Angehörige psychiatrischer Patienten haben bekanntermaßen vielfältige und zum Teil
schwere Belastungen durch die Erkrankung ihres Familienmitgliedes [1]
[2]
[3]. Diese bedingen eine Reihe von Erwartungen an die professionellen Helfer gerade
in akuten Krankheitsphasen und während der stationären Behandlung [4]: Die wichtigsten Erwartungen beziehen sich - entgegen den Erfahrungen aus vielen
Angehörigengesprächen - aber fast ausschließlich auf die Behandlung des Patienten.
Nur der Wunsch der Angehörigen nach offener und verständlicher Aufklärung über die
Erkrankung hat einen vergleichbar hohen Stellenwert. Erwartungen mit primären Bezug
auf die Angehörigen selbst, wie Information über Therapie und Verlauf sowie Wiedereingliederungsmöglichkeiten,
Unterstützung im Umgang mit dem Patienten oder viel Zeit der Ärzte für Gespräche,
nennen Angehörige erst in zweiter Linie [4]. Sind Angehörigen diese Aspekte wirklich weniger wichtig oder trauen sie sich nicht,
ihre eigenen - und aufgrund ihrer Belastungen berechtigten - Bedürfnisse im gleichen
Atemzug anzusprechen?
(Un-)Zufriedenheit von Angehörigen
(Un-)Zufriedenheit von Angehörigen
Die Betrachtung der Zufriedenheit der Angehörigen mit der psychiatrischen Behandlung
bringt etwas Licht ins Dunkel der nicht oder wenig ausgesprochenen Bedürfnisse der
Angehörigen [4]
[5]. Die Zufriedenheit von Angehörigen ist ein mehrdimensionales Konstrukt aus Aspekten
der Beziehung zwischen Angehörigen und Patient einerseits sowie aus Aspekten der Behandlung
(Unterstützung des Patienten in der Klinik, Behandlungsmaßnahmen, Aufnahme in der
Klinik sowie Erreichbarkeit der Klinik) andererseits. Es zeigt sich, dass Angehörige
eher mit Aspekten der Beziehung zwischen Angehörigen und Patient als mit Aspekten
der Klinikbehandlung unzufrieden sind und dass somit weniger patientenbezogene als
vielmehr angehörigenbezogene Aspekte zur (Un-)Zufriedenheit der Angehörigen beitragen.
Unzufriedene und zufriedene Angehörige unterscheiden sich besonders in der Beurteilung
der Aspekte
-
Unterstützung der Angehörigen im offenen Umgang mit der Erkrankung,
-
Unterstützung der Angehörigen im Umgang mit dem Patienten,
-
individuelles Eingehen auf Probleme der Angehörigen,
-
viel Zeit der Ärzte für Gespräche mit den Angehörigen.
Die größte Unzufriedenheit findet sich - absolut gesehen - bei den Aspekten
-
Einbeziehung der Angehörigen in Therapieentscheidungen,
-
Information der Angehörigen ohne eigene Nachfrage,
-
Unterstützung der Angehörigen im Umgang mit dem Patienten,
-
Information der Angehörigen über Therapien, Medikamente, Nebenwirkungen und Behandlungsverlauf,
-
rechtliche und finanzielle Beratung der Angehörigen,
-
Zeit des Pflegepersonals für regelmäßige Gespräche mit den Angehörigen,
-
Information der Angehörigen über Wiedereingliederungsmöglichkeiten.
Information und Unterstützung der Angehörigen
Information und Unterstützung der Angehörigen
Möchte man die Zufriedenheit der Angehörigen mit der Klinikbehandlung fördern und
durch Angehörigenarbeit auch Behandlungsergebnis, Compliance, Krankheitsverlauf, Integration
und Lebensqualität des Patienten verbessern [6]
[7], so ist die Schlussfolgerung klar: Angehörige müssen über Krankheit und Behandlung besser informiert werden und sie brauchen
mehr Unterstützung im Umgang mit der Erkrankung und dem Patienten sowie bei ihren
eigenen Problemen! Es geht also nicht nur um Information der Angehörigen über Krankheit und Therapiemöglichkeiten
[8]
[9], sondern auch um konkrete Unterstützung der Angehörigen im Umgang mit dem Patienten
[10]
[11] und um Unterstützung der Angehörigen bei ihren durch die Erkrankung des Familienangehörigen
bedingten eigenen Problemen [12]. Konkret bedeutet der o. g. Befund, dass wir in der Klinik (und auch im ambulanten
Bereich) in einem offenen Dialog [13] mehr auf die Belastungen der Angehörigen eingehen müssen. Belastungen für Angehörige
ergeben sich aus vielen Gründen [3]: Zeitlicher Betreuungsaufwand, finanzielle Belastungen, berufliche Nachteile, gesundheitliche
Belastungen, Einschränkungen der Freizeitgestaltung, negative Auswirkungen auf Beziehungen
zu anderen, Erfahrungen von Diskriminierung und Ablehnung, Gefühl des Nicht-ernst-genommen-Werdens,
Belastungen durch wohnortferne stationäre Behandlung und nicht zuletzt emotionale
Belastungen (Schuldgefühle, Alleinverantwortung, Zukunftsängste etc.) [14]. Die Entlastungsmöglichkeiten der Angehörigen sind vielfältig und in der Literatur
beschrieben [4]
[8]
[15], sie müssen nur (individuell) angewendet werden! Darin besteht aber die Crux.
Angehörige und Ökonomie
Angehörige und Ökonomie
In Deutschland sind gemäß Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) in der allgemeinpsychiatrischen
Regelbehandlung (A1) nur zehn Minuten pro Patient und Woche für Angehörigengespräche
vorgesehen, entsprechend 40 Minuten Angehörigengespräch(e) im Rahmen eines durchschnittlich
28-tägigen stationären Aufenthaltes. Der Angehörigenarbeit sind somit enge Grenzen
gesetzt. In personell unterhalb der PsychPV-Vollbesetzung arbeitenden Kliniken - und
das sind mittlerweile die meisten - ist eine adäquate Angehörigenarbeit kaum mehr
möglich. Berücksichtigt man den in wissenschaftlichen Studien und Metaanalysen belegten
Einfluss von Familientherapie und Psychoedukation der Angehörigen auf den Behandlungserfolg
[16]
[17]
[18]
[19]
[20], so ist das unter den jetzigen Versorgungsbedingungen notgedrungene Unterbleiben
einer angemessenen Angehörigenarbeit quasi ein Kunstfehler, von der Effektstärke vergleichbar
etwa mit dem Unterlassen der Psychoedukation oder der Psychotherapie für den Patienten.
Die Einbeziehung der Angehörigen bringt nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig
positive Effekte für die Patienten, die Angehörigen und die Gesellschaft in Form einer
langzeitigen Reduktion der Rückfallraten und der stationären Wiederaufnahmen (und
damit auch der Kosten). Nur die bifokale Gruppenarbeit gemeinsam mit den Angehörigen
senkt die stationäre Wiederaufnahmerate signifikant gegenüber einer Kontrollgruppe
auch noch über eine Zeitraum von fünf Jahren, während sich durch psychoedukatives
Medikamententraining und/oder kognitive Psychotherapie ohne Bezugspersonenberatung
nur tendenziell geringere Rückfallraten im Vergleich zur Standardtherapie zeigen [21]. Durch eine mehrmonatige psychoedukative Familienintervention lässt sich eine ca.
20 %ige Senkung der Rückfallrate noch nach acht Jahren nachweisen [22]. Es finden sich also jahrelang anhaltende Effekte, die in ihrem ganzen Ausmaß unter
einer volkswirtschaftlichen Sichtweise evident sind, unter einem kurzsichtigen betriebswirtschaftlichen
Blickwinkel aber nicht gesehen werden. Gerade die Langzeitergebnisse sind aber für
die Kosteneffektivität entscheidend [23]. Eine wissenschaftlich fundiertere Planung und Steuerung der psychiatrischen Versorgung
wäre sicherlich wünschenswert [24].
Die Psychiatrie läuft aber zunehmend Gefahr, unter den jetzigen ökonomischen Bedingungen
die durch die Psychiatrieenquete und nicht zuletzt durch die Einführung der PsychPV
gewonnenen Verbesserungen [25]
[26]
[27] wieder zu verlieren. Der Spagat zwischen höheren Patientenzahlen, zunehmenden Anforderungen
an die Dokumentation („Kontrollbürokratie”) und höheren Patienten-(und Angehörigen-)Erwartungen
auf der einen Seite und weniger Personal, Sachmittelkürzungen und immer kürzer werdenden
Verweildauern auf der anderen Seite, ist kaum mehr zu schaffen. Eine Gesundheitsökonomie,
die sich für Kostendämpfungsmaßnahmen instrumentalisieren lässt oder deren Erkenntnisse
nicht in die Praxis umgesetzt werden, verfehlt ihr eigentliches Ziel [28]. Ehrlicherweise sollten die Politiker und Kassenvertreter den Patienten und Angehörigen
auch sagen, dass wissenschaftlich evaluierte und klinisch notwendige therapeutische
Leistungen nicht mehr im bisherigen Umfang erbracht werden können. Bislang haben aber
wir „Leistungserbringer” den schwarzen Peter und die unzufriedenen Angehörigen.