm nachgewiesener Obstruktion der ableitenden Harnwege.
Die Kinder waren im Durchschnitt 5 Jahre alt. Intra- oder postoperative Komplikationen
traten nicht auf und bei keinem Kind entwickelte sich in der mehrjährigen Nachbeobachtungszeit
eine gestörte Nierenfunktion oder arterieller Hypertonie.
Die Autoren empfehlen bei jedem Kind mit einer Einzelniere ein Screening mittels Miktionszystourethrogramm
auf weitere urologische Auffälligkeiten. Sie sind der Meinung, eine frühzeitige operative
Korrektur mit regelmäßigen Nachuntersuchungen die Nierenfunktion langfristig zu erhalten
hilft.
Nierenagenesie bei 3-jährigem Mädchen; die Nierenanlage links fehlt (Bild: Kinderurologie in Klinik und Praxis, Thieme, 2000).
Dr. Inge Kelm-Kahl, Wiesbaden
Kommentar zur Studie
Die Autoren dieses Artikel kommen zu 3 wesentlichen Schlussfolgerungen ihrer Datenerhebung:
1. Die Rate ipsilateraler assoziierter Harntraktanomalien bei Einzelnieren ist sehr
hoch (40%).
2. Bei jedem Kind mit Einzelniere sollte ein Miktionszystourethrogramm zum Ausschluss
eines vesikorenalen Refluxes erfolgen.
3. Operative Korrekturen sollten möglichst frühzeitig durchgeführt werden, um eine
Nierenschädigung zu verhindern.
Diese sehr verallgemeinernden Feststellungen bedürfen einer Reihe von Einschränkungen:
1. Die Rate ipsilateraler Harntraktanomalien bei Einzelnieren wird von den Autoren
überschätzt. Die Art der Datensammlung lässt eine erhebliche Selektion des Patientenkollektivs
vermuten. Es wurden retrospektiv die Krankenakten aus 20 Jahren aufgearbeitet. Unter
den Patienten finden sich viele Kinder, die wegen klinischer Symptome in die Klinik
gebracht worden waren. Allein 15 (65%) der 23 Kinder mit assoziierten Harntraktanomalien
fielen durch Harnwegsinfektionen oder andere klinische Symptome auf. Man darf daher
annehmen, dass der Anteil der Kinder mit Harntraktanomalien in diesem Kollektiv überrepräsentiert
war.
Dies wird auch dadurch deutlich, dass nur 17% der Kinder mit multizystischer Niere
Harntraktanomalien der kontralateralen, funktionellen Einzelniere aufwiesen. Diese
Kinder waren zu 97% im pränatalen Screening oder bei sonographischen Zufallsbefunden
aufgefallen. Dysplastische Nieren oder Nierenagenesie werden im pränatalen Screening
weniger gut erfasst, weil sie sonographisch nicht so leicht zu erkennen sind wie multizystische
Nieren. Die Tatsache, dass sich in diesen Kollektiven weit mehr Harntraktanomalien
fanden (65% bei kontralateraler Nierenagenesie und 70% bei kontralateraler Nierendysplasie),
könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie wesentlich häufiger durch klinische Symptome
wie Harnwegsinfektionen auffielen, deren Ursache die assoziierte Harnwegsanomalie
war.
Die Selektion des Patientenkollektivs wird auch durch die hohe Zahl von komplexen
Fehlbildungen deutlich, bei deren Abklärung Nierenanomalien entdeckt wurden. Allein
14 Kinder wiesen Analatresien, VACTER-Assoziation oder kloakale Fehlbindungen auf.
Bei all diesen komplexen Fehlbildungen kann ein breites Spektrum von Nieren- und Harnwegsfehlbildungen
auftreten. Die bei diesen Kindern gefundenen Harnwegsfehlbildungen der (funktionellen)
Einzelniere sind anders zu werten als bei sonst gesunden Kindern, denn sie sind möglicherweise
Teil der komplexen Fehlbildung.
Durch die Einbeziehung von "echten Einzelnieren" mit kontralateralen Nierenagenesie,
von rein dysplastischen Nieren (zu denen offensichtlich auch Nieren mit Refluxnephropathie
gezählt wurden), von multizystischen Nieren und von Nieren-/Harnwegsfehlbildungen
im Rahmen komplexer Fehlbildungen entsteht ein Sammelsurium von Entwicklungsstörungen,
deren einziges gemeinsames Merkmal die (funktionelle) Einzelniere ist. Sie alle in
einen Topf zu werfen und ein arithmetisches Mittel zu bilden, das dann als Inzidenz
von assoziierten Harnwegsfehlbildungen bei Einzelniere bezeichnet wird, ist nicht
unproblematisch.
Die Selektion des Patientenkollektivs und der damit verbundene Bias ist möglicherweise
der Grund für ähnliche Inzidenzangaben in den von den Autoren zitierten Arbeiten aus
der Literatur. Eine prospektive Datenerhebung im Rahmen eines sonographischen Neugeborenen-Screenings
könnte hier realistischere Zahlen liefern.
2. Ein radiologisches Miktionszystourethrogramm ist nicht prinzipiell bei jedem Kind
mit (funktioneller) Einzelniere notwendig. Auch bei Einzelnieren sollte das Prinzip
der risikoorientierten Diagnostik gelten. Zur weiterführenden Abklärung des Einzelnierenbefundes
wurde ein erheblicher diagnostischer Aufwand betrieben: Bei allen retrospektiv beschriebenen
Patienten wurde die Diagnose durch Ultraschall oder CT gestellt und durch ein i.v.Urogramm
oder eine Szintigraphie (DMSA oder DTPA-Szintigraphie) bestätigt; alle Kinder erhielten
ein MCU. Nur bei 16 Kindern wurde die Indikation zum MCU wegen einer Harnwegsinfektion
gestellt, bei 10 wegen einer Harnwegsdilatation. Bei den 31 restlichen Kindern wurde
das MCU als Screeningmethode zum Ausschluss eines VUR eingesetzt.
Inwiefern ein MCU bei Einzelniere obligatorisch durchgeführt werden sollte, ist nach
wie vor umstritten. Dies gilt insbesondere für Kinder mit multizystischer Niere (MCKD).
Bezeichnenderweise fanden die Autoren lediglich bei 17% der Kinder mit MCKD einen
VUR. Kuwertz-Bröking et al. berichteten kürzlich mit der Münsteraner Gruppe über 97
Patienten mit MCKD, die zum großen Teil bereits intrauterin aufgefallen waren. 19
(20%) der Kinder zeigten eine Nieren- oder Harnwegsanomalie der funktionellen Einzelniere;
lediglich bei ca. 5% fand sich ein VUR. Wegen der niedrigen Refluxrate halten Kuwertz-Bröking
et al. ein "Routine-MCU" für unnötig. Ein MCU wird in Münster jedoch bei folgenden
sonographischen oder klinischen Befunden durchgeführt:
Spektrum der Nierenveränderungen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Störung im Rahmen
der Nierenentwicklung (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).
-
Nierenbecken- und/oder Ureterdilatation
-
Nierenparenchymveränderungen (z.B. Hyperechogenität, kortikale Zysten)
-
Symptomatische Harnwegsinfektion
Auch eine fehlende kompensatorische Hypertrophie der funktionellen Einzelniere kann
Hinweis für einen vesikorenalen Reflux sein, sodass auch in einem solchen Fall ein
MCU durchgeführt werden sollte. Ein obligatorisches radiologisches Reflux-Screening
führt bei asymptomatischen Kindern mit völlig unauffälligem sonographischen Befund
der Einzelniere bei MCKD so selten zur Diagnose eines korrekturbedürftigen VUR, dass
es unterlassen werden kann.
3. Muss die Operationsindikation bei Einzelnieren besonders großzügig gestellt werden?
Bei 20 (87%!) aller 23 Kinder mit Harntraktanomalien der Einzelniere wurde eine operative
Korrektur durchgeführt. Dies betraf immerhin 13 (81%) aller 16 Kinder mit vesikorenalem
Reflux sowie sämtliche Kinder mit ureteropelviner Stenose und sämtliche (4) Kinder
mit Megaureter. Die konkreten szintigraphischen Befunde der Harnabflussstörungen und
die Refluxgrade werden von den Autoren leider nicht angegeben, sodass die Operations-Entscheidung
im Einzelfall nicht nachvollziehbar ist. Offenbar wurde jedoch die operative Korrektur
großenteils aus prophylaktischer Indikation durchgeführt, um einen möglichen Parenchymschaden
von der Einzelniere abzuwenden. Angesichts der hohen Maturationsquote bei primärem
VUR und einer hohen Rate an Rückbildungen der Harnabflussstörung bei ureteropelviner
Stenose und Megaureter ist eine rein prophylaktische Operationsindikation in den letzten
Jahren zunehmend infrage gestellt worden. Ob für die Einzelniere die Operationsindikation
wesentlich großzügiger gestellt werden sollte als bei bilateral normalen Nierenanlagen,
ist eine bislang nicht beantwortete Frage.
Zweifellos ist der Befund einer konnatalen Einzelniere ein ernstzunehmender und abklärungswürdiger
Befund - insbesondere dann, wenn sie mit komplexen Harnwegsfehlbildungen verbunden
ist. Der Einsatz strahlenbelastender, invasiver oder unangenehmer diagnostischer Maßnahmen
bei Kindern mit konnataler Einzelniere muss jedoch rechtfertigbar sein - insbesondere
durch begründete therapeutische Konsequenzen.
In jedem Falle ist den Autoren uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie für diese Risikogruppe
regelmäßige, langfristige Verlaufskontrollen fordern. Sie sollten die sonographische
Kontrolle des Nierenwachstums durch Volumenmessungen, die Beurteilung der Harnabflussverhältnisse,
die Bestimmung der Nierenfunktionsparameter und der Eiweißausscheidung im Urin sowie
Blutdruckmessungen umfassen.